Читать книгу Halbe-Halbe, einmal und immer - Kathrin Brückmann - Страница 19

17 – Sophie kannte einige Leute,

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bei denen sie unterkommen konnte. Sie war eine beliebte Kollegin gewesen und hatte auch noch ein paar Freunde jenseits der Arbeit. Aber die liebste und älteste Freundin von allen, fast schon eine Schwester, war ihr eine Schulkameradin, mit der sie neun Jahre in eine Klasse gegangen war. Zwar sahen sie sich nicht mehr so oft wie früher und jedes Jahr ein wenig seltener, aber ihre Verbundenheit hatte nicht darunter gelitten.

Sabine Koch war die Art von Frau, die gewöhnlich nach vorn geschoben wird, wenn es gilt, bei Publikum und Kunden gut rüberzukommen – an einer Rezeption, am Tresen einer Sprechstunde, im Mittelgang eines Fliegers, an Messeständen. Nicht zu groß und nicht zu klein, schlank, stewardessenblond und eher gutaussehend als hübsch schien sie wie dafür geboren, schwarze Hosenanzüge und dunkelblaue Kostüme zu tragen. Sie brach ein ›Bullshit-Studium‹, wie sie es nannte, nach dem zweiten Semester ab, wurde Physiotherapeutin und lernte in einer Rehapraxis ihren Mann kennen. Holger, ein Ingenieur, ein freundlicher Riese, der Handball spielte, kurierte mit Sabines Hilfe einen Schlüsselbeinbruch aus. Sie wurden rasch ein Paar, heirateten, und kaum, dass der Pfarrer Sie-dürfen-die-Braut-jetzt-küssen gesagt hatte, war Sabine schwanger. Drei Jahre später kündigte sich das zweite Kind an. Mit seinen Ersparnissen, finanzieller Hilfe aller Eltern und einem Bankkredit kaufte das Paar ein Haus mit Garten in einer der älteren Speckgürtelgemeinden im westfälischen Umland der Stadt. Das Haus war nicht wirklich alt, aber aus der Zeit, als Waschbeton noch in Mode und Öl noch billig war. Eine neue Heizung, moderne Fenster und Rundumdämmung verschlangen das letzte Geld der beiden. Den großen Rest der Renovierung im Inneren des Hauses unternahmen sie in ihrer Freizeit selbst, was praktisch bedeutete, dass sie in einer Baustelle lebten.

Das sagte Sabine auch Sophie am Telefon. »Komm und bleib, solange es nötig ist, aber du wirst mit uns auf einer Baustelle wohnen.«

Eine halbe Stunde später umarmten sie sich an der Haustür. Das war nicht einfach, denn Sabine war im neunten Monat. Hinter ihr im Flur hüpfte eine blonde Dreijährige im Schlafanzug wie aufgezogen herum und rief immer wieder Sophies Namen. Die ging in die Knie und drückte auch die Kleine an sich. Die Umarmungen, besonders die des Kindes, brachten sie fast um ihre Fassung. Noch einmal musste sie sich mit aller Macht zusammennehmen, um die Tränen zurückzuhalten. Sie wollte das kleine Mädchen nicht traurig machen.

Die Versammlung verlagerte sich ins Innere des Hauses. Alle sprachen durcheinander.

»Sophie! Sophie!« (Hüpf, hüpf).

»Mariechen! Schätzchen, was bist du groß geworden!«

»Marie! Ab ins Bett!«

»Mama, Mama, ich will noch aufbleiben, weil die Sophie da ist!«

»Die Sophie ist morgen auch noch hier. Ins Bett. Los, sofort!«

»Lass sie doch noch ein paar Minuten.«

»Nein«, sagte Sabine. »Sonst kriege ich sie morgen früh erst nicht aus den Federn, dann schläft sie im Kindergarten noch vor Mittag wieder ein, und ich habe die verdammten Erzieherinnen am Telefon, die wissen wollen, was mit dem Kind nicht in Ordnung ist.«

»Sophie soll mich ins Bett bringen!«

»Ich bringe dich ins Bett, Mariechen«, sagte Sophie. »Lass mich nur meinen Mantel ausziehen.«

»Und vorlesen!«

»Da hast du’s«, sagte Sabine zu Sophie. »Eher wird sie jetzt ohnmächtig, als dass sie einschläft.«

Tatsächlich aber fielen dem Kind die Augen zu, kaum dass Sophie zu lesen begonnen hatte. Sie fuhr noch ein paar Minuten mit gedämpfter Stimme fort, bis die Atemzüge der Kleinen regelmäßig und tief waren. Dann stand sie auf und schlich aus dem Zimmer. Sie ließ ein kleines Nachtlicht brennen und die Tür einen Spalt weit geöffnet.

