Читать книгу Sich einen Namen machen - Julia Moira Radtke - Страница 25

2.2.2 Die Entwicklung des Szenegraffitis in den USA

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Der Ursprung des Szenegraffitis liegt in den USA (REINECKE 2012: 28). Obwohl heutzutage New York als „Hauptstadt“ des Graffitis gilt, entstanden die ersten Werke weiter südlich in Philadelphia (WACŁAWEK 2012: 12). Dort begannen Jugendliche Mitte der 60er-Jahre damit, sich selbstgewählte Namen zuzulegen und diese an die Wände zu schreiben. Writer wie COOL EARL und CORNBREAD werden in vielen Werken als Pioniere des modernen Graffitis genannt (vgl. dazu REINECKE 2012: 28, WACŁAWEK 2012: 12). Diese Tätigkeit wird als „moderne“ Form des Graffitis bezeichnet, weil der Fokus der Writer im Gegensatz zu früheren Formen von Wandbeschriftungen auf der Bekanntmachung des eigenen Pseudonyms liegt. Somit steht von Anfang an der Name im Zentrum des Szenegraffitis.

Neben Philadelphia tauchten kurze Zeit später auch in New York erste Graffitis auf. Als erste Akteure werden dort in den Jahren 1968/1969 JULIO 204 und THOR 191 genannt (KREUZER 1986: 109). Der New Yorker Erzieher KOHL berichtet jedoch bereits im Frühjahr 1967 in seinem Essay „Names, Graffiti and Culture“ von einem Schüler, der zwar kaum lesen und schreiben kann, aber mit anderen Jugendlichen regelmäßig seinen Namen an Hauswänden hinterlässt.

We became closer and Johnny became more relaxed during lessons. He seemed more like the Johnny I’d observed on the streets. […] Once I asked him why he put his names on the walls of buildings in the neighbourhood. He replied: “Because all the kids do”. (KOHL 1969: 27)

Die Aussage des Schülers lässt vermuten, dass die ersten Jugendlichen schon weitaus früher ihren Namen auf Wände schrieben und sich das Szenegraffiti 1967 – zumindest in einigen Bereichen – bereits etabliert hatte. Der 14-jährige Schüler zeigte KOHL eine Hauswand, die nach eigener Aussage seit mindestens fünf Jahren von Jugendlichen beschriftet wurde (KOHL 1969: 27).

Einer der bekanntesten Writer dieser Frühphase ist TAKI 183, dessen Name in nahezu jeder Publikation zur Geschichte der Graffitiszene genannt wird (vgl. dazu etwa KREUZER 1986: 109 und BEHFOROUZI 2006: 16). TAKI 183 lebte in Manhattan, Washington Heights, war jedoch durch seine Arbeit als Botenjunge in der ganzen Stadt unterwegs und verbreitete dabei auch seinen Spitznamen (COOPER UND CHALFANT 1984: 14). Am 21. Juli 1971 erschien in der „New York Times“ der Artikel „Taki Spawns Pen Pals“, der über das neue Phänomen berichtete und TAKI 183 über Nacht stadtbekannt machte (COOPER UND CHALFANT 1984: 14). Auch andere Jugendliche verbreiteten daraufhin ihren Namen im Stadtbild, um über das Anbringen ihres Pseudonyms auf sich aufmerksam zu machen (COOPER UND CHALFANT 1984: 14).1

Über das Leben dieser ersten Writergeneration im New York der 60er- und 70er-Jahre lässt sich sagen, dass es stark beeinflusst war vom Wiederaufbau und den städtischen Erneuerungen nach dem Zweiten Weltkrieg sowie von Diskriminierung und Arbeitslosigkeit (SCHNEIDER 2012b: 149). Der Wiederaufbau bedeutete für die Bürger massive Eingriffe in ihre Lebenswelt, war etwa auch mit Zwangsumsiedlungen und der Zerstörung von betrieblichen Netzwerken verbunden (SCHNEIDER 2012b: 150). Die Jugendlichen sahen sich mit steigenden Arbeitslosenraten konfrontiert und hatten wenig Zukunftsperspektiven bzw. Möglichkeiten, diesem schwierigen Umfeld zu entkommen (WELZ 1984: 192). Unter diesen Lebensumständen kam es vielfach zur Bildung von Gangs.2 Mit diesen Zusammenschlüssen grenzten sich die Jugendlichen nicht nur von ihrer Elterngeneration ab, sondern richteten sich auch gegen das gesellschaftliche System, von dem sie systematisch ausgeschlossen wurden (SCHNEIDER 2012b: 150). Die Rivalität zwischen den Gruppen und steigende Delinquenz entwickelte sich zunehmend zum Problem für New York (SCHNEIDER 2012b: 150).

