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6 – Nach dem Termin mit dem Notar

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vor Weihnachten, über die Feiertage, mit dem Einbruch der Arbeitslosigkeit in ihr Leben und der Jobsuche hatte Sophie ihre Erbschaft halb vergessen. Es überraschte sie deshalb ein wenig, als sie wieder einmal ein Schreiben des Amtsgerichts Küstrow im Briefkasten fand.

Sehr geehrte Frau Schatz,

in der Nachlassangelegenheit

Marie Luise Berkemann, geborene Schatz,

geboren am …

erhalten Sie anliegenden Erbschein zur Kenntnisnahme und weiteren Verwendung.

Mit freundlichen Grüßen …

Den Nachlass ihres Vaters hatte Sophies Mutter geregelt, deshalb kannte sie sich nicht aus. Sie rief das Amtsgericht in Küstrow an und fragte sich durch. Der Nachlasspfleger war ein unfreundlicher Mann mit einer Jungenstimme.

»Mit dem Erbschein und ihrem Personalausweis können Sie Ihr Erbe antreten«, sagte er. »Die Habseligkeiten Ihrer Großtante lagern noch in dem Heim, in dem sie die letzten Jahre ihres Lebens wohnte. Mit dem Erbschein können Sie auch alle sonstigen Formalitäten abwickeln, mit Ämtern, Banken, Versicherungen, Bestatter, eben alles, was so anliegt. Der Erbschein macht Sie zur Rechtsnachfolgerin Ihrer Großtante. Verstehen Sie, was das bedeutet?«

»Ich denke schon«, sagte Sophie.

»Gut. Für manches brauchen Sie auch die Sterbeurkunde. Die müsste der Bestatter haben. Wenn nicht, bekommen Sie sie vom Standesamt. Wenn Sie noch Fragen haben, kommen Sie vorbei oder rufen Sie mich wieder an. Haben Sie E-Mail? Ich maile Ihnen die Adresse des Heims, zu dem Sie fahren müssen.«

Sophie nannte dem Mann ihre E-Mail-Adresse.

»Ich weiß noch nicht, wann ich bei Ihnen vorbeikommen kann«, sagte sie. »Küstrow ist so weit weg von mir, und es ist Winter, Sie wissen schon …«

»Nun ja«, sagte der Mann, »wir sind hier in Brandenburg, nicht in Sibirien. Hierher können Sie auch im Winter kommen. Schieben Sie Ihren Besuch nicht unnötig auf. Ihre Tante ist immerhin schon vor sieben Monaten … äh … verschieden. Es hat sich einiges angestaut, was auf Erledigung wartet.«

Sophie hatte reichlich Erfahrung mit Leuten, die sie am Telefon unter Druck zu setzen versuchten. Sie sagte: »Dafür kann ich nichts. Hätten Sie mich vor einem halben Jahr angeschrieben, dann wären wir schon durch mit der ganzen Sache.«

»Wir wussten damals noch überhaupt nicht, dass es Sie gibt. Also, kommen Sie so bald wie möglich und bringen Sie ein bisschen Zeit mit, Frau Schatz.«

»Drängen Sie mich nicht«, sagte Sophie. »Ich kann jetzt hier nicht alles stehen und liegen lassen, bloß weil Ihnen etwas eilig ist. Was sieben Monate gewartet hat, hat auch noch ein paar weitere Wochen Zeit. Ich komme, wann ich kann.«

Der Nachlasspfleger verabschiedete sich und legte auf. Sophie bedachte ihn mit dem Schimpfwort, das mit A anfängt, und wahrscheinlich sagte er gerade am anderen Ende der toten Leitung etwas Ähnliches. Dann wurde ihr bewusst, dass sie versäumt hatte zu fragen, was genau sich ›angestaut‹ hatte und was er mit ›einiges zu erledigen‹ gemeint hatte. Mit dem Telefon noch in der Hand überlegte sie. Ämter? Welche Ämter? Versicherungen? Banken? Ja, klar, die Tante besaß sicher ein Konto, das aufgelöst werden musste. Ein Bestatter? Wenn es jetzt noch, nach mehr als einem halben Jahr, etwas mit einem Bestatter zu regeln gibt, dachte Sophie, dann ist da wohl eine Rechnung offen. Hoffentlich hält die sich in Grenzen. Wo war die Tante eigentlich beerdigt? Gab es irgendwo ein Grab? Ich muss mir mal eine Liste machen, dachte sie, von allem, was ich nicht weiß.

Sophie hatte mittags mit dem Nachlasspfleger telefoniert. Bis Jens spätnachmittags nach Hause kam, hatte sie sich im Internet das Wetter in Brandenburg angesehen, entschieden, dass es unproblematisch war, und sich entschlossen, sobald wie möglich zu fahren. Die Fahrt war eh nicht zu vermeiden, und Aufschieben brachte keinen Vorteil. Außerdem – und das war der wichtigste Grund für ihren Entschluss – bot ihr die Reise eine Abwechslung. Auf diese Art und Weise kam sie mal raus aus der Wohnung und aus der Stadt. Brandenburg war nicht die Karibik, aber auch im Winter immer noch besser, als im siebenten Stock allein und tatenlos auf eine Einladung zu einem Vorstellungsgespräch zu hoffen.

»Sonntag fahre ich nach Küstrow«, sagte sie beim Abendessen.

Jens war mit seinen Gedanken woanders. »Was? Wohin?«

»Na … du weißt doch, wegen der Erbschaft.«

»Äh, ja … Warum Sonntag? Ist doch alles geschlossen.«

»Sonntag ist nicht so viel Verkehr auf der Autobahn, und ich muss meinen alten Wagen nicht so treten, um mitzuhalten.«

Jens antwortete nicht. Sophie wusste, dass es nichts brachte, was sie gleich tun würde, aber sie tat es trotzdem. Ihr war nach einer kleinen Stichelei zumute. Jens schuldete ihr noch was.

Sie sagte »Es sei denn, wir tauschen die Autos. Mit deinem komme ich schneller hin und zurück und spare mir eine Übernachtung.«

Augenblicklich hatte sie seine Aufmerksamkeit. »Auf keinen Fall!«, antwortete er mit Nachdruck.

»Aber warum denn nicht …?« sagte sie mit gespielter Harmlosigkeit. Er tappte in ihre Falle und versuchte, seine Ablehnung zu begründen, aber ihm fiel nichts Gutes ein.

»Der Wagen ist geleast«, sagte er schließlich.

»Ja und?«

»Wenn du einen Kratzer reinfährst …«

»Wenn du selbst einen Kratzer reinfährst, ist das dann besser?«

Jens antwortete nicht

»Meinst du, ich verkratze dein Auto eher als du?«

»Fahr mit deinem eigenen Wagen.« Jens’ Gesicht war gerötet, sein Nacken sichtbar verspannt. Er starrte auf seinen Teller. Sophie ließ ab von ihm. Er würde eher seine Eltern in die Sklaverei verkaufen, als sein Auto zu verleihen.

»Ist schon gut«, sagte sie. »War nicht ernst gemeint.«

Als sie später den Tisch abräumte, setzte sich Jens nicht an seinen Rechner oder vor den Fernseher, sondern packte seine Sportsachen, um wieder einmal trainieren zu gehen. Er fragte Sophie nicht, ob sie mitkommen wolle.

Halbe-Halbe, einmal und immer

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