Maries Zimmer und ein Bad waren die einzigen Räume im Obergeschoss des Hauses, die schon vollständig renoviert und endgültig eingerichtet waren. Sophie suchte sich leise einen Weg über ausgelegte Plastikplanen an Leitern, Werkzeug und Farbeimern vorbei zurück ins Erdgeschoss. Sabine wartete im Wohnzimmer und hatte Tee gemacht. Holger war von irgendwoher aufgetaucht.

»Tee?«, fragte Sabine.

»Hallo Sophie«, sagte Holger. »Wein?«

Sophie entschied sich für Wein.

»Nun erzähl mal«, sagte Sabine.

Sie hatten zuletzt an Weihnachten telefoniert, und Sabine und Holger wussten deshalb schon, dass Sophie ihren Job gekündigt und eine Erbschaft gemacht hatte. Der Rest war rasch erzählt, auch mit einem Kloß im Hals. Als sie mit ihrem Bericht bei Jens und der nackten Frau anlangte, bemerkte sie, dass Sabine und ihr Mann einen Blick wechselten.

Sophie sagte: »Was guckt Ihr so? Was bedeutet das?«

Sie bekam keine Antwort.

»Habt ihr etwas gewusst? Habt Ihr gewusst, dass er eine andere hat?«

»Nein«, sagte Sabine, »aber wir haben uns gedacht, dass es mal dazu kommen würde.«

»Aber … warum habt ihr denn nichts gesagt?«

»Du weißt, dass das nicht möglich war«, sagte Holger. »So was tut man nicht. Ein Paar ist ein Paar. Da mischt man sich nicht ein. Solange du meinst, dass Ihr, Jens und du, zusammengehört, werde ich dir nicht das Gegenteil erzählen.«

»Aber wir sind doch Freunde …«

»Eben deshalb. Willst du denn von mir hören, dass ich den Mann, den du liebst, für den du einstehst, für einen Mistkerl halte? Im Umkehrschluss würde das ja heißen, dass ich meine, dass du eine dumme Nuss bist, weil du mit so einem zusammen bist. Was für ein Freund wäre ich dann?«

»Wir hätten ja auch falsch liegen können«, sagte Sabine. »Ihr hättet ja auch das perfekte Paar sein können. Von außen erkennt man doch nicht, ob zwei Menschen zusammengehören oder nicht.«

Sophie trank auf nüchternen Magen. Schon das erste halbe Glas Wein stieg ihr zu Kopf. Sie nahm noch einen tiefen Schluck.

»Es war offensichtlich, nicht wahr?«, sagte sie mit brechender Stimme. »Jeder konnte es sehen, nur ich nicht.«

»Nein«, sagte Sabine, »so war das nicht.«

»Weißt du auch, warum?«, fuhr Sophie fort. »Weil ich es nicht sehen wollte. Oh Gott … ich bin eine dumme Nuss.« Ihre Augen wurden nass. Sie hob die Hände vor ihr Gesicht und beugte sich vornüber. Endlich konnte sie ihren Tränen freien Lauf lassen.

»Nein. Bist du nicht. Du hast nur Pech gehabt«, sagte Sabine. Mit einem Blick und einer Kopfbewegung bedeutete sie ihrem Mann zu gehen. Den kommenden Jammer, mit Tränen und Rotz und Klagen, würden die Frauen unter sich ausmachen.

»Pech gehabt?« Sophie schluchzte in ihre Hände. »Nein, ich habe mir Illusionen gemacht, mit aller Kraft. Jens brauchte sich gar nicht anzustrengen, um mich zu täuschen. Ich habe mich selbst belogen.« Ihre Schultern zuckten. Sie weinte laut.

Holger stellte im Vorübergehen eine Rolle Küchenkrepp in Reichweite auf den Couchtisch. Sabine schwieg und wartete. Nach einigen Minuten hob Sophie ihr tränennasses Gesicht.

»Weißt du, was mir gerade klar wird, Bine? Es war harte Arbeit. Ich habe mich angestrengt, jedes Jahr ein bisschen mehr, um Jens auszuhalten. Es war harte Arbeit auszublenden, vor mir selbst zu verharmlosen, dass er kleinlich ist, selbstsüchtig, eitel. Ein Streber.«

Sophie zog die Nase hoch. Tränen rannen über ihr Gesicht und tropften von ihrem Kinn auf den Teppich zwischen ihren Füßen. Sie rollte Papier ab, um sich zu trocknen und die Nase zu putzen. Dann füllte sie ihr Glas nach und nahm einen tiefen Schluck. »Wenn mich etwas an ihm störte, wenn er mich verletzte, habe ich es hingenommen, weil, es ist doch niemand perfekt, oder? Man kann sich seinen Partner doch nicht nach Wunsch backen. Ich bin doch auch nicht perfekt, da dachte ich, wie kann ich das von jemand anderem erwarten?«

»So darfst du das nicht sehen«, sagte Sabine. »Wenn du auch nicht perfekt bist, dann jedenfalls nicht so mies nichtperfekt wie Jens. Und vor allem bist du nicht selbst schuld daran, wenn du gekränkt wirst.«

»Es gibt keinen Täter, wo nicht ein Opfer auf ihn wartet.«

»Was für ein Quatsch! Wo hast du das denn her?«

»Ich habe zugelassen, dass er mich verletzt.«

»Jeder, der liebt, macht sich verletzbar«, sagte Sabine. »Dass man liebt, macht einen zum Liebenden, nicht zum Opfer.«

Sophies Tränen versiegten für einen Moment. Sie blickte Sabine aus nassen Augen an, die Stirn gerunzelt. »Boah«, murmelte sie und schnuffelte. »Das war jetzt aber tiefsinnig. Was hast du noch mal studiert?«

Eine Minute oder zwei saßen sie sich schweigend gegenüber. Sophie, mit verschwollenem, nassem Gesicht und verstopfter Nase, atmete geräuschvoll durch den Mund. Sabine wartete geduldig. Dann sagte Sophie: »Ich bin jetzt gar nicht mehr sicher, dass ich Jens überhaupt jemals geliebt habe.«

»Das kommt dir nur so vor. Du wirst schon etwas für ihn empfunden haben, wenn du fünf Jahre mit ihm zusammen warst.«

»Ich dachte immer, wenn wir lange genug zusammen wären, würden wir irgendwann auch heiraten. Ich würde zur verheirateten Frau, Kinder bekommen, eine Familie haben … Ist das ein unmöglicher Wunsch? Ist das dumm, altmodisch, überholt, aus der Zeit?«

»Mich darfst du das nicht fragen«, sagte Sabine.

Sophie nahm wieder einen tiefen Schluck aus ihrem Glas. »Jens auszuhalten war halt der Preis, den ich meinte, zahlen zu müssen, für Familie und Kinder und alles … Ich bin eine Idiotin.« Sie begann wieder zu weinen.

»Sophie!«, sagte Sabine.

»Jetzt kann ich wieder von vorn anfangen«, sagte Sophie unter Tränen. »Im Sommer werde ich dreißig. Wer weiß, wie lange es dauert, bis ich wieder einen Mann kennenlerne, oder überhaupt … Wer weiß, wie lange es dauert, bis ich sicher sein kann, wenn überhaupt, dass er der Richtige ist, und wie lange es dann noch dauert, bis wir uns über das Kinderkriegen einig sind. Wenn überhaupt … und irgendwann ist es auf einmal zu spät …«

Sabine sah sich rasch um, beugte sich dann zu Sophie vor und sagte mit gesenkter Stimme: »Wenn es ums Kinderkriegen geht, darfst du nicht die Männer fragen. Das entscheiden wir ganz allein. Das war schon immer so.«

»Erst muss ich mal wieder einen kennenlernen. Mein Gott, ich weiß gar nicht mehr, wie das geht …«

»Ach, das verlernt man doch nicht. Außerdem bist du nett und ansehnlich, da musst du gar nicht viel tun, um jemanden kennenzulernen.«

»Meinst du?«

»Aber ja. Männer sind nicht kompliziert. Meistens reicht es schon, sie nicht zurückzuweisen, um einen abzukriegen.«

»Nein, was ich wissen will … meinst du, dass ich ansehnlich bin?«

»Ja, natürlich. Schau doch mal in den Spiegel.«

Sophie leerte ihr Glas. »Ich bin fett und langweilig.«

»Sophie! Nun ist aber gut!«, sagte Sabine streng. »Und du hast jetzt auch genug getrunken.«

»Jens meint, ich sei ungeil.«

Sabine rollte die Augen. »Ach, der! Hör nicht auf den, der hat doch keine Ahnung von geil.«

»Die Frau, mit dem ich ihn erwischt habe, hat gesagt, er wäre ein Schnellspritzer.«

Einen Moment lang starrte Sabine Sophie verständnislos an. Dann prustete sie los. Sie lehnte sich weit zurück, hielt mit beiden Händen ihren Babybauch und lachte, bis ihr die Tränen kamen. Am Ende lachte Sophie mit ihr. Es dauerte einige Zeit, bis sie sich wieder halbwegs beruhigt hatten. Schließlich stemmte sich Sabine schwer atmend aus ihrem Sessel hoch und sagte: »Ich glaube, ich habe mir gerade ein bisschen in die Hose gemacht.«

Halbe-Halbe, einmal und immer

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