In diesem konfliktreichen Umfeld bildete sich das Netz der Graffitiwriter sprunghaft aus. Den Namen an die Wand zu schreiben, wurde zu einer beliebten Freizeitbeschäftigung der Jugendlichen und der Wettbewerbsgedanke trieb die Entwicklung neuer Formen und Techniken voran. Von den Gangaktivitäten, die sich gleichzeitig abspielten, ist Graffiti verschiedenen Quellen zufolge jedoch abzugrenzen. Wie SCHNEIDER herausstellt, hatten die Graffitiwriter „kein konkretes, eingegrenztes Territorium zu verteidigen“ und die „[C]rews waren locker organisiert, ohne Hierarchie, ohne ,Uniform‘ und vor allem ohne Waffen“ (SCHNEIDER 2012b: 150).

In der zügig wachsenden Szene konnten nur diejenigen Writer bekannt werden, die durch einen besonderen Stil aus der Masse hervorstachen. SUPERKOOL verhalf es 1972 beispielsweise zu Ansehen, dass er die Kappen anderer Dosen verwendete und der Farbstrahl damit eine größere Reichweite erzielte. Er soll so als Erster große Buchstaben gemalt haben, die er anschließend mit einer zweiten Farbe umrandete, was ihm den Status „Erfinder des Masterpieces“ einbrachte (SNYDER 2009: 24, BEHFOROUZI 2006: 17). Die Namen konnten dadurch zunehmend größer gesprüht werden. Auch weitere stilistische Innovationen sind eng mit den Namen ihrer Erfinder verknüpft. PHASE II aus der Bronx sprühte besonders große, aufgeblasen wirkende Buchstaben und nannte dieses Design „Bubble Style“ (CASTLEMAN 1989: 56). PISTOL I hatte ebenfalls einen großen Einfluss auf die Szene, indem er als Erster 3-D-Buchstaben entwarf. Seine Idee, die Buchstaben mit einem blauen Band zu umranden und so eine dreidimensionale Wirkung zu erzeugen, sorgte in der Szene für eine stilistische Revolution, wie der Writer FRED erzählt:

Writers came from all over the city to see it. It was the talk of the town for a while because everyone wanted to do one, but they couldn’t conceive of being able to do it. Pistol must have practised on paper for a long time to get it down. After a while, though, people started to try it, and then everybody was doing it, improving on it, adding touches of their own. (FRED zitiert in CASTLEMAN 1989: 56)

Um einen neuen Stil zu sichten, fuhren die Writer demnach durch die ganze Stadt. Der neue Effekt wurde anschließend autodidaktisch auf Papier geübt, bis die Technik selbst an der Wand ausprobiert wurde. Der Aussage von FRED lässt sich außerdem entnehmen, wie schnell sich die Graffitiszene weiterentwickelt hat. Neue Styles wurden unmittelbar bemerkt, kopiert und weiterentwickelt. So ging beispielsweise der zunächst revolutionär wirkende 3-D-Stil innerhalb kürzester Zeit in das Repertoire vieler Writer ein.3

In den 70er-Jahren rückte das New Yorker U-Bahn-Netz in den Fokus der Writer und es wurden zunehmend Bahnschächte und Züge bemalt. Die Züge waren sehr beliebt, weil der Name damit nicht nur an einem Ort verblieb, sondern stattdessen stundenlang durch verschiedene Stadtteile gefahren wurde (BEHFOROUZI 2006: 17). Die ersten Werke wurden noch auf den Fassaden unterhalb der Zugfenster angebracht, aber die Ausmaße der Werke nahmen ständig zu, bis sich die Werke sogar über die Außenfassaden ganzer Züge erstreckten (SNYDER 2009: 24).4 Die U-Bahn-Stationen dienten den Akteuren darüber hinaus als Treffpunkte, „an denen sie die Subways beobachteten und Neuigkeiten aus der Szene austauschten“ (HOMBERGER 2008: 75). Diese Zusammentreffen forcierten die Bildung von Gruppen, sogenannter Crews (vgl. dazu Abschnitt 2.3.2).

