Читать книгу Sich einen Namen machen - Julia Moira Radtke - Страница 33

2.3.4 Szenetypisches Vokabular

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Bei der Beschäftigung mit dem Thema Graffiti fällt auf, dass in der Szene Wörter verwendet werden, deren Bedeutungen sich einem Laien nicht sofort erschließen. Aus diesem Grund findet sich in vielen Publikationen zum Szenegraffiti zunächst ein Glossar mit Erläuterungen zu Szenetermini wie Piece, Tag und Toy (z.B. in COOPER UND CHALFANT 1984). Diese Bezeichnungen sind Bestandteil einer Szenesprache. Als Szenesprachen werden hier mit ANDROUTSOPOULOS „sozial identifizierte Konfigurationen von Merkmalen aus verschiedenen sprachlichen Ebenen [verstanden], die sich spezifischen jugendkulturellen Praxisgemeinschaften zuordnen lassen“ (2005: 174).1 Im folgenden Abschnitt geht es primär um die besondere Lexik, die die Graffitiszene herausgebildet hat.

Da Tag, Throw Up und Piece sowohl für die Szene selbst als auch für diese Arbeit besonders relevante Bezeichnungen sind, werden sie im Folgenden kurz erläutert. Es handelt sich hierbei um Termini, „which are known to all graffiti writers“ (CASTLEMAN 1989: 26), denn mit ebendiesen wird in der Szene auf die Werke referiert. Die Termini werden von den Writern in Gesprächen und Interviews verwendet und sind damit ein wichtiger Bestandteil der Szenesprache.2 Darüber hinaus geben die Bezeichnungen auch Aufschluss darüber, „welche Eigenschaften innerhalb der Graffiti-Szene die Einordnung und Bewertung von Graffiti bestimmen“ (PAPENBROCK UND TOPHINKE 2016: 91).

Der Begriff Tag referiert auf die linienförmigen Realisierungen eines Graffitinamens. Tag kommt aus dem Englischen und hat eine Vielzahl von Bedeutungen, u.a. ‚Anhänger‘, ,Marke‘, ,Etikett‘ und ,Preisschild‘. Im übertragenen Sinn markieren Writer mit ihrem Tag also die entsprechenden Straßen oder Gebäude. Weil die Anbringung zügig erfolgen muss, werden Tags meistens in einer einzigen, viel geübten Handbewegung angebracht (VAN TREECK 1993: 148). Die Buchstaben sind oftmals wie bei einem Logo oder Monogramm ineinander verschlungen und zusammengerafft (BOWEN 1999: 24). Wie die Beispiele in Abb. 9 zeigen, bestehen Tags nicht nur aus Buchstaben, sondern auch aus weiteren Elementen.3







Abb. 9: Tags von EURO, TIGHT, RTA CREW, WORNONE EAST, FBS und CRACK (19939, 19542, 30466, 30314, 25768, 31332)

Als zu Beginn der Entstehung des amerikanischen Graffitis immer mehr Jugendliche damit begannen, ihren Namen im öffentlichen Raum anzubringen, gestalteten die Writer ihren Namen zunehmend aus, um unter der wachsenden Anzahl von Writern aufzufallen (WACŁAWEK 2012: 16). Durch diese zunehmende gestalterische Komplexität bildete sich aus dem Tag ein neuer Graffitityp – das Piece – heraus (REINECKE 2012: 29). Ein Piece – Kurzform für engl. Masterpiece – gilt heute als höchste Ausprägung der Sprühkunst und kann nur von erfahrenen Writern hergestellt werden (SNYDER 2009: 32). Ursprünglich galt die Bezeichnung ausschließlich für stilistisch besonders herausragende Werke, heute steht sie jedoch für alle großformatigen Graffitis dieser Art (VAN TREECK 2001: 310).

