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Antinatalistische Keime und Formen
ОглавлениеBei der neuerdings „Antinatalismus“ genannten Nachkommenlosigkeitsphilosophie handelt es sich um moraltheoretische Positionen, die sich nur allmählich aus der kulturellen Überlieferung und (willens-)metaphysischen Überformung herausschälten und wohl erst um die Wende zum 20. Jahrhundert in den Schriften eines unter dem Pseudonym Kurnig schreibenden Denkers zu sich selbst fanden. Die Arbeit an diesem Handbuch Antinatalismus war von der Überzeugung getragen, dass neben klaren Bekenntnissen zum Antinatalismus, Infragestellungen der Fortpflanzung oder Aufrufen zu nataler Enthaltsamkeit zahlreiche Zeugnisse, Ausrufe und Stellungnahmen auffindbar sein und berücksichtigt werden müssen, die zwar nicht als genuin antinatalistische Positionen verbucht werden können, die aber gleichwohl als antinatalistische Keime innerhalb der kulturellen Überlieferung angesehen werden dürfen. Neben direkten Antinatalismen – wie wir sie nennen wollen – in Vergangenheit und Gegenwart möchte dieses Handbuch seinen Lesern somit auch die Anwesenheit antinatalistischer Keimformen in philosophischer, epischer, dramatischer und lyrischer Literatur vorführen. Mit unseren Verweisen auf (proto-)antinatalistische Elemente in der Literatur dokumentieren wir, dass der Daseinsprotest transhistorisch von jeher unterschwellig zugegen war und es sich keineswegs etwa nur um ein Dekadenz-Phänomen handelt. Drei klassische Inspirationsquellen für antinatalistische Formen und Fortzeugungskritik in Vergangenheit und Gegenwart sind dabei der altgriechische Antinatalismus der Tragiker, der altasiatische Antinatalismus sowie ein biblischer Antinatalismus (bedingt Hiobs Niedagewesenseinswunsch und insbesondere Jesu vorbildliche Familien- und Kinderlosigkeit in Ansehung des nahen Weltgerichts, die von Paulus in den Briefen an die Korinther wiederholt anempfohlen wird) im Gegensatz zum biblischen Pronatalismus in Gestalt des alttestamentarischen Fruchtbarkeitsgebots. Zwei antike Quellen des Antinatalismus haben somit religiösen Charakter, während sich vom altgriechischen Antinatalismus vielleicht am ehesten sagen lässt, dass er einem von Jacob Burckhardt diagnostizierten pessimistischen Daseinsgefühl korrespondiert.