Читать книгу Antinatalismus - Karim Akerma - Страница 18
Abberufung und Einberufung
ОглавлениеKant gilt der Suizid als Verbrechen und Mord und wesentlich als „Verletzung einer Pflicht gegen sich selbst“. Im uns hier interessierenden Teil seiner Begründung macht Kant zudem eine Pflichtübertretung gegen andere Menschen und schließlich gegen Gott geltend, „dessen uns anvertrauten Posten in der Welt der Mensch verlässt, ohne davon abgerufen zu sein…“ (Kant, Metaphysik der Sitten, Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre (Von der Selbstentleibung, § 6), S. 507) Demnach wären wir Gottes Statthalter auf Erden, die – bar aller existentiellen Autonomie – darauf zu warten hätten, bis ein uneinsehbarer Entschluss ihnen das Ende bereitet. Nun war es aber bereits ein undurchschaubares Schicksal, das uns den Beginn unserer Existenz bescherte: Seit Jahrzehntausenden werden Menschen gezeugt, bis eines bestimmten Tages aus unerkennbarem Grund „ich“ zu existieren begann (Ichfälligkeit). Diesen Anfang betreffend zeigt sich Kant konzilianter: Da niemand dem eigenen Lebensbeginn zugestimmt habe, seien die Eltern verpflichtet, uns das Leben bis zum Erreichen der Volljährigkeit so angenehm zu gestalten, dass wir ihm zugestimmt haben würden, hätten wir die Wahl gehabt zu existieren oder nicht zu existieren. Vor dem Horizont von Kants Herausstellung und philosophischer Bewältigung der heteronomen Einberufung eines jeden ins Dasein in der Weise nachholender Zustimmung wäre es nur folgerichtig gewesen, wenn er die Fremdbestimmtheit unseres Existenzbeginns mit seiner Zustimmung zur Selbstbestimmung beim Existenzende kompensiert hätte.