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16 – Sophie war an einem Sonntag

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nach Küstrow gefahren, auf nur mäßig belebten Autobahnen, und fuhr dienstags zurück, in dichtem Verkehr und entlang einer ununterbrochenen Kolonne von Lkws auf der rechten Spur. Während es in Brandenburg noch trocken war, schneite es in der Gegend von Magdeburg, und weiter westlich verwandelte sich der Schnee in fetten Schneeregen. Es wurde früh dunkel. Zweimal kam der Verkehr für jeweils eine Dreiviertelstunde zum Stehen, die Fahrzeuge rückten zusammen und machten den Weg frei für Polizei, Rettungsdienste und Abschleppwagen. Bis sie in Dortmund und vor dem Hochhaus ankam, in dem sie wohnte, war es Nacht und Sophie mehr als acht Stunden unterwegs gewesen.

Weil sie, einmal in der Wohnung, nicht wieder raus wollte, räumte sie ihr Auto sofort aus und stapelte alles, was sie mitgebracht hatte, in den Fahrstuhl des Hauses. Dann fuhr sie in den siebten Stock. Dort schob sie ihre Fracht mit den Füßen in den Korridor, ließ sie liegen und schloss die Wohnungstür auf, um erst einmal Mantel und Tasche loszuwerden.

Im Flur ihrer Wohnung brannte Licht, also war Jens zuhause. Bevor Sophie einen Gruß rufen konnte, hörte sie die Toilettenspülung. Sie klopfte an die Badezimmertür und sagte: »Ich bin wieder da-ha.«

Die Tür ging auf, und in den Flur trat eine nackte Frau.

Sophie war wie vom Blitz getroffen, sprachlos und verwirrt: Hatte sie sich in der Tür geirrt? War sie in der falschen Wohnung? Natürlich nicht. Ihr Schlüssel hatte ja gepasst.

Die Nackte erschrak nicht und war auch nicht befangen wegen ihrer Nacktheit. Sie sagte nur: »Wer bist du denn?« Dann wandte sie sich ab und lief ohne Eile mit patschenden Füßen und wippenden Hinterbacken in Richtung des Schlafzimmers. Bevor die Tür hinter ihr zufiel, hörte Sophie noch, wie sie sagte: »Na, was ist? Kannst du jetzt wieder?«

Jens’ Antwort war nicht zu verstehen. Sophie stand im Flur und wusste nicht weiter. Was geht hier vor?, dachte sie, wo bin ich hier? Für einen Augenblick fühlte sie sich wie in ein Paralleluniversum verschlagen. Wenn sie kurz die Wohnung verließe und dann zurückkehrte, wäre sie dann wieder in ihrer richtigen Welt?

Dann wich ihre Benommenheit, und ihr Verstand kam wieder in Gang. Dies war die richtige Welt. Sie hängte ihren Mantel an die Flurgarderobe neben eine kleine, strahlend blaue Daunenjacke, die sie nie zuvor gesehen hatte, ließ ihre Tasche fallen und war mit wenigen Schritten an der Schlafzimmertür. Die stieß sie hart auf. Das Zimmer war gedämpft beleuchtet. Jens lag auf dem Bett, zurückgelehnt und auf seine Ellenbogen gestützt und starrte sie mit hervorquellenden Augen an. Die nackte Frau kniete vornüber gebeugt zwischen seinen Beinen und präsentierte Sophie ihre Rückseite, ein Tattoo auf ihrem Steißbein und ein Intimpiercing.

Sophie sagte: »Raus aus meiner Wohnung!«

Die Nackte ließ von Jens ab und wandte sich um. Sie wischte sich mit dem Handrücken über den Mund und sagte: »Ist das deine Frau, oder was?«

»Ich bin n-nicht verheiratet«, stammelte Jens.

»Raus aus meinem Bett!« Sophie ballte die Fäuste und trat einen Schritt ins Zimmer.

»Ist ja gut«, sagte die Nackte. Sie stand vom Bett auf und suchte ihre Kleidung zusammen. Ihr Körper war perfekt proportioniert und modelliert, vollständig haar- und fleckenlos, zart gebräunt, ohne Dellen, Dehnungsstreifen und sichtbare Adern. Sie hätte eine dieser japanischen Sexpuppen aus Silikon sein können. Ihr dummes kleines Gesicht verstärkte diesen Eindruck noch. Sie zog knöchellange Leggins an, Sneakers und einen weiten langen Pullover. Unterwäsche trug sie nicht. Die Farbe ihrer Daunenjacke passte zu den Strähnen in ihrem lackschwarzen Haar. An der Wohnungstür kramte sie in ihren Taschen nach Schlüsseln und Telefon. Sophie öffnete und stieß sie nach draußen.

»Raus!«

»Krieg dich ein, du Kuh«, sagte die Frau. »Ich nehme dir deinen kleinen Schnellspritzer schon nicht weg.«

Sophie warf die Tür zu.

Dann war sie wieder ratlos. Sie stand im Flur und wusste nicht, was sie als Nächstes tun sollte. Nichts, was sie tat würde aus der Welt schaffen, was geschehen war. Wie verhielt man sich überhaupt in so einer Situation? Gab es Ratgeberbücher, die so etwas behandelten? Was sollte sie sagen? Sollte sie Jens beschimpfen? Ihn anklagen? Weinen?

