Читать книгу Antinatalismus - Karim Akerma - Страница 127
ОглавлениеBiblischer Antinatalismus
Die im biblischen Kontext anzutreffenden Lieberniegeborenseinswünsche scheinen stets auf eine Person und Situation gemünzt. Insofern wir aber Jeremias, Hiob oder Judas, als überpersönlichen Typus auffassen dürfen, können die Sentenzen toposprägende Allgemeinverbindlichkeit beanspruchen.
Jeremias
Die vermutlich in den Jahrzehnten um 550. v. Chr. entstandenen Jeremiaden zeugen von einer hohen Kultur der Nativitätsverfluchung. Wir zitieren aus dem 20. Buch des Jeremias:
„14 Verflucht sei der Tag, darin ich geboren bin; der Tag müsse ungesegnet sein, darin mich meine Mutter geboren hat!“ „15 Verflucht sei der, so meinem Vater gute Botschaft brachte und sprach: »Du hast einen jungen Sohn«, dass er ihn fröhlich machen wollte!“
Handelt es sich bei obigen Nativitätsverfluchungen um toposprägende Standardversionen, so repräsentieren die beiden folgenden Niegeborenseinswünsche den seltenen Sonderfall eines präferierten Todes und Verbleibs in utero:
„17 Dass du mich doch nicht getötet hast im Mutterleibe, dass meine Mutter mein Grab gewesen und ihr Leib ewig schwanger geblieben wäre!“ „18 Warum bin ich doch aus Mutterleibe hervorgekommen, dass ich solchen Jammer und Herzeleid sehen muß und meine Tage mit Schanden zubringen!“ (Luther-Bibel 1912, Der Prophet Jeremia, Jer 20, 14 ff.)
Zu Jeremias’ Niegeborenseinswunsch notiert Léon Bloy (1846-1917) in seiner „Exégèse des lieux communs“: „Ich gestehe, dass allein schon der Gedanke an ein Kind, dass wünschte, geboren zu werden, etwas Beunruhigendes hat, und jetzt verstehe ich auch den Propheten Jeremias besser, der bedauerte, dass seine Mutter nicht ewig mit ihm schwanger ging, ohne ihn jemals gebären zu können.“ {33}
Hiob
Das Buch Hiob ist eine weitere denkwürdige Stelle biblischer Weisheitsliteratur an der Gott und Elternschaft in den Einzugsbereich der Kritik geraten. Hiob erfährt, dass selbst ein gottgefälliges Leben nicht garantiert, dass uns schweres Leid fern bleibt, weshalb er zweistufig sowohl mit dem Schöpfer und mit den Eltern hadert. Ähnlich wie Jeremias wird der Tod in utero dem Geborensein vorgezogen – aber auch eine Fehlgeburt sei immer noch besser als reguläres Geborenwordensein:
Hiob 3
„3 Der Tag müsse verloren sein, darin ich geboren bin, und die Nacht, welche sprach: Es ist ein Männlein empfangen!
4 Derselbe Tag müsse finster sein, und Gott von obenherab müsse nicht nach ihm fragen; kein Glanz müsse über ihn scheinen!
5 Finsternis und Dunkel müssen ihn überwältigen, und dicke Wolken müssen über ihm bleiben, und der Dampf am Tage mache ihn gräßlich!
6 Die Nacht müsse Dunkel einnehmen; sie müsse sich nicht unter den Tagen des Jahres freuen noch in die Zahl der Monden kommen!
7 Siehe, die Nacht müsse einsam sein und kein Jauchzen darin sein!
8 Es müssen sie verfluchen die Verflucher des Tages und die da bereit sind, zu erregen den Leviathan!
9 Ihre Sterne müssen finster sein in ihrer Dämmerung; sie hoffe aufs Licht, und es komme nicht, und müsse nicht sehen die Wimpern der Morgenröte,
10 darum daß sie nicht verschlossen hat die Tür des Leibes meiner Mutter und nicht verborgen das Unglück vor meinen Augen!
11 Warum bin ich nicht gestorben von Mutterleib an? Warum bin ich nicht verschieden, da ich aus dem Leibe kam?
12 Warum hat man mich auf den Schoß gesetzt? Warum bin ich mit Brüsten gesäugt?
13 So läge ich doch nun und wäre still, schliefe und hätte Ruhe
14 mit den Königen und Ratsherren auf Erden, die das Wüste bauen,
15 oder mit den Fürsten, die Gold haben und deren Häuser voll Silber sind.
16 Oder wie eine unzeitige Geburt, die man verborgen hat, wäre ich gar nicht, wie Kinder, die das Licht nie gesehen haben. [...]
20 Warum ist das Licht gegeben dem Mühseligen und das Leben den betrübten Herzen.“
(Luther-Bibel 1912, Das Buch Hiob, Hi 3, 3 ff.)
Judas, der besser Niegeborene
Die Frage, warum der allvorauswissende Schöpfer die leidenden Menschen überhaupt hervorgehen ließ, stellt F. W. Krummacher mit Blick auf einen besonderen Menschen, Judas:
„‘Wohlan denn‘, ruft ihr, ‚da es dem Ewigen bewußt war, daß es jenem Menschen besser wäre, er würde nicht geboren, warum verhinderte er nicht seine Geburt?‘“ (Krummacher, Der leidende Christus. S. 150) Für das Bessernichtgeborensein des Judas finden sich im Neuen Testament zwei Belege, im Matthäus- und Markusevangelium:
Matthäus: „Des Menschen Sohn geht zwar dahin, wie von ihm geschrieben steht; doch weh dem Menschen, durch welchen des Menschen Sohn verraten wird! Es wäre ihm besser, daß er nie geboren wäre.“ (Luther-Bibel 1912, Das Matthäusevangelium, Mt 26, 24)
Markus: „Zwar des Menschen Sohn geht hin, wie von ihm geschrieben steht; weh aber dem Menschen, durch welchen des Menschen Sohn verraten wird. Es wäre demselben Menschen besser, daß er nie geboren wäre.“ (Luther-Bibel 1912: Das Markusevangelium, Mk 14, 21)
Hieran schließen sich religionsimmanent manche Nachfragen an, wie etwa die, ob der Jesusverrat durch Judas ebenso zum göttlichen Heilsplan gehörte wie der transhistorische Judenhass, der sich unter Christen nicht zuletzt aus der von Gott zugelassenen Judastat speiste. Ob zufällig oder nicht – in seinem Roman Jude the Obscure gestaltet Thomas Hardy einen modernen Namensvetter, der die biblischen Sentenzen in neuzeitlichem Umfeld lebendig werden lässt.