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Altersscham
ОглавлениеZur Conditio in/humana gehört, dass fast alle Gesellschaften aller Zeiten – unsere Gegenwart nicht ausgenommen – ihren Alten zu verstehen geben, dass sie überflüssig sind. Anders als die wohl nur von wenigen empfundene „Schuld“, überhaupt geboren worden zu sein (Entschuldigung, dass ich geboren bin!), dürfte die Scham, alt geworden zu sein, sehr verbreitet sein; unter Frauen eher noch als unter Männern, sodass Hedwig Dohm 1903 notierte:
„Es gibt Totengrüfte für Lebendige: Siechtum, unheilbaren Gram. Auch das Greisentum der Frau ist solch eine Totengruft. Sie wird bei Lebzeiten darin beigesetzt.“
„Arme Alte! Dir ist, als müsstest du dich schämen, dass du, nun so unnütz und so alt schon, noch lebst. Das Alter lastet wie eine Schuld auf dir, als usurpiertest du einen Platz, der anderen gebührt.“ (Hedwig Dohm, Die Mütter, S.205)
Ganz in diesem Sinne äußert der als Ethiker berühmte Hans Jonas: „Das Sterben der Alten schafft Platz für die Jungen“ – mit diesen bio-logisch brutalen Worten bereitet Jonas in „Last und Segen der Sterblichkeit“ (in: Philosophische Untersuchungen…, S. 96) unseren alten Mitmenschen das schlechte Gewissen, immer noch da zu sein, obwohl sie biologisch gesehen längst „überflüssig“ sind. Jonas war beileibe nicht mit Senilitätsblindheit geschlagen. Gleichwohl fordert er uns auf, immer neue Individuen in die Welt eintreten zu lassen (in der ihm zufolge das Leid das Glück überwiegt), die er andererseits in kruder Manier zum Abtreten auffordert. Dieser ethische Verrat an den Greisen korrespondiert seinem Paradebeispiel für ein ontisches Gegebensein von Hilfsbedürftigkeit: Es sei der hilfsbedürftige Säugling – und nicht etwa der ebenso hilfsbedürftige Greis –, dessen Sein zugleich ein Sollen impliziere und somit den Hiatus zwischen Sein und Sollen überbrücke. Passend zum ethischen Verrat an den Alten dichtet F. Th. Vischer:
„[...] Es sei! Des Lebens volle Schalen / Hab’ ich geneigt an meinen Mund, / und auch des Lebens ganze Qualen / hab’ ich geschmeckt bis auf den Grund. (...)
Wohl sinkt sie immer noch zu frühe / herab, die wohlbekannte Nacht, / doch wer mit aller Sorg und Mühe / hat je sein Tagewerk vollbracht!
Schau um dich! Sieh die hellen Blicke, / der Wangen jugendfrisches Blut, / und sage dir: In jede Lücke / ergießt sich junge Lebensglut.
Es ist gesorgt, brauchst nicht zu sorgen; / Mach Platz, die Menschheit stirbt nicht aus. / Sie feiert ewig neue Morgen, / du steige fest ins dunkle Haus!“ (In: Schirnding, A. von (Hg.), Der ewige Brunnen des Trostes, S. 68f)
Mit dem Gedicht leistet Vischer seinen Beitrag, die Alten zur Seinsbescheidenheit zu erziehen und wohlgemut ins dunkle Grab zu steigen. Sie sollen sich von ihrem Weiterlebenswillen nur ja nicht einreden, unverzichtbar zu sein. „Es ist gesorgt“ – das heißt: bereits bionom vor aller Entscheidung ist dafür Sorge getragen –, dass auch künftig Menschen ins Dasein treten. Der – vielleicht ebenso bionom – weiterlebenwollende Alte möge vernünftig sein und nicht am Leben hängen wollen, in das man ihn treten ließ.
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