Das Zentrum eines Pieces bildet grundsätzlich der Name des Writers. Die Unterscheidung von Piece und Tag bezieht sich damit primär auf die unterschiedliche Ausgestaltung der Schrift (VAN TREECK 2001: 310, KREUZER 1986: 264). Im Falle eines Piece ist der Schriftzug typischerweise vor einem gestalteten Hintergrund platziert, etwa auf einer Wolke oder einer an den Rändern ausgefransten Fläche (KREUZER 1986: 264). Darüber hinaus treten zum Namen häufig weitere Elemente hinzu, die ihn umgeben oder in die flächigen Buchstaben eingeschrieben sind. So enthalten sie beispielsweise häufig Zeichen wie Dollarzeichen oder Totenköpfe, mitunter auch figürliche Elemente (Characters) aus Comics und Fernsehserien (KREUZER 1986: 265).

Neben dem Tag als einfachen, schnell gesprühten Form des Namens und dem Piece als besonders aufwendig gestalteten Form lässt sich das Throw Up als dritter Graffitityp nennen. Es entwickelte sich als letzter der drei Typen heraus. Ursprünglich bezog sich die Bezeichnung Throw Up auf gering ausgestaltete Pieces, später verfestigte sie sich jedoch als eigene Bezeichnung für „schnell hingesprühte und meist wenig gestaltete Sprühbilder“ (VAN TREECK 2001: 384). Die Anbringung von Throw Ups ist zwar mit mehr Aufwand verbunden als die Fertigung von Tags, sie sind in ihrer Gestaltung jedoch weniger aufwendig als Pieces und wirken oft wie flüchtig an die Wand geworfen (throw up engl. ,aufwerfen‘). Bei einem Throw Up wird typischerweise mit zwei Farben gearbeitet: eine für die Umrandung („first outline“), die andere für die Füllung („fill in“) (VAN TREECK 2001: 384). Da die Herstellung mindestens zwei Arbeitsschritte erfordert, ist sie zeitintensiver als die eines Tags. Dies erhöht die Gefahr, bei den illegalen Aktivitäten erwischt zu werden. Der Vorteil gegenüber den Tags besteht hingegen in der eindrucksvolleren Wirkung, weil ein Throw Up in der Regel eine größere Fläche einnimmt.4

Zwischen den drei Typen Tag, Throw Up und Piece gibt es viele Zwischenformen und die Zuordnung eines Graffitis zu dem einen oder anderen Typ ist oft keinesfalls eindeutig. Während sich Tags mit ihren linearen Buchstaben noch relativ klar von Throw Ups und Pieces mit flächigen Buchstaben unterscheiden lassen, kann eine Unterscheidung von Throw Ups und Pieces oft nur vage bleiben.




Abb. 10: Throw Ups von 8BIT (29447), ZONK (31371) und HDF (30453)

Neben den wichtigen Bezeichnungen Tag, Piece und Throw Up verwendet die Szene noch eine Vielzahl weiterer anglo-amerikanischer Termini, die mehrheitlich bereits seit den 80er-Jahren in Verwendung sind (vgl. dazu etwa den Glossar in COOPER UND CHALFANT 1984: 27). Bei der Entwicklung von Bezeichnungen zur Bezugnahme auf Techniken, Werke etc. wurden wenig neue Wörter gebildet und stattdessen Lexeme aus der Standardsprache verwendet und umgedeutet. Die Lexeme erhielten in der Graffitiszene eine neue Bedeutung, während sie außerhalb der Szene weiterhin mit ihrer ursprünglichen lexikalischen Bedeutung verwendet wurden. Beispiele für dieses Verfahren sind die Substantive King, Style, Fame, Crew und Writer sowie die substantivierten Verben Throw Up und Getting Up. Szenetypische Verben sind to bomb, was das massenhafte Anbringen des eigenen Namens bezeichnet, sowie to tag, was den Vorgang bezeichnet, den Namen im Stadtbild anzubringen (COOPER UND CHALFANT 1984: 27). To bite bezeichnet des Weiteren das Nachahmen eines fremden Styles, to buff meint die Entfernung eines Graffitis mittels chemischer Reinigung (COOPER UND CHALFANT 1984: 27).

