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I.1Eine kleine Geschichte der Nachhaltigkeit

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Über Jahrtausende hatten Menschen wenig Einfluss auf Naturereignisse. Sie waren ihnen ausgeliefert, lösten sie selbst aber nur in geringem Maße durch ihre Handlungen aus. Spuren der Menschheit sehen wir heute noch an vielen Stellen, etwa in Höhlen, wo Menschen ihren Handabdruck als ältestes Symbol einer Anwesenheit hinterlassen haben, der für den Lauf der Welt auf dem Planeten Erde jedoch nicht schädlich war. Je weiter wir bis in die heutige Zeit voranschreiten, desto mehr Hinterlassenschaften, Ruinen und Monumente aus der Vergangenheit sehen wir, aber der eigentliche Angriff auf den Planeten erfolgte erst im Zeitalter der Industrialisierung und der Expansion im Zeitalter von Weltkriegen. Der Gipfel dessen sind bisher die Atombomben, die alles Leben weiträumig vernichten und für lange Zeit schädigen können.

Ein Schaden gegen Lebewesen und den Planeten kann vielerlei äußerliche Ursachen haben, im Folgenden soll aber nur eine selbst gemachte, menschliche Verursachung mit dem Begriff Nachhaltigkeit fokussiert werden. Stellen wir uns vor, wir Menschen wären Heuschrecken. Wir überfallen alle möglichen Nahrungsquellen und fressen alles auf, was uns in den Weg kommt. Wir tun instinkthaft das, was unser Überleben garantiert und uns zugleich in den eigenen Untergang treibt, denn wenn alles aufgefressen ist, dann bleibt auch für uns nichts übrig. Die Natur gleicht solche Schäden in der Evolution so aus, dass die Heuschrecken Fressfeinde haben. Das begrenzt sie. Allein wir sind keine Heuschrecken, der Mensch hat auf der Erde keine Fressfeinde mehr außer sich selbst. Das bedeutet, Menschen müssen über die Nachhaltigkeit ihrer Handlungen nachdenken, wenn sie so zerstörerisch werden, dass sie unzählige Arten auslöschen, das Klima verändern, die Meeresspiegel ansteigen lassen und viele Effekte auslösen, die das Überleben auf dem Planeten auch für Menschen schwierig werden lassen. Denn in ihrer Kurzsichtigkeit entziehen sich die Menschen die eigenen Lebensgrundlagen.

Bereits 1962 hat Rachel Carson mit ihrem Buch Silent Spring eine Umweltbewegung ins Leben gerufen. Sie reagierte darauf, dass der Mensch durch den intensiven Gebrauch von Pestiziden ein Sterben der Vögel und anderer Lebewesen einleitete, das programmatisch für die Rücksichtslosigkeit des Umgangs mit der Natur erschien. Seither haben sich die Bedingungen immer weiter verschärft, der Weckruf hat die Menschheit nur bedingt erreicht. Bisher hat es unabhängig vom Menschen schon fünf Zeitalter der Auslöschung, der Vernichtung und des Aussterbens auf der Erde gegeben; das heute vor uns liegende sechste Szenario des Aussterbens ist erstmals menschengemacht. Wir sprechen heute deshalb von einem Zeitalter, das durch seinen Namen an den Menschen geknüpft ist: das Anthropozän (Crutzen 2002). Damit will die wissenschaftliche Forschung eine neue geochronologische Epoche erfassen, in der Menschen zum wichtigsten Einflussfaktor auf die geologischen, biologischen und atmosphärischen Prozesse auf der Erde geworden sind. Das Artensterben, das damit einhergeht, wird deshalb auch als sechste Auslöschung oder Ausrottung (extinction) charakterisiert.

Kolbert (2015) hat dies für einzelne Arten anschaulich dargestellt, um uns mit der Dimension und Dramatik des Ereignisses zu konfrontieren. Die fünf Auslöschungen, die der heutigen in den vergangenen 600 Millionen Jahren vorausgingen, betrafen beispielsweise vor etwa 65 Millionen Jahren die Dinosaurier. Aber nach allen bisherigen Auslöschungen, die durchaus bis zu etwa 75 Prozent aller Arten betroffen hatten, setzte die Evolution sich fort und gab neuen Arten eine Chance. Allerdings sind die Zeiträume, die eine solche Erneuerung benötigt, aus menschlicher Sicht unendlich lang, und sie kann nur gelingen, wenn die Umwelt sich schnell erholt. Das klimatische und ökologische Fenster, das Leben auf der Erde ermöglicht, hat besondere Bedingungen: eine zum Überleben günstige Temperatur, hinreichend Wasser und Verdunstungs-Regen-Kreisläufe, große Meere, eine günstige Atmosphäre mit Sauerstoff und viele andere förderliche Lebensbedingungen mehr. Solche günstigen Lebensvoraussetzungen sind selbst im Weltall wohl äußerst selten, zumindest soweit Menschen dies erfassen können.

