Читать книгу Antinatalismus - Karim Akerma - Страница 40
ОглавлениеAltersvergessenheit oder Senilitätsblindheit, nativistische
Das Unvermögen, erwünschte eigene Kinder in ihrem ganzen zeitlichen Dasein zu antizipieren und sich dafür als verantwortlich zu begreifen: bis sie zu senilen Alten geworden sind (Primortalität). Wer Kinder zeugt, blendet aus, dass auch die ihn umgebenden siechen alten Menschen Eltern hatten, die den Existenzbeginn dieser oftmals bedauernswerten Alten bewirkten. Alle Erzeugung jüngster Menschen ist begleitet von einem unerhörten Maß an Altersvergessenheit. Darunter verstehen wir den Umstand, dass jeder, der nicht „unerwartet früh und plötzlich stirbt“ Altern, Siechtum und einer Sterbenskatastrophe ausgesetzt ist und dass dies dem Mitfühlenden ein Grund sein müsste, keine Nachkommen hervorzubringen. Stattdessen aber bleiben Altern und Sterben bei fast allen progenerativen Entscheidungen ausgespart (Altershiatus).
Leopardi, Giacomo (1798–1837)
Bei aller Altersvergessenheit kann niemand behaupten, dass es an warnenden Stimmen wie derjenigen Leopardis gänzlich gefehlt hätte: „Man kann tatsächlich ganz allgemein behaupten, dass heute jeder mit einer gewissen Begabung und Empfindung ausgestattete Mensch, nachdem er die Welt erfahren hat, besonders im reifen Alter unglücklich ist. Bis zum Tode leben sie in diesem Zustand stiller Verzweiflung.“ (In: Horstmann (Hg.), Die stillen Brüter, S. 77)
Améry, Jean (1912–1978)
Das Ausmaß an Altersvergessenheit ist dergestalt, dass selbst ein so hellsichtiger und unerbittlicher Phänomenologe des Alterns wie Jean Améry nicht auf die Idee kommt, die Forderung aufzustellen, man möge die Hervorbringung immer neuer jüngster Menschen einstellen, die unweigerlich altern und unentrinnbar dem anheimfallen, was er in seinem Essay „Über das Altern. Revolte und Resignation“ beredt schildert:
Da ist die mehr oder minder schwere Leibesmüh, von der jeder Alternde früher oder später heimgesucht wird (S. 48); Schmerzen und Krankheiten, die Verfallsfeste mit unseren Körpern veranstalten (S. 53); das Heranwachsen des Todes in uns (S. 121); die Ungleichheit vor dem Tode, die den Armen vielleicht in einer Abseite eines Gerontolagers, den Reichen hingegen in einer Luxusklinik neben Blumen verseufzen lässt (vgl. S. 113f); die nicht so sehr paradoxe, als vielmehr „scheußliche Springlebendigkeit“ (S. 122) des Sterbenden, dessen Organismus sich Tage gegen das Sterben aufbäumen kann: „dank“ kreatürlicher Anklammerung an das Leben (S. 120). Schrecklich ergänzend Cioran: „Es ist das Eigentümliche an der Krankheit, dass sie wacht, wenn alles schläft, wenn sich alles ausruht, sogar der Kranke.“ (Cioran, Vom Nachteil, geboren zu sein, S. 31)
Améry bringt zum Ausdruck, dass wir zu alledem verurteilt sind: Warum „vergisst“ er die Forderung, derlei Alterns- und Sterbenszumutungen einzustellen? Wie ausgeprägt Amérys „Sterbensangst“ und damit sein Einblick in den Zumutungscharakter des Daseins ist, wird dort offenbar, wo er an die Todesmärsche zurückdenkt, in denen er – jedenfalls im Nachhinein – lieber zugrundegegangen wäre als das von ihm beschriebene Sterben noch vor sich zu haben: „Ich denke viel an die verschneiten Landstraßen von 1944 und den guten Mord-Tod, der von mir nichts hat wissen wollen. Kein schönerer Tod, in der Tat – nicht jedermann hat die Chance.“ (S. 125) Glücklicherweise beeilt sich Améry, dem hinzuzufügen: „Inakzeptabler Gedanke, wenn man erwägt, zu was für reaktionären Gemeinheiten er ein Alibi abgeben könnte!“ (Ebd.)
Wie auch in seinem Essay „Hand an sich legen. Diskurs über den Freitod“, streift Améry das Bessernichtgeboren in „Über das Altern“ an einer Stelle, ohne es zu einem Nichtfortpflanzungsgebot zu gestalten: „Gut ist der Schlaf, der Tod ist besser, zu sagen, hat keinen Sinn; am besten wäre, nie geboren zu sein: das ist eine Leerformel, mit der die Logistik fertig wurde.“ (S. 54) Améry lässt als vermeintliche Unlogik liegen, was er auf Grund seiner Einsichten in ein Verebbensgebot zu transformieren allen Anlass hatte: Unbegreiflicherweise finden wir bei Améry nur die – immerhin entfernt an die Elternschuld rührende – Formulierung:
„Alle Symptome der unheilbaren Krankheit sind rückfahrbar auf das unbegreifliche Wirken des Todesvirus, mit dem wir in die Welt treten.“ (S. 134) Wiederum bleibt unbedacht, dass wir eben nicht, Elementarteilchen gleich, in die Welt treten, sondern vielmehr passivisch in die Welt „getreten werden“. – Dass es Verursacher jener von Améry aufgezeigten „unheilbaren Krankheit“ gibt, mit denen er sich aus welchen Gründen immer nicht auseinandersetzen mochte: Eltern, die ihn in die Welt treten ließen.
Blinder Fleck, Elternschuld
Altersheime, Seniorenresidenzen
Euphemismen für Gerontolager