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Individuelle, soziale, geographische und intergenerationelle Nichtkompensierbarkeit des Leids
ОглавлениеHat der Antinatalist den Vorwurf der Kinderfeindlichkeit und der Misanthropie abgewehrt, wird er unweigerlich darauf hingewiesen, dass das Leben nicht nur aus Leid besteht, sondern fast immer auch Glücksmomente und freudvolle Phasen enthält. Im Leben des Einzelnen kompensieren gewesenes und bevorstehendes Glück aktuelles Leid jedoch nur bedingt, nämlich nur das Leid einer bestimmten Intensität und dies nur in bestimmten Lebensabschnitten. Ähnlich kompensiert aktuelles Glück nur bedingt gewesenes und bevorstehendes Leid. Allgemein gesprochen ist die Trostkompetenz des Glücks recht begrenzt. Dies leuchtet zumal dann ein, wenn wir den Standpunkt einer Leid-Glück-Robinsonade verlassen und den Menschen als soziales Wesen betrachten: Auch eine Person, die ihr Leben als Tanz auf Rosen empfunden haben mag, erzeugt und hinterlässt normalerweise Trauernde, wenn sie – wie die Hinterbliebenen sagen mögen – unerwartet und ohne Anzeichen von Krankheit aus dem Leben scheidet. Ganz abgesehen von einem unverbesserlichen Optimismus, der diese Person zu einer Selbstbewertung des eigenen Lebens geführt haben mag, die sich krass von den Befunden einer Außenbewertung unterscheiden kann.
Ferner kompensiert auf der Ebene des Sozialen das relative Wohlleben einer Kaste, Klasse oder Schicht nicht das Leid einer anderen Bevölkerungsgruppe; vergleichsweises Wohlleben in fortgeschrittenen Industrienationen kompensiert nicht das Leid in Armuts-, Kriegs- oder Hungerregionen der Welt.
Intergenerationell kompensiert das Leben von Bürgern heutiger Wohlstandsgesellschaften nicht das Dasein in früheren Armutsgesellschaften; und der vage Ausblick auf eine materiell und psychisch befriedete, auch von der strukturellen Gewalt des Arbeitslebens befreite, Menschheit in kommenden Jahrhunderten kompensiert nicht die Nöte derjenigen, die heute und morgen minderbemittelt ihr Dasein fristen und in die Welt gesetzt werden.