Читать книгу Halbe-Halbe, einmal und immer - Kathrin Brückmann - Страница 21
19 – An jedem zweiten Tag
Оглавлениеfuhr Sophie in ihre (ehemalige) Wohnung, sah nach der Post und holte sich hin und wieder Kleidung zum Wechseln oder einige ihrer Kosmetika. Bevor sie den Fahrstuhl betrat, um sich in den siebten Stock bringen zu lassen, drehte sie immer erst einmal eine Runde durch die Straßen und über die Parkplätze in der Umgebung, um sicherzugehen, dass Jens zur Arbeit gefahren war. Sie wollte ihn nicht treffen. Die Demütigung, die er ihr zugefügt hatte, war tief, die Verwundung noch zu frisch und ihr Selbstvertrauen erschüttert. Indem sie ihm aus dem Weg ging, hoffte sie sich zu erholen. Tatsächlich entfernten sich Jens und das Leben mit ihm überraschend schnell und schmerzlos aus Sophies Gedanken und Gefühlen, oder jedenfalls kam es ihr so vor. Als sie sich dessen bewusst wurde, war sie zwar erleichtert, bekam aber auch ein schlechtes Gewissen. Ist das normal, fragte sie sich, dass man jemanden, mit dem man fünf, sechs Jahre eng und ausschließlich zusammengelebt hat, in zwei, drei Wochen und ohne Schwierigkeiten hinter sich lassen kann? Einfach so? Man geht sich aus dem Weg, und das war’s? Bin ich vielleicht irgendwie gefühlskalt? Gewissenlos? Müsste ich nicht etwas tun? Müsste nicht noch etwas kommen? So etwas wie eine Trennungsverhandlung wie bei einer Scheidung, eine Art abschließendes Ritual, ein letztes Gespräch? (Eine Abrechnung?) Oder wenigstens eine SMS? Weil Sophie keine Antworten auf diese und andere ähnliche Fragen hatte, entschied sie, einfach nichts zu tun, bis das, warum auch immer, nicht mehr möglich sein würde. Und außerdem, fand sie, hatte sie die Beziehung ja nicht zum Einsturz gebracht. Es war also nicht an ihr, die Trümmer zu sortieren.
Der Wohnung sah man zunehmend an, dass Jens es nicht gewohnt war, für sich selbst zu sorgen. Sie roch auch anders als früher. Die Einrichtung verstaubte. Immer wieder fand Sophie schmutziges Geschirr in der Spüle, obwohl der Geschirrspüler nicht voll war und sein Inhalt schon zu stinken begann, weil er nicht eingeschaltet wurde. Auf dem Couchtisch standen regelmäßig ein oder mehrere Gläser oder eine Tasse, vom Abend zuvor zurückgelassen, und hin und wieder ein Pizzakarton oder eine halb geleerte Chipstüte. Der Bettwäsche sah man schon von der Schlafzimmertür aus an, dass sie gewechselt werden musste. Waschbecken und Badewanne hatten Schmutzränder, und der Badezimmerspiegel war mit Zahnpastaspritzern gesprenkelt. Immerhin war der Toilettendeckel geschlossen. Sophie verzichtete darauf, ihn anzuheben oder die Toilette überhaupt zu benutzen. Die ersten Male, die sie nach ihrem Auszug in ihr ehemaliges Zuhause zurückkam, konnte sie sich nur mit Mühe davon abhalten, aufzuräumen und Staub zu saugen. Später ließ der Drang nach. In dem Maß, in dem die Wohnung schleichend verwahrloste, wurde sie ihr fremd und gleichgültig, und sie fühlte sich nicht mehr verantwortlich.