Verschiedene Expertengremien4 gehen davon aus, dass das sechste Massenaussterben in der Geschichte des Lebens bereits begonnen hat. Nach Paul Crutzen (2002) zeichnet sich das Anthropozän durch folgende Eigenschaften aus (vgl. auch Kolbert 2015, 108):

Mehr als alles andere haben Menschen einen Treibhauseffekt durch die Nutzung fossiler Energien ausgelöst, der einen Klimawandel mit offenem Ende auslöst,

zwischen einem Drittel und der Hälfte der Erdoberfläche sind durch Menschen umgestaltet und genutzt worden,

viele nicht regenerierbare Rohstoffe werden ausgebeutet und stehen in Zukunft nicht mehr zur Verfügung,

die meisten der Flüsse der Erde sind gestaut oder umgeleitet worden,

Düngemittelpflanzen produzieren mehr Stickstoff, als es natürlich durch das Ökosystem auf der Erde aufgefangen werden kann,

die Fischerei entnimmt mehr als ein Drittel der Primärproduktion in den Küstengewässern,

Menschen nutzen mehr als die Hälfte des Frischwassers für ihre Bedürfnisse und entziehen es ökologischen Kreisläufen.

All dies beschränkt neben vielen weiteren Faktoren, die weiter unten genannt werden, den Lebensraum und die Überlebenschancen vieler Arten. Im Mai 2019 wurde der globale Bericht des Weltbiodiversitätsrats der UN-Organisation IPBES (Intergovernmental Platform on Biodiversity and Ecosystem Services) veröffentlicht.5 Aus dieser Studie geht hervor, dass gegenwärtig mehr als eine Million Tier- und Pflanzenarten gefährdet und vom Aussterben bedroht sind. Während es sich bei den anderen fünf Massenauslöschungen aller Wahrscheinlichkeit nach um vulkanische Katastrophen und Einschläge von kosmischen Körpern gehandelt hat, die ursächlich das Klima und die Umweltbedingungen so rasch veränderten, dass sich die Pflanzen- und Tierwelt nicht schnell genug anpassen konnten, gilt für das aktuell einsetzende sechste Szenario des Aussterbens der Mensch als allein verantwortlich. Der IPBES-Bericht fasst die entscheidenden Gründe für das aktuelle Aussterben zusammen. Die hier genannten Gründe beschreiben Auswirkungen in der Reihenfolge des bereits erreichten und der Größe des Ausmaßes:

Verlust von Lebensraum; der Mensch hat zunehmend alle Flächen der Erde besiedelt und besetzt,

Veränderungen in der Landnutzung; die Agrarindustrie führt zu Monokulturen und vernichtet die Vielfalt nicht nur der freien Natur, sondern auch der landwirtschaftlichen Nutzung,

Jagd und Wilderei; das Artensterben wird durch menschliche Interessen beschleunigt,

Klimawandel; insbesondere die Treibhausgase führen zur Erderwärmung mit zahlreichen Folgen für das Klima und Artensterben, es ist zu befürchten, dass der Klimawandel recht bald zu einem dominanten Aspekt für den beschleunigten Prozess des Aussterbens werden wird,

Umweltgifte sowie das Auftreten von gebietsfremden und invasiven Arten (Neobiota); das menschliche Eingreifen zerstört einerseits die Vielfalt der Arten und fördert andererseits die Wanderung bestimmter Arten mit negativen Effekten für den bisherigen Stand der Evolution.

