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22 – Als Stadtkind

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hatte Sophie ihr ganzes Leben in einem Ballungsgebiet verbracht. Ganz gleich, wo man war oder wohin man ging und fuhr, überall war der Horizont verbaut. Weites und offenes Land wie im nördlichen Brandenburg war sie nicht gewohnt, und daher wirkte die Landschaft stark auf sie. Die endlosen Felder, schwarze Wälder in der Ferne, ein niedriger Horizont und ein hoher, leerer Himmel konnten, besonders im Winter, einem Betrachter eintönig erscheinen; für Sophie hatte die Landschaft etwas Großartiges. Brandenburg, fand sie, war wie gemacht dafür, in Siebzig-Millimeter-Panavision abgefilmt zu werden.

Sophie war wieder an einem Sonntag losgefahren. Die Gegend um Küstrow und die Stadt selbst hatten sich seit ihrem ersten Besuch nicht verändert. Es lag zwar viel mehr Schnee als noch vor vier Wochen, aber der taute an den Stellen, die der Sonne (wenn sie denn schien) besonders ausgesetzt waren, schon wieder weg. Die dunklen Flecken an südwärts geneigten Rainen und Hausdächern, an Straßen- und Grabenböschungen zeigten, dass der Winter bald ein Ende haben würde. Aber es war ja auch schon fast März.

Sie quartierte sich in demselben Hotel ein wie bei ihrem ersten Besuch, obwohl es keine Wannen in seinen Bädern gab. Sie aß in demselben vietnamesischen Imbiss zu Abend wie vier Wochen zuvor, denn das Essen war gut und günstig, und das ließ sie in Kauf nehmen, dass ihre Kleidung danach streng nach asiatischer Küche roch. In der Tankstelle nebenan kaufte sie wieder Wein und Wasser für einen Abend mit einem unterirdischen, von Werbung zerfledderten Fernsehprogramm. Ein halber Tag hinter dem Steuer, ein Abendessen, ein Glas Wein und eine Stunde Fernsehen machten sie zuverlässig schläfrig. Sie stellte einen Wecker, den sie dieses Mal nicht vergessen hatte, und ging früh zu Bett.

Am nächsten Morgen, nach einem hastigen Hotelfrühstück und kaum, dass es hell war, fuhr Sophie nach Grobitz. Ihr Erbe stand scheinbar unverändert da, wie sie es verlassen hatte. Sie parkte am Straßenrand, umrundete vorsichtig die Eisfläche, in der sie vor vier Wochen eingebrochen war, und stapfte zweihundert Meter durch den verharschten Schnee die Anhöhe hinauf. Dabei fotografierte sie Haus und Umgebung mit einer kleinen Kamera, die sie von Sabine geliehen hatte. Erst auf dem Display fiel ihr auf, dass etwas anders war als bei ihrem ersten Besuch. Sie ließ die Kamera sinken und suchte mit bloßem Auge nach einer Veränderung.

Das Dach …

An der Stelle am Dach, die über einer Hausecke eingesackt war, fehlten die verrutschten Dachziegel. Auf die Balken und Sparren war schwarze Plastikfolie gespannt. Die vorher lose Dachrinne war befestigt und das Fallrohr wieder angeschlossen. Auch das Fenster, dessen Läden fehlten und das keine Scheiben mehr hatte, war mit Folie verschlossen.

Der Zimmermann! Sophies Herz hüpfte. Ihr wurde ganz warm vor Freude und Dankbarkeit, sogar an den Füßen. Was für ein rundherum netter Typ, dachte sie. Der gibt einem echt den Glauben an die Menschheit zurück. Sie entschied endgültig, ihn anzurufen, wenn all ihre Angelegenheiten in Küstrow geregelt waren. Beschwingt setzte sie ihren Marsch durch den Schnee fort, umrundete und fotografierte das Haus von allen Seiten und zuletzt auch noch mithilfe des Blitzlichts die Eingangshalle und die Treppe ins obere Stockwerk. Zurück in ihrem Wagen überspielte sie die Bilddateien auf ihr Notebook und machte sich auf den Weg zurück nach Küstrow.

