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2.3.1 Graffiti als Szene

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Die Graffiti-Writer bilden eine Art Gesinnungsgemeinschaft, auf die in der Forschung mit Ausdrücken wie „Szene“ (DITTMAR 2009: 101), „Subkultur“ (WACŁAWEK 2012: 55, MACDONALD 2001, REINECKE 2012: 27), „Jugendkultur“ (STEINAT 2007: 21) oder ganz allgemein mit „Bewegung“ („Movement“ SNYDER 2009: 31f.) referiert wird. In dieser Arbeit wird die Bezeichnung Szene verwendet, weil die Graffitiakteure selbst oftmals von einer Szene sprechen, wenn sie auf ihre Gemeinschaft referieren, und weil diese Bezeichnung auch in Magazinen wie „Backspin“ gebraucht wird.1 Gegenüber den eingangs erwähnten, alternativen Bezeichnungen ist Szene außerdem vorzuziehen, weil es – anders als Subkultur – keine Milieuzuweisung und – anders als Jugendkultur – keine Bindung an das Jugendalter impliziert (LAUENBURG 2008: 13).

Eine Szene wird in der soziologischen Forschung verstanden als „[e]ine Form von lockerem Netzwerk; einem Netzwerk, in dem sich unbestimmt viele beteiligte Personen und Personengruppen vergemeinschaften“ (HITZLER UND NIEDERBACHER 2010c: 15). Die Gemeinschaft zeichnet sich in erster Linie dadurch aus, dass alle Beteiligten eine gleiche oder ähnliche Gesinnung teilen (HITZLER UND NIEDERBACHER 2010c: 16). Durch die Vernetzung erhoffen sich die Mitglieder, Verbündete zu finden, mit denen sie szenetypische Praktiken ausführen und Gespräche führen können. Ganz zentral für jede Szene ist dementsprechend ein „Issue“ oder „Thema“, das ebendiese gemeinsame Gesinnung ausmacht (HITZLER UND NIEDERBACHER 2010c: 16). Der Zusammenhalt bezieht sich nicht nur auf die mentale Ebene – die gemeinsame Gesinnung –, sondern wird oft auch nach außen hin sichtbar gemacht, indem die Szenemitglieder eine „kollektive (Selbst-)Stilisierung“ praktizieren (HITZLER UND NIEDERBACHER 2010c: 17).2

Graffiti kann als Szene interpretiert werden, weil mit dem Sprühen von Graffitis ein für alle Akteure zentrales Thema besteht. Dies zeigt bereits ein Blick in die Szenemagazine „Backspin“ und „Juice“, in denen die Interviewten stets in ihrer Rolle als Graffitisprüher auftreten. Ein weiterer Grund, Graffiti als Szene zu bezeichnen, besteht darin, dass sich die Akteure selbst als eine Gemeinschaft von Gleichgesinnten verstehen. Zu dieser Gemeinschaft kann man Zugang erhalten, wenn man sich das szenespezifische Wissen zulegt und bestimmte Fähigkeiten aneignet. Diese Haltung zeigt etwa die Antwort von TRUS von der BAD CREW (Berlin) auf die Frage, wie er und die anderen Mitglieder der Crew gegenüber dem „Nachwuchs“ eingestellt sind:

Nachwuchs ist prinzipiell ne gute Sache. Ich meine irgendwer muss den Job ja irgendwann übernehmen. IRGENDWANN! Jedoch hat das Ganze auch seine Grenzen. Und zwar dort, wo Respektlosigkeit und Leichtsinn Einzug halten. Dort, wo die Toys durch unsere Yards und Layups schlendern und die Leute von der BP auf sich und womöglich auch auf uns aufmerksam machen. […] Wir waren auch nicht die ersten und mussten lernen wie das Game gespielt wird. Aber wir taten es! Sonst wären wir heut nicht da, wo wir sind. (Interview mit der BAD CREW auf ilovegraffiti.de 2010)

Von Neueinsteigern wird demnach erwartet, dass sie sich an den bestehenden Mitgliedern orientieren. Insbesondere das Lexem „Game“ verdeutlicht diese Einstellung: Es gibt Spielregeln, die für eine Teilnahme am „Spiel“ eingehalten werden müssen.

Gleichsam trifft der Aspekt der Selbststilisierung auf Graffitiwriter zu, weil sich die Akteure den Stilen der Szene anpassen. Dies erfolgt im Graffiti weniger über die äußere Erscheinung der Akteure, sondern vielmehr über die Graffitis selbst (SCHNEIDER 2010: 74). Indem sie beispielsweise einen selbstgewählten Namen im öffentlichen Raum hinterlassen, bestimmte Styles aufgreifen oder das typische Vokabular verwenden, weisen sie sich als Mitglieder der Graffitiszene aus.

Von „der Szene“ im Graffiti zu sprechen, ist allerdings zugleich nicht ganz unproblematisch. Der Singular impliziert, dass es ein großes, globales Netzwerk der Writer gibt. Dies ist einerseits zutreffend, denn dass die Akteure auch über Ländergrenzen hinaus stark vernetzt sind, belegen diverse Szeneinterviews, in denen Writer von weltweiten Kontakten berichten. Auch sind die Akteure weltweit durch die Tätigkeit des Graffitiherstellens verbunden. Die Annahme einer großen Szene ist andererseits aber auch stark generalisierend. Nivelliert wird dabei nicht nur die Vielfalt individueller Motive, Formen etc., sondern auch Unterschiede, die das Land oder die Region betreffen bleiben unberücksichtigt. Writer aus Deutschland agieren vor einem anderen soziokulturellen Hintergrund als Akteure aus Mexiko oder den USA und haben daher möglicherweise andere Motive, Ziele etc. Da sich viele wichtige Studien aber gerade auf den amerikanischen Raum beziehen (z.B. MACDONALD 2001) und zwischen dem amerikanischen und dem deutschen Graffiti auch deutliche Parallelen bestehen, erscheint es legitim, diese Ergebnisse an den geeigneten Stellen einfließen zu lassen. Ähnlich vorsichtig ist auch mit den Erkenntnissen älterer wissenschaftlicher Publikationen umzugehen, die sich oft auf die Anfangszeit der Szene beziehen. Es muss nicht nur in den Blick genommen werden, dass die Szene regionale bzw. nationale Unterschiede aufweist, sondern dass sie sich auch mit der Zeit weiterentwickelt hat. „Szenen sind dynamisch“ (HITZLER UND NIEDERBACHER 2010c: 25), weshalb die Erkenntnisse der 80er- und 90er-Jahre nicht unreflektiert auf die Szene der 2000er- und 2010er-Jahre übertragen werden können.

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