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Nihilismus, Rejektionismus/Daseinsverneinung und anthropofugale Perspektive
ОглавлениеVersteht man unter dem zunächst vagen Begriff „Nihilismus“ einen noologischen{1} Nihilismus, so ist darunter zu verstehen: Es gibt nichts – und insbesondere keine objektiven Werte oder Ziele –, wofür es sich zu leben lohnte. So gesehen hat der Nihilismus einen antinatalistischen Impetus. Denn vor seinem Horizont lassen sich auch Kinder nicht als etwas anführen, wofür es sich zu leben lohnte. Ferner legt der noologische Nihilismus die Frage nahe: Warum den Existenzbeginn eines Menschen bewirken, von dessen Leben feststeht, dass es sich nicht lohnt oder sinnlos bleibt, warum ihn also zu einer nihilistischen Existenz „verurteilen“?
In seinem Sendschreiben „Jacobi an Fichte“ von 1799 warf Jacobi letzterem einen Idealismus vor, den er Nihilismus nannte; womit er auf den Umstand anspielte, dass für Fichte das Ich das einzige Wirkliche ist. Während dieser ontologische Nihilismus à la Fichte (und Berkeley) nur konstatiert, dass außer dem Ich nichts wirklich ist, vertritt ein onto-ethisch zu nennender Nihilismus – unter Einbeziehung des jeweils denkenden Ich – die Position, dass besser niemals etwas existiert hätte und dass anzustreben ist, dass nichts mehr existiert. Eine Stellungnahme par excellence im Sinne des onto-ethischen Nihilismus findet sich in Georg Büchners „Danton“, wo es heißt, die Schöpfung sei die Wunde des Nichts und wir Menschen seine Blutstropfen.
Nehmen wir am onto-ethischen Nihilismus eine interne Differenzierung vor, so gelangen wir zu einer daseinsverneinenden Haltung, für die Ken Coates die Bezeichnung Rejektionismus prägte{2}. Daseinsverneiner/Rejektionisten sind etwa all jene literarischen Figuren im Vorhof des Antinatalismus, die über die Jahrtausende adressatenlos ausriefen: „O wär‘ ich nie geboren!“ Rejektionistisch/daseinsverneinend sind insbesondere auch Religionen wie der Jainismus, hinduistische Glaubenssysteme oder der Buddhismus, deren Laienanhängern gleichwohl die Fortpflanzung zugestanden wird.
Onto-ethische Nihilisten sowie Daseinsverneiner stehen deshalb im Vorhof des Antinatalismus, weil sie zwar das Daseins von Welt und Mensch verneinen, ohne aber im gleichen Antinatalisten zu sein. So ist beispielsweise Eduard von Hartmann ein onto-ethischer Nihilist und Rejektionist, der sich jedoch zugleich dezidiert gegen den Antinatalismus ausspricht. Dass der onto-ethische Nihilismus keineswegs mit dem Antintalismus deckungsgleich ist, erhellt etwa auch aus Ludger Lütkehaus‘ umfangreicher neueren Studie namens „Nichts“, in der der Antinatalismus so gut wie keine Rolle spielt. Ähnlich finden sich Daseinsverwerfungen in Dichtung und erzählender Literatur zuhauf, ohne dass die daseinsrejizierenden Figuren – geschweige denn die sie gestaltenden Autoren – Antinatalisten sein müssten.
Gemeinsam ist dem onto-ethischen Nihilismus und dem Rejektionismus das, was Ulrich Horstmann in „Das Untier“ von 1983 die „anthropofugale Perspektive“ nennt. Darunter versteht er den „Blickwinkel einer spekulativen Menschenflucht…, ein Auf-Distanz-Gehen des Untiers zu sich selbst und seiner Geschichte…“ (Das Untier, S. 8) Was den anthropofugalen Philosophen auszeichnet, ist nach Horstmann, dass er – analog zu einer Rakete, die schnell genug ist, um die Anziehungskraft der Erde zu überwinden und das Weltall erreicht – eine intellektuelle Fluchtgeschwindigkeit erreicht hat, die es ihm gestattet, der Gravitation „jener ideologischen Einflusssphäre und Kraft zu entkommen, die die Untiere nach wie vor mit beiden Beinen auf dem Bode der Tatsachen hält und ihnen den Blick über den Horizont verwehrt.“ (a.a.O., S. 9) Nehmen wir die anthropofugale Perspektive bzw. das Erreichen das humanistischen intellektuellen Fluchtgeschwindigkeit in unsere interne Differenzierung auf, so ergibt sich etwa folgendes Bild:
Onto-ethischer Nihilist (ontofugal): „Die Welt als Ganzes würde besser nicht existieren!“
Rejektionist (Daseinsverneiner): „O wär‘ ich nie geboren!“
Anthropofugaler: „Es wäre besser, wenn Menschen nicht existieren würden.“
Antinatalist: Jede Handlung, die dazu führt, dass ein neuer Mensch zu existieren beginnt, ist moralisch bedenklich, und es ist geboten, die Fortzeugung einzustellen, damit die Menschheit ausstirbt.
Zwar formuliert Horstmann etwa mit Blick auf die mythologisch überlieferten Sündfluten: „Dass es besser wäre, wenn es nicht wäre, hat sich das Untier immer schon auf die ein oder andere Weise eingestanden.“ (10) Gleichwohl steht Horstmann mit der von ihm eingenommenen anthropofugalen Perspektive noch im Vorhof des Antinatalismus, was sich insbesondere daran bemerkbar macht, dass seine konkrete Perspektive auf eine moralische Vision verzichtet. Stattdessen sucht Horstmann eine alles Leiden beenden sollende Zuflucht in einer durch ABC-Waffen bewirkten unmoralischen Apokalypse. In diesem unmoralischen Sinne formulierte bereits Albert Ehrenstein in seinem Gedicht „Der Kriegsgott“:
„[…] Lasset ab, den Gott zu rufen, der nicht hört. / Nicht hintersinnet ihr dies: / Ein kleiner Unterteufel{3} herrscht auf der Erde, / […] / Bleibt noch ein Rest / Nach Ruhr und Pest, / Aufheult in mir die Lust, / Euch gänzlich zu beenden!“ (In: Kurt Pinthus (Hg.), Menschheitsdämmerung, S. 84f)
Rejektionsdestruktivismus