Oder … machte sie Gewese um eine Lappalie? Treue war gestern, und Jens war mal eben fremdgegangen – na und? So etwas passierte jeden Tag und jedem irgendwann einmal. So etwas musste man wegstecken können. Aber, wie machte man das? So wie im Kino? Man betrank sich, heulte einen Abend lang besoffen und anklagend herum und versöhnte sich am Ende, indem man zusammen in die Kiste stieg …?

Sophie gab sich einen Ruck und ging in die Küche um sich Kaffee zu machen. Damit war der Gang ins Schlafzimmer erst einmal aufgeschoben. Während sie auf den Wasserkocher wartete, hörte sie Jens zur Toilette gehen. Mit angehaltenem Atem bereitete sie sich innerlich darauf vor, dass er danach in die Küche kommen würde. Das tat er aber nicht. Warum nicht?

Sophie rätselte. Fürchtete er sich vor einer Auseinandersetzung? Oder war sie, Sophie, ihm bereits so gleichgültig, dass er sich nicht mehr die Mühe machte, sich mit ihr auseinanderzusetzen? Oder tat er, als wäre nichts geschehen, und verlangte damit von ihr dasselbe? War es das, was von ihr erwartet wurde? Und wenn – wie sollte sie von nun an mit Jens umgehen? Wie ging das, ganz praktisch, einen Seitensprung … Seitensprung – was für eine idiotische Bezeichnung für die schlimmste Kränkung, die man jemandem antun kann, der liebt und vertraut … wie ging das, einen ›Seitensprung‹ hinzunehmen und auszuhalten? Um eine Beziehung zu retten und sechs Jahre Leben nicht als verschwendet abschreiben zu müssen … Sophie hatte keine Ahnung. Sie hatte keine Erfahrung mit untreuen Partnern und mit dem Zusammenleben im Schatten der Untreue.

Der Kaffee war fertig.

Dann los, sagte sie sich. Egal, was jetzt kommt, ich werde nicht weinen. Mit einer Tasse Kaffee, an der sie sich krampfhaft festhielt, machte sie sich auf den Weg zum Schlafzimmer. Es war nicht Streitlust oder Rachedurst, was sie antrieb, auch nicht die Suche nach Gründen (Warum? Waru-um?) oder gar der Impuls, sich zu unterwerfen (Bitte, bitte verlass mich nicht …). Sie wollte nur einfach nicht kneifen, nicht vor sich selbst schlecht dastehen.

Jens lag seltsamerweise noch immer nackt im Bett, aber die untere Hälfte seines Körpers war jetzt mit einem Laken bedeckt. Sophie zitterte vor Aufregung am ganzen Körper und fürchtete, dass ihr jeden Augenblick die Kaffeetasse aus der Hand rutschen würde. Trotzdem gelang ihr eine lässige Eröffnung. Sie lehnte sich an den Türrahmen, denn ihre Knie waren weich, und sagte: »Wartest du auf jemanden?«

Statt einer Antwort sagte Jens: »Du warst nicht hier.«

»Ja, und?«

»Ich hatte ein Bedürfnis.«

Was? Der verdruckste kleine Satz machte Sophie gegen ihren Willen ärgerlich.

»Das musstest du dann sofort ausleben, oder wie? Konntest du nicht warten, bis ich wieder zurück war?«

»Du bist so ungeil«, sagte Jens.

Sie begriff nicht sofort, aber dann war ihr, als hätte er sie ins Gesicht geschlagen. Sie wandte sich ab und schloss die Schlafzimmertür. Im Flur stellte sie mit zitternder Hand die Kaffeetasse ab. Danach wusste sie erst einmal nicht weiter. In ihrem Kopf ging alles Drunter und Drüber. Eine halbe Minute lang kämpfte sie um Ordnung in ihrem Denken, und der erste klare Gedanke, den sie fassen konnte, war, dass sie gerade aus ihrem bisherigen Leben vertrieben wurde. Mit drei kurzen Sätzen, bösartig wie Hiebe. Ich kann nicht hierbleiben, dachte sie, hier ist kein Platz für mich. Ich kann mich heute Abend nicht zu diesem Mann ins selbe Bett legen, ich kann die Wohnung nicht mit ihm teilen. Ich muss weg von hier, dachte sie, und zugleich fürchtete sie, dass sie, wenn sie ginge, nicht mehr zurückfinden würde. Lange Sekunden brauchte sie ihre ganze Kraft dafür, Tränen zurückzuhalten. Dann zog sie ungeschickt ihren Mantel wieder an und schlang sich ihre Tasche um. Sie verließ die Wohnung, schob das, was sie aus Brandenburg mitgebracht hatte, zurück in den Lift und fuhr wieder nach unten. Bis ihr kalt wurde, saß sie untätig in ihrem Auto und wagte nicht loszufahren, aus Angst, in ihrem aufgewühlten Zustand einen Unfall zu bauen.

Halbe-Halbe, einmal und immer

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