Das amerikanische Vokabular wurde zur besseren Vermittlung in Lexika gesammelt (vgl. z.B. die Lexika von KREUZER 1986 und VAN TREECK 1993, 1995, 2001). In den Lexika finden sich neben den bereits genannten Termini auch viele Komposita, die auf Graffitis auf unterschiedlichen Oberflächen und in unterschiedlichen Positionen auf Zügen referieren. Die Tätigkeit des Schreibens oder Sprühens auf Mauern und Wänden wird etwa als Wall Writing bezeichnet, Graffitis auf Zügen lassen sich anhand der eingenommenen Fläche in Whole Trains, End-to-Ends, Top-to-bottom Whole Cars und Window-Down Whole Cars weiter differenzieren (KREUZER 1986: 443).5 Das szeneinterne Bezeichnungssystem für Graffitis richtet sich somit nicht nach den inhaltlichen Eigenschaften der Werke, sondern nach deren Größe, Ausgestaltung und Positionierung. Eine inhaltliche Differenzierung – etwa in Wortgraffitis und Spruchgraffitis – ist für die Szene nicht relevant, weil es typischerweise der Name ist, der gesprüht wird.

Auffällig ist, dass alle zentralen Bezeichnungen aus der englischen Sprache übernommen wurden und sich keine deutsche Terminologie entwickelt hat (PAPENBROCK UND TOPHINKE 2016: 91).6 Diese Übernahme deutet zum einen darauf hin, dass sich die Writer „in der Tradition des American Graffiti sehen“, und zum anderen zeugt die Verwendung englischsprachiger Termini auch von der internationalen Orientierung der Szene (PAPENBROCK UND TOPHINKE 2016: 91).7

Bei vielen dieser szenetypischen Begrifflichkeiten lässt sich außerdem eine „aggressive Nuance“ ausmachen (STEINAT 2007: 28). Wörter wie biten (engl. bite ,beißen‘, steht in der Szene für das Kopieren von Stilen anderer Writer), racken (engl. rack ,foltern‘, ,quälen‘, ,plagen‘, in der Szene für das Stehlen von Sprühdosen) und crossen (engl. cross ,kreuzen‘, ,durchstreichen‘, in der Szene verwendet für das Übermalen von Graffitis anderer Writer) rufen Konnotationen von Gewalt und Illegalität auf. Szenebezeichnungen wie bomben (engl. to bomb), style wars (engl. ,Stil-Kriege‘, die ab 1973 in New York ausbrachen, als der Stil der Writer entscheidend für den Wettkampf um Ruhm wurde) und battle (engl. ,Kampf‘, in der Szene als Bezeichnung für Sprühwettbewerbe zwischen Sprühern oder Crews) erinnern beispielsweise an Kontexte wie die Kriegsberichterstattung.

Graffitis sind in der Forschung zwar häufig als Mittel dargestellt worden, mit denen der urbane Raum annektiert wird (vgl. dazu etwa KAPPES 2014, SCHNEIDER 2012b),8 die „aggressive Nuance“, die sich in den Szenebezeichnungen findet, lässt sich jedoch nicht ohne Weiteres für die Writer annehmen (TOPHINKE 2016: 426). Anspielungen auf kämpferische Handlungen und Gewalt finden sich zwar auch in den Kommentaren (Comments) um Pieces herum platziert (z.B. TRAINED 2 KILL! (31444), SHOOT TO KILL (30451)) – und auch viele Namen weisen eine aggressive Semantik auf (z.B. TUMOR, 30470). Nimmt man jedoch die szeneinterne Kommunikation in den Blick, so zeigt sich, dass diese Formen eher als Spiel der Szene mit den von außen zugeschriebenen Eigenschaften zu deuten sind – und nicht als Ausdruck echter Aggressivität (TOPHINKE 2016: 426).

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