Dort suchte sie den Makler auf, dessen Auftritt im Internet ihr am meisten imponiert hatte. Er residierte im Zentrum von Küstrow in einem schön restaurierten alten Bürgerhaus. Auf einer polierten Messingtafel neben der schweren, zweiflügeligen Eingangstür aus goldgelbem Holz war der Firmenname eingraviert. Die Tür und die Messingtafel warnten Sophie, aber ehe sie sich darüber klar wurde, wovor, war sie schon eingetreten und stand im Empfang der Firma. Der große Raum war bis auf ein paar Sitzmöbel aus Edelstahl und Leder und je ein Bild an jeder der vier cremeweiß gestrichenen Wände leer und von Halogenstrahlern schattenlos ausgeleuchtet. Sophies Schritte auf den Schieferplatten des Bodenbelags hallten in der Leere nach. Mit ihren nassen Schuhen, dem unförmigen Mantel und der vermutlich unordentlichen Frisur (sie betastete rasch ihre Haare und schob eine dicke, lose Strähne hinter ihr abstehendes Ohr) fühlte sie sich plötzlich in dieser klinisch anmutenden Umgebung fehl am Platz. In dem Moment, als sie sich wieder zu gehen entschloss, erschien wie aus dem Nichts hereingebeamt eine elegante, junge Frau, um sie zu empfangen. Kurz darauf saß Sophie in einem Büro einer anderen Frau, der Maklerin, gegenüber. Sie sah aus, als wäre sie seit vielen Jahren vierzig Jahre alt und als würde sie ein Reitpferd besitzen. Ihr Büro war fast ebenso kahl wie der Empfangsraum, der Schreibtisch aus poliertem Edelstahl und schwarzem Holz, der Rechner von Apple. Sie hörte ihrer Besucherin höflich, aber offensichtlich interesselos zu und sah sich die Bilder, die Sophie ihr auf dem Display ihres Notebooks präsentierte, nur flüchtig an. Als sie dann selbst sprach, wurde klar, warum.

»Grobitzer 210 kennen wir, Frau Schatz.«

»Ach ja? Haben Sie auch versucht, meiner Großtante einen Käufer zu vermitteln?«

»Nein. Aber wir kennen grundsätzlich alle Objekte in unserer Region, die zum Verkauf stehen. Außerdem die, die frei oder vererbt werden, jetzt, demnächst oder in absehbarer Zukunft. Wir studieren Luftbilder, wir hören uns um, wir recherchieren, wir forschen im Grundbuch nach und lesen die Todesanzeigen und die standesamtlichen Nachrichten. Das ist unser Job. Wir kennen auch den Zustand und den Wert all dieser Häuser und Grundstücke, aktuell und potenziell. Wir warten nicht darauf, dass uns etwas ins Büro geschneit kommt. Wir spüren lohnende Vermittlungen und potente Kunden auf. Was ich damit sagen will, Frau Schatz: Wenn uns Ihre Immobilie interessierte, wären wir schon auf Sie zugekommen. Und dass wir nicht interessiert sind, liegt daran, dass das Objekt zurzeit leider nicht verkäuflich ist.«

»Das habe ich schon einmal gehört«, sagte Sophie und dachte: Um das zu hören, bin ich nicht gekommen.

»Nun, dann wissen Sie ja auch, warum. Um das Haus verkäuflich zu machen, müsste es restauriert, renoviert, modernisiert werden. In seinem jetzigen Zustand ist es ein enormes Wagnis für einen Käufer. Mit ein wenig Pech, dem falschen Architekten oder der falschen Baufirma und mit der Denkmalschutzbehörde auf den Fersen können die Kosten einer Sanierung schnell aus dem Ruder laufen. Dann bekommt man beim Wiederverkauf sein Geld nicht wieder raus, ganz zu Schweigen von einem Gewinn. Dieses Risiko tut sich kein Investor an. Verstehen Sie?«

»Natürlich verstehe ich das.« Ich bin ja nicht blöd. Sophie klappte ihr Notebook zu, packte es in ihre Tasche und machte sich fertig zu gehen.

»Ich bedaure, dass ich im Moment nicht mehr für Sie tun kann«, sagte die Maklerin. »Ich kann Ihnen nur raten, das Haus auf eigenes Risiko zu restaurieren, und es dann noch einmal auf den Markt zu bringen. Je nach Zustand und Ausstattung könnten wir dann irgendetwas zwischen einer Viertel- und einer halben Million erzielen.«

Sophie stand auf. »Vielen Dank für Ihre Zeit«, sagte sie und dachte, danke für nichts.

»Sprechen Sie ruhig einmal mit einem Architekten, Frau Schatz. Es könnte sich lohnen«, sagte die Maklerin, als Sophie schon auf dem Weg zur Tür war.

Eigentlich hatte sie vorgehabt, mit beiden Küstrower Immobilienmaklern zu sprechen, wenn ihr der Erste nicht weiterhalf. Aber als Sophie auf der Straße stand, war ihr die Aussicht auf ein weiteres, voraussichtlich ebenso ergebnisloses und deshalb unerfreuliches Gespräch gründlich zuwider. Der Montag war noch nicht einmal halb vorbei, und sie hatte schon so viel Geringschätzung und herablassende Belehrung abbekommen, dass es für eine ganze Woche reichte. Für diesen Tag (und überhaupt) hatte sie die Nase voll von Immobilienmaklern. Zugleich war ihr aber auch bewusst, dass sie ihre Bemühungen nicht einfach einstellen konnte. Sie wäre sonst tausend Kilometer gefahren, nur um ein paar Fotos zu machen und sich einen abfälligen Vortrag anzuhören. Ihr Problem, das angeblich unverkäufliche geerbte Haus, verschwand nicht, wenn sie sich nicht damit befasste. Also musste eine Lösung her – und nach Sophies Überzeugung war kein Problem unlösbar. Alles war nur eine Frage der Herangehensweise.

So in Gedanken lief sie ohne ein bestimmtes Ziel durch die Stadt und geriet dabei in Küstrows Fußgängerzone. Außer dass die ein wenig neuer und sauberer war als die durchschnittliche deutsche Standardfußgängerzone, hätte sie überall sein können. Der gleiche Straßenbelag, die gleichen Lampen, die gleichen Bettler, die gleichen Geschäfte: Douglas, Deichmann, Fielmann Kik und Kamps, zwei Telefonläden und ein Dönerimbiss. Immerhin gab es auch einen stylishen Coffeeshop. Weil sie durch das Fenster des Shops jemanden über ein Tablet wischen sah, trat sie ein, erfuhr auf Nachfrage, dass es offenes WLAN gab, und bestellte einen Cappuccino. Sie suchte sich einen ruhigen Platz und klappte ihr Notebook auf.

Sprechen Sie ruhig einmal mit einem Architekten, hatte die Maklerin gesagt.

Sophie glaubte zwar nicht, dass ihr ein Architekt beim Verkauf ihres Hauses weiterhelfen konnte, aber sie konnte sich ja einmal anhören, was so jemand zu sagen hatte. Vielleicht lernte sie ja etwas. Im Netz fand sie nur ein Architektenbüro in Küstrow. Es lag außerhalb des Stadtzentrums, und sie rief zur Sicherheit an, bevor sie sich auf den Weg machte. Das Büro war besetzt, der Architekt zu sprechen. Der Fußmarsch aus dem Zentrum Küstrows heraus in ein Wohngebiet am Rand der kleinen Stadt dauerte länger, als sie angenommen hatte. Wie die Maklerin residierte der Architekt in einem alten Bürgerhaus, hatte aber offensichtlich wenig Geld für dessen Renovierung zur Verfügung. Nur das Dach, die Fenster und die Hauseingangstür wirkten einigermaßen neu. Ansonsten war das Haus noch von Alter und DDR-Ruß geschwärzt, der Außenputz rissig und löchrig. Im Vorgarten lagen Haufen von Bauschutt, und in der Einfahrt stand ein alter Saab. Zu einem Messingschild hatte es der Architekt noch nicht gebracht.

Das Büro nahm mehrere Räume im Erdgeschoss des Hauses ein. Sie waren der bei Weitem unaufgeräumteste Arbeitsplatz, den Sophie je gesehen hatte. Der Architekt, ein mittelalter blasser Mann mit einem Rundrücken, bot Sophie Kaffee an. Sein dünnes Haar war grau und zu lang, sein Pullover auch. Er hörte sich an, was Sophie zu erzählen hatte.

»Normalerweise läuft das so, Frau Schatz«, sagte er, als sie geendet hatte, »wir, also ich, sehe mir das Haus an, stelle fest, was gemacht werden muss, suche und beauftrage geeignete Firmen, überwache deren Arbeit und rechne mit ihnen ab. Dabei bin ich Treuhänder des Auftraggebers, und der Auftraggeber wären Sie. Aber das funktioniert natürlich nur, wenn, äh, Sie es, äh, bezahlen … wenn die Finanzierung gesichert ist.«

»Wie gesagt, ich habe kein Geld.«

»Sprechen Sie mit Ihrer Bank. Es gibt auch Fördermittel des Landes für den Denkmalschutz«, sagte der Architekt.

»Die Bank gibt mir nichts. Aber eigentlich will ich das Haus ja gar nicht restaurieren«, sagte Sophie »Eigentlich suche ich einen Käufer.« Auch diesen Weg hätte ich mir sparen können, dachte sie. Sie klappte ihr Notebook zu und griff nach ihrer Tasche.