Ende der 80er-Jahre ging die Ära des Zugmalens wegen anhaltender Gegenmaßnahmen der Manhattan Transit Authority (MTA), der Stadt und der Polizei zu Ende (SNYDER 2009: 147f.). Ab 1989 wurden bemalte Züge nicht mehr im Verkehr eingesetzt, sondern sofort in spezielle Reinigungstätten gefahren (SNYDER 2009: 148). Dieses Vorgehen, so die Überlegungen, hemme die Motivation der Künstler.5 Ferner wurde das nächtliche Zugsprayen immer gefährlicher, weil die U-Bahn-Polizei die Betriebshöfe massiv bewachte und die Writer verfolgte. Bei den Fluchten kamen die Writer mitunter sogar ums Leben, weil sie das unter Starkstrom stehende dritte Gleis berührten (STAHL 1989: 50). Der Plan der MTA ging dadurch auf: Die U-Bahnen wurden weitaus weniger besprüht. Die Writer suchten sich dafür alternative Oberflächen im öffentlichen Raum.

Die Szene nutzte auch immer stärker das Medium der Fotografie, um den eigenen Namen zu verbreiten (SNYDER 2009: 31, 148). So wurden Graffitis zunehmend in den neu aufkommenden Zeitschriften veröffentlicht, was es möglich machte, die Werke losgelöst von Ort und Zeit zu betrachten (SNYDER 2009: 31). Man kann sagen, dass diese Entwicklung stark zur Globalisierung der Graffitiszene beigetragen hat, weil sich durch die Fotografie nicht nur Akteure regional und überregional besser vernetzen konnten, sondern auch der weltweite Austausch der Stilrichtungen und weiterer Innovationen vorangetrieben wurde (SNYDER 2009: 31f.).

Die Popularität des Graffitis nahm weiter zu, als es zu einem Bestandteil der Hip-Hop-Bewegung wurde (PAPENBROCK UND TOPHINKE 2012: 182). Der Hip-Hop-Kultur, die in Amerika in den 80er-Jahren populär wurde, werden die vier Elemente Rapping, Deejaying, Breakdancing und Graffitiwriting zugeschrieben. Durch Filme und Bücher, erste Ausstellungen und Vereinigungen6 sowie die zunehmende Bekanntheit der Rapmusik wurde Hip-Hop auch über Amerika hinaus bekannt (HOMBERGER 2008: 91).7 Zu nennen sind hier insbesondere der Film „Wild Style“ (1983), der preisgekrönte Dokumentarfilm „Style Wars“ (1985) und die Hollywoodproduktion „Beat Street“ (1984), die einen großen Empfängerkreis erreichten und Graffiti, Rap und Breakdance auch in Europa bekannt machten.

Der Bekanntheitsgrad von Graffiti steigerte sich insbesondere durch den kommerziellen Erfolg der Rapmusik. Die Musikbranche, die sich als lukrativste der vier Säulen erwies, benötigte zur besseren Vermarktung eine visuelle Darstellung, die möglichst neu und hip sein sollte (WACŁAWEK 2012: 57). Wegen ihrer besonderen bildlichen Ästhetik, aber auch der Assoziationen von Illegalität und Rebellion waren die Sprühwerke für die Vermarktung der Hip-Hop-Kultur gut geeignet; Graffiti lieferte quasi die passenden Bilder zur Musik (WACŁAWEK 2012: 57). Künstlerische und musikalische Inhalte wurden daher auch zusammen präsentiert und vermarktet. WACŁAWEK spricht diesbezüglich sogar von einer Ausbeutung des Graffitis mit dem Zweck, Hip-Hop-Produkte von der CD bis zum T-Shirt zu verkaufen (2012: 58).

Eng mit Graffiti verbunden ist auch die Tanzrichtung Breakdance. Die Bewegungen der Tänzer weisen Ähnlichkeiten zu den verformten, dynamisch wirkenden Buchstaben im Graffiti auf. Der Writer FRED sagt dazu im Interview mit LUTZ beispielsweise Folgendes: „Graffiti and Break Dancing are related – your letters look like the break dancers; colors coming in and out, moving here and there.” (FRED zitiert in LUTZ 2001: 104) Ähnlich äußert sich auch der Mannheimer Writer MIKE: „Der Buchstabe muss tanzen. Der muss eine Dynamik haben wie ein Tänzer.“ (MIKE zitiert in RODE 2016: 63) Zwischen der Musik, den Graffitis und den Bewegungen des Breakdance bestehen demzufolge Parallelen. Nichtsdestotrotz wird Graffiti heute weitestgehend als eigenständige Szene wahrgenommen.8

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