Die Post bot keine Überraschungen. Das Grundbuchamt Küstrow sandte ihr einen Grundbuchauszug, in dem sie, Sophie Schatz, geboren am …, wohnhaft … als neue Eigentümerin nach Marie Luise Berkemann, geb. Schatz im Grundbuch von Küstrow für die Liegenschaft Flur 16, Flurstück 91, Haus und Grundstück Grobitzer Landstraße 210, 10.414 Quadratmeter, ausgewiesen wurde. (Sophie fotokopierte den Auszug und schickte ihn zusammen mit dem ausgefüllten und unterschriebenen Vermittlungsvertrag an den Raucher in der Immobilienabteilung der Bank in Küstrow). Absagen auf Bewerbungen kamen in unregelmäßiger Folge per E-Mail. Seit sie bei Sabine und Holger wohnte, hatte Sophie ihre Arbeitssuche auf die gesamte Bundesrepublik ausgeweitet. Es gab für sie keinen Grund mehr, nicht umzuziehen. Wäre sie drei Monate früher hellsichtiger gewesen, hätte sie gar nicht erst gekündigt, sondern wäre gleich ihrem Job nachgereist. Aber nun … Sophie bemühte sich mit aller Kraft, Was-wäre-wenn-Gedanken nicht zu denken und Hätte-ich-nur-Überlegungen zu vermeiden. Die Dinge sind, wie sie sind, sagte sie sich. Akzeptiere ich das und setze einen Fuß vor den anderen, werde ich schon irgendwo ankommen. Hauptsache, die grobe Richtung stimmt.
Wenn Sophie nicht als Haushaltshilfe für Sabine zu tun hatte oder auf Arbeitssuche vor ihrem Rechner saß, half sie bei der Renovierung des Hauses. Sie riss abgenutzten Teppichboden heraus, löste alte Tapeten ab und füllte damit schwarze Müllsäcke. Mehrere Ladungen von ihnen fuhr sie zu einem Entsorger. Holger brachte ihr bei, mit einem flexiblen Spachtel und einer Glättkelle umzugehen. Dann spachtelte sie Risse, Narben und Unregelmäßigkeiten an Wänden und Decke eines Zimmers und glättete sie danach mit einer dünnen Schicht Gipsputz. Es dauerte einen halben Nachmittag, bis Sophie es heraushatte, die Putzmasse ohne Klumpen weder zu dick noch zu dünnflüssig anzurühren, sie ohne bedeutende Transportverluste an Wand oder Decke zu bekommen und sie dann gleichmäßig glatt und dünn zu verstreichen. Ehe sie sich entschloss, dabei eine Mütze zu tragen, hatte sie schon reichlich Putz in den Haaren, und als sie abends fertig war, sah sie aus, als wäre sie unter einen Schwarm ärgerlicher Möwen geraten. Am Tag darauf hatte sie Muskelkater in Schulter- und Trapezmuskeln.
An einem Dienstagmorgen, zwei Tage vor dem errechneten Geburtstermin, wartete Sabine schon an der Haustür auf Sophie, als die vom Kindergarten zurückkam. Die Wehen hatten eingesetzt. Sie fuhren ins Krankenhaus. Drei Stunden später gebar Sabine einen acht Pfund schweren Jungen. Erst als alles vorüber war, sie und das Kind sich von den Anstrengungen der Geburt erholt hatten und in einem Einzelzimmer lagen, der Kleine an der Brust der Mutter, erlaubte Sabine Sophie, Holger anzurufen und Mariechen aus dem Kindergarten zu holen. Holger war gerührt, als er seine Frau und sein neues Kind sah, und er rührte Sophie, wie er so unverstellt glücklich war, zärtlich und fürsorglich seiner Frau und seinen Kindern zugewandt, ein guter Vater, ein guter Mann. Mariechen war von ihrem Brüderchen fasziniert.
»Das arme Kerlchen«, meinte Sabine, »er wird sein Leben lang eine große Schwester haben. Das ist ein hartes Schicksal.«
Der Junge sollte Robert heißen, ein Name, von dem die Eltern hofften, dass er sie dafür nie hassen würde, und der gleichermaßen weit entfernt war von Kevin wie von Tristan oder Finn-Thorben.