Die Tendenz der sechsten, der menschengemachten Auslöschung ist eindeutig: Die Biodiversität, also die Vielfalt der Arten auf der Erde, wird ebenso wie die Vielfalt der Ökosysteme durch den Menschen so massiv beeinträchtigt, dass eine Million Arten bedroht sind und schätzungsweise jeden Tag 70 bis 200 Arten verschwinden (vgl. IPBES 2019). Dies ist selbst angesichts der Vielzahl an Arten – geschätzt sind ca. 2 Millionen entdeckt (Biozahl 2006, 131 f.) – sehr hoch, dabei steht das Artensterben erst am Anfang und nimmt an Geschwindigkeit zu. Hier ist auch der Mensch selbst in seiner Ernährung betroffen, weil die Arten- und Genverluste auch die Vielfalt von angebauten Pflanzen und die ökologische Balance, die sich über lange Zeiträume der Evolution herausgebildet hat, grundsätzlich gefährden (vgl. auch Lovejoy & Hannah 2019).

Wie lange weiß die Menschheit schon von dieser Gefährdung? Besonders auf dem Feld der Ökonomie, hier in Verbindung mit Fragen eines sozialen Wandels hin zu maschinell und später industriell produzierenden Gesellschaften, wurden Fragen der Nachhaltigkeit bereits seit dem 18. Jahrhundert thematisiert. In der politischen Ökonomie bei Adam Smith, John Stuart Mill, David Ricardo und Thomas Robert Malthus wurde angesichts der ersten Auswirkungen der Industriellen Revolution problematisiert, inwieweit es Grenzen des ökonomischen und demographischen Wachstums gibt. Dabei standen Fragen der Wechselbeziehungen zwischen Wohlstandsentwicklung, sozialer Gerechtigkeit und den Gefahren einer Überbevölkerung im Fokus der Analysen. Da sich die damaligen Thesen eines Untergangs der Gesellschaften durch Überbevölkerung aber nicht bewahrheiteten und der Agrarsektor durch verbesserte Methoden deutlich mehr produzieren konnte als zunächst gedacht, trat eine lange Phase des Vergessens nachhaltiger Problemlagen ein. Es dominiert seither mit der stetig wachsenden Ausbreitung des Kapitalismus ein Fortschrittsglaube, der sich über lange Zeiträume in tatsächlichen Zuwächsen im Wohlstand für die meisten Menschen bewahrheitet. Dieser Wohlstand ist aber sowohl innerhalb der Nationen unterschiedlich verteilt, was stets die Frage nach sozialer Gerechtigkeit aufwirft, als auch zwischen den Nationen sehr unterschiedlich entwickelt, was den reicheren Ländern durch Kolonialisierung und Ausbeutung deutliche Gewinne und den armen Ländern schlechte Ausgangslagen einbrachte, die bis heute fortwirken. Die Idee des Fortschritts aber vermag es, als umfassende Ideologie der Herausbildung der Wohlstands- und Überflussgesellschaften sowohl die Fragen einer grundsätzlichen Erneuerung des Kapitalismus in Richtung von mehr sozialer Gerechtigkeit als auch ein Umdenken im Blick auf die Natur und Umwelt zu verdrängen.

In der gegenwärtigen Ausgangslage herrschen drei Wohlstandsstrategien vor:

Erstens benötigt die Wirtschaft freie Märkte, sie kümmert sich um Gewinnsteigerungen, Ausbreitung der Gewinnchancen und verbreitet die Illusion, dass auch die Armen etwas vom Reichtum der Gewinner abbekommen (trickle down effects). Die Natur sieht sie vorrangig als einen Bereich, der zur Verfügung steht und den man bewirtschaften kann, aber nicht sonderlich schützen muss.

Zweitens wird erwartet, dass wissenschaftlich-technologische Strategien immer weiteren Wohlstand und Sicherheit der Menschen garantieren. Es hat sich die selbstverständlich scheinende Ansicht herausgebildet, dass der Fortschritt auch relativ unabhängig von der ökonomischen oder ökologischen Sphäre durch Innovation, Wissenschaft und die Intelligenz des Menschen vorangetrieben werden kann. Die Natur wird vorrangig als ein Bereich erforscht, der den Menschen nützlich sein kann.

Drittens wird es als eine Aufgabe der Politik gesehen, diese beiden Wohlstandswirkkräfte miteinander zu koordinieren, auszubalancieren und zu stimulieren. Natur oder Umwelt kommen dabei erst dann in den Blick, wenn die Zeichen einer Krise nicht mehr zu übersehen sind.

Der Begriff der Nachhaltigkeit, zuerst von Carl von Carlowitz Anfang des 18. Jahrhunderts geprägt, um zu verdeutlichen, dass in der Forