Читать книгу Der entgrenzte Mensch und die Grenzen der Erde Band 1 - Kersten Reich - Страница 11
Der wachsende negative Fußabdruck
ОглавлениеDie große Beschleunigung des Weltwandels, die durch die sozio-ökonomischen Trends ausgelöst werden, lassen sich anschaulich mit Steffen et al. (2015, 49) zusammenfassen (siehe Schaubild 3).
Diese Trends, die aus unterschiedlichen Datenbanken zusammengestellt wurden, zeigen sehr anschaulich, wie sich (1) die Bevölkerungsdaten global entwickelt haben, wie (2) das Bruttoinlandsprodukt angewachsen ist, (3) globale ausländische Direktinvestitionen angewachsen sind, (4) die globale Stadtbevölkerung zugenommen hat, (5) wie der weltweite Primärenergieverbrauch anwächst, (6) wie die Düngemittel steigen, (7) die Großstaudämme erweitert werden, (8) der Wasserverbrauch steigt, (9) die Papierproduktion zunimmt, (10) die Anzahl der Kraftfahrzeuge anwächst, (11) Kommunikationsanschlüsse (Internet und Mobilfunk) steigen, (12) im Tourismus die Anzahl der Reisen, gemessen in Ankünften, anwächst.
Dabei sind dies längst nicht alle Daten. Hinzu kommen etwa der wachsende Müll, die Verseuchung der Meere mit Plastik und Verschmutzung des Wassers, das Artensterben. Insgesamt steigen die Werte für die Treibhausgase immer mehr an, stratosphärisches Ozon nimmt zu, die Oberflächentemperatur der Erde steigt, die Versauerung der Meere wächst, der Regenwald schwindet, und viele Ressourcen werden unwiderruflich geplündert (zur großen Beschleunigung siehe etwa Davies 2016, Hamilton 2017).
Durch seine Lebensweise auf der Erde hinterlässt der Mensch einen negativen Fußabdruck, der die biologische Fläche und alle Faktoren der Lebenserhaltung umfasst, auf die jeder Mensch durch seinen Lebensstil und Lebensstandard einwirkt. Neutral mag ein solcher Fußabdruck dann erscheinen, wenn er den gegenwärtigen Standard des Lebens auch zukünftigen Generationen gleichermaßen ermöglichen kann, als negativ ist er zu bezeichnen, wenn er die Menschen in der Zukunft mehr als in der Gegenwart beschränkt, schlechtere Lebensbedingungen für sie erzeugt, ihnen Ressourcen raubt oder Klima, Wasser, Böden, die Artenvielfalt negativ verändert. Diesen Trend hat die Menschheit seit den frühen 1970ern immer mehr verstärkt.
Schaubild 3: Die große Beschleunigung nach Steffen et al. (2015, 49)
Den Kern eines negativen Fußabdrucks macht der ökologische Fußabdruck aus, denn den Konstrukteuren der Theorie des Fußabdrucks lag die Frage zugrunde, welche biologische Kapazität der Erde durch menschliches Handeln beansprucht wird (vgl. Wackernagel & Beyers 2016). In dem Ansatz werden die für einen Menschen durchschnittlich verfügbaren Land- und Wasserflächen als Biokapazität in ein Verhältnis zu dem gesetzt, was er für die Produktion seines Bedarfs nutzt und wo er seine Abfälle hinterlässt. Zu beachten ist, dass so in die Berechnung von Acker- und Weideland sowohl genutzte Meeresflächen für die Fischerei und Binnenwasserflächen als auch Wälder eingehen, nicht jedoch die bereits bebauten Flächen oder Wüsten und Gebirge. Anschaulich ist bei der Berechnung des ökologischen Fußabdrucks eine Umrechnung in globale Hektar, eine Messgröße, die geeignet erscheint, die unterschiedlichen Regionen, in denen die Menschheit lebt, miteinander in einen Vergleich zu setzen. Seit 1994 wird diese Methode eingesetzt, um die biologischen Ressourcen zu bestimmen, die vor allem in den erneuerbaren biologischen Prozessen liegen (zur Methodologie vgl. etwa Borucke et al. 2013, Global Footprint Network 2013).
Nicht erneuerbare Ressourcen wie Öl und der Abbau von Mineralien oder verbautem Sand werden im Verbrauch gebunden und so zukünftigen Kreisläufen entzogen. Erneuerbare biologische Ressourcen können hingegen produktiv genutzt werden und das Überleben der Menschheit auch in Zukunft sichern. Sie gehen insbesondere durch ein kontinuierliches Nachwachsen oder eine biologische Vermehrung in die Kreisläufe immer wieder neu ein. Knappheit an Ressourcen durch umfassenden Abbau und Verschwendung ist ein eigenes umfangreiches Forschungsthema (etwa Jonsson 2019).
Es gibt Berechnungen, die diesen Verbrauch im »Earth Overshoot Day« als ökologischen Fußabdruck beschreiben. Schaubild 4 zeigt, dass die größten negativen Abdrücke einzelner Länder bereits im Februar beginnen. In den Monatsdaten ist dargestellt, wann die einzelnen Länder mehr verbrauchen, als sie regenerieren können; Industrieländer schneiden hier sehr schlecht ab.
Im Jahr 2019 war der Punkt, ab dem mehr verbraucht wurde als nachwachsen konnte, im Durchschnitt nach sieben Monaten erreicht. Die Weltbevölkerung auf der Erde lebt so, als wäre sie 1,75 Mal vorhanden. So verbraucht allein der deutsche Konsum, so wurde berechnet, bereits drei Mal den zustehenden Anteil in einem einzigen Jahr. Da diese Entwicklung exponentiell ist, wird dieser Punkt immer schneller nach vorne verschoben, er wird also immer früher erreicht. Oder anders gesagt, die Menschen haben immer weniger Zeit, diese Entwicklung überhaupt noch umzukehren, ohne die bestehende Wirtschafts- und Lebensweise komplett auf den Kopf zu stellen.
In den Berechnungen zeigt sich, dass die Menschheit seit mehreren Jahrzehnten die Biokapazität des Planeten übernutzt. Die planetaren Grenzen sind insbesondere beim Verlust biologischer Vielfalt (Artensterben), den Stickstoff- und Phosphorkreisläufen als auch im Klimawandel bereits überschritten (zu den jeweils aktuellen Daten vgl. auch Stockholm Resilience Centre 2009, eine Seite, die ständig upgedated wird).
Schaubild 4: Ab wann wird mehr verbraucht als nachwachsen kann? (Earth Overshoot Days Org (2019)).
In der Überschreitung lassen sich viele Phänomene konkret beobachten. So ist etwa die Menge an fossilen Brennstoffen begrenzt, und sie werden in gesteigerter Form immer schneller verbraucht. Die Biosphäre wird auf der anderen Seite mit den ausgestoßenen CO2-Gasen zu einem Treibhaus, das die Klimaerwärmung antreibt, was eine weitere Kette von Ereignissen wie Eisschmelze, Auftauen des Permafrostes, Steigen der Meeresspiegel und extreme Wetter- und Klimaerscheinungen auslöst (siehe Incropera 2016).
Anschaulich wird der negative Fußabdruck, wenn er auf die individuellen Haushalte umgerechnet wird:
Schaubild 5: Treibhausgas-Ausstoß in Deutschland nach Sektoren (nach NDR/Bundesumweltamt, NDR-Reportage vom 28.05.2019)
Jeder Mensch kann heute seinen eigenen Fußabdruck recht genau errechnen (https://uba.co2-rechner.de/de_DE/). Interessant ist auch die Verteilung der Emissionen, wobei die Werte der Energiewirtschaft auf die anderen Bereiche – vor allem die Industrie, aber auch die Privathaushalte – umgerechnet werden müssten (siehe Schaubild 6).
An den Daten wird erkennbar, dass jedes Individuum in seinem Haushalt, durch Konsum und Mobilität, durch Ernährung und Verhalten, immer in die Ketten der Wirkungen auf die Treibhausgase und damit den Klimawandel eingeschlossen ist. Nach Liverani (2009) können die individuellen Haushalte hierbei mit etwa 35 Prozent des Ausstoßes in Verbindung gebracht werden, wovon gut 30 Prozent durch energiesparende Maßnahmen eingespart werden könnten, was die hohe Verantwortlichkeit jedes Einzelnen in der Krise betont. Zwar ist die Industrie eindeutig der Hauptverschmutzer in diesen Kreisläufen, aber sie produziert direkt oder indirekt auch die Konsumgüter für die individuellen Haushalte.
In der Natur gibt es zwar grundsätzlich Möglichkeiten, die Biomasse ständig zu erneuern, wie es die landwirtschaftliche Produktion oder die Tierzucht und Fischvermehrung zeigen, aber die Verfügbarkeit und Reinheit des Wassers, die Bodenfruchtbarkeit durch Überdüngung, die Folgen der Massentierhaltung, die Veränderung des Klimas, die Abholzung der Wälder, die Verdichtung von Flächen und Böden, die Bevölkerungszunahme und andere Faktoren mehr beeinflussen diese Entwicklung derzeit negativ. Dagegen stehen Technologien der Regeneration und einer umweltschonenden Produktion, die aber bisher den negativen Trend noch nicht umkehren konnten. Die einzelnen Indikatoren des Wandels, Belege für Fortschritte oder wachsende Herausforderungen zu finden und den Prozess in seiner Entwicklung zu modellieren, ist ein mühsamer Prozess (vgl. etwa Spangenberg 2019), der deutlich stärker gefördert werden müsste. Und dann bleibt die Frage, inwieweit aus solchen wissenschaftlichen Analysen auch Konsequenzen gezogen werden.
Schaubild 6: CO 2 -Ausstoß eines deutschen Durchschnittsbürgers (nach NDR/Bundesumweltamt, NDR-Reportage vom 28.05.2019)
Eine Schwäche des Fußabdruckansatzes ist es, dass er nicht auf alle biologischen Faktoren wie etwa Wasserverbrauch und Biodiversität passt, weil er flächenbezogen vorgeht. Ebenfalls ist es sehr problematisch, dass eine quantitative oft vor einer qualitativen Berechnung steht. So wird die monokulturelle Landwirtschaft, die Flächen intensiv bearbeitet, flächenmäßig besser gewichtet als die biologische Landwirtschaft, die aufgrund ihrer Qualität einen höheren Flächenverbrauch hat. Vor allem die nicht-biologischen Faktoren wie steigender Müll, das Verschwinden der nicht erneuerbaren Ressourcen, die Zunahme toxischer und langfristig zerstörender Substanzen in Luft, Boden und Gewässern werden ebenfalls nicht hinreichend im ökologischen Fußabdruck erfasst. Sie gehören aber zu einem negativen Fußabdruck, den ich hier aus Einfachheitsgründen als allumfassenden Begriff benutze, um all diese Effekte zu bezeichnen, ohne dass es bisher allerdings eine hinreichende wissenschaftliche Methodik zur umfassenden Berechnung gibt. Allein dies zeigt schon, wie einerseits die Darstellung dieses Phänomens an Grenzen der Komplexität stößt, dass dies aber andererseits bisher auch nicht zu einer hinreichend umfassenden Förderung weltweiter Forschungsanstrengungen und zu einer Vereinheitlichung von Mess-Standards führte. Im Grunde müsste die Wissenschaft umfassend so entwickelt werden, dass realistische Modelle der Erhebung des Ist-Zustands und der Prognose des weiteren Wandels unabhängig von den wirtschaftlichen und politischen Wunschvorstellungen in umfassender Freiheit von Forschung und Lehre erarbeitet werden. Gegenwärtig wird die Freiheit nur begrenzt gewährt, weil die Forschungsgelder fast immer mit wirtschaftlichen Wünschen verbunden sind.
Die Konstrukteure des ökologischen Fußabdrucks geben in ihren Studien solche Schwächen unumwunden zu, aber selbst das vereinfachende Modell zeigt bereits hinlänglich, dass die Menschheit weit über die verfügbare Biokapazität hinaus das Leben in der Zukunft für nachfolgende Generationen in irreversibler Weise begrenzt.
Gegenwärtig steht dabei insbesondere der Klimawandel im Vordergrund vieler Überlegungen. Dies ist durchaus berechtigt, da der Klimawandel viele weitere Faktoren grundsätzlich beeinflusst. Dennoch gibt es eine Reihe von Aspekten, die für den negativen Fußabdruck zusätzlich zu beachten sind und die ich im folgenden kurzen Überblick herausstellen will. Bei allen Aspekten wird sichtbar, dass sie nie isoliert betrachtet werden können, sondern immer in einem Zusammenhang miteinander stehen. Ich gebe hier nur einen Überblick und einige weiterführende Literaturhinweise zur möglichen Vertiefung.