»Es gibt noch eine andere Möglichkeit«, sagte der Architekt schnell. »Sie haben zwar kein Geld, aber Sie haben das Haus. Sie könnten die Restaurierung Ihres Hauses mit dem Haus bezahlen.«

Das stoppte Sophie. Sie sagte: »Wie soll das gehen?«

»Sie überlassen mir das Haus. Für einen symbolischen Preis, sagen wir, für einen Euro. Mit Grundbucheintragung, Vertrag und allem, was dazugehört. Ich wiederum reiche einen Anteil an dem Haus an eine Baufirma weiter, die es dafür restauriert. Dann verkaufen wir es und teilen den Gewinn durch drei.«

»Den Gewinn nach Abzug der Baukosten und Ihres Honorars.«

»Genau.«

»Woher weiß ich, dass es einen Gewinn geben wird?«

»Das weiß man vorher nie, Frau Schatz. Es gibt halt immer Unsicherheiten, gerade am Bau. Aber wenn man etwas verdienen will, muss man es schon mal drauf ankommen lassen. Natürlich könnten wir alle bei so einem Unternehmen drauflegen.«

Ja, klar: Wir alle, dachte Sophie.

»Lassen Sie es sich durch den Kopf gehen. Überlegen Sie mal: Sie bräuchten keinen Käufer mehr zu suchen, wären die Verantwortung für die Erhaltung des Hauses los, und irgendwann bekämen Sie auch noch Geld – sicherlich mehr als das, was Sie jetzt bekommen, wenn Sie doch noch einen Käufer auftreiben.«

Irgendetwas an dem Vorschlag gefiel ihr, aber sie konnte nicht auf Anhieb sagen, was. Und da war noch ihr Misstrauen. Der Architekt wollte ihr das Haus für einen, für einen Euro! abschwatzen. Egal wie alt, verdreckt und zugemüllt es auch sein mochte, für einen Euro würde sie es nicht hergeben.

Sophie sagte: »Ich habe einen anderen Vorschlag. Zahlen Sie mir 21.400 Euro für das Haus, dann können Sie damit machen, was Sie wollen. Wenn es Ihnen irgendwann einmal Gewinn bringt, dann gehört er ganz Ihnen.«

»21.000, das ist zu viel.«

»Holen Sie sich eine Baufirma mit ins Boot.«

»Auch die gibt nicht im Voraus Geld aus, weil es sonst nachher für die Bezahlung der Renovierung fehlt.«

»Tja … tut mir leid. Da kommen wir wohl nicht miteinander ins Geschäft«, sagte Sophie. »Vielen Dank für Ihre Zeit.«

Sie stand auf und zog ihren Mantel an. Dann ging sie, ohne Handynummer oder Adresse zu hinterlassen. Der Architekt würde sich nicht mehr melden, da war sie ziemlich sicher. Und wenn doch, dann würde er sie schon zu finden wissen.

Auf dem Weg zurück ins Stadtzentrum dachte Sophie über das Gespräch nach. Auf den ersten Blick mochte es so aussehen, als hätte es schon wieder nichts gebracht, tatsächlich aber hatte sie etwas gelernt. Eine Menge, nämlich:

Sie war nicht arm. Sie hatte nur kein Geld.

Sie besaß das Haus.

Das konnte sie investieren. Anstelle von Geld.

Der Gedanke war gut, fand Sophie, die Renovierung des Hauses mit dem Haus zu bezahlen. Dafür musste sie es nicht vorher verschenken. Jedenfalls nicht ganz. Was sich der Architekt da ausgedacht hatte, das konnte sie auch selbst tun. Der Mann hatte ja kein Patent auf seine Idee.

Bis Sophie wieder das Stadtzentrum erreichte, schmerzten ihre Füße, und in ihrem Kopf hatte sich aus ihren Gedanken und Einsichten ein noch undeutliches Vorhaben geformt. Sie wendete und drehte es im Geist, um es besser erkennbar zu machen, aber es sträubte sich. Darüber war es Mittag geworden. Sie aß in einem Imbiss in der Fußgängerzone einen Cheeseburger im Stehen, trank eine Cola dazu und nahm sich dabei vor, sich irgendwann einmal, am besten bald, gesünder zu ernähren. Dann kehrte sie in ihr Hotel zurück. In ihrem Zimmer zog sie die Schuhe aus, legte sie die Füße hoch und dachte nach. Kurz nach vier rief sie Will Trenck an.

Halbe-Halbe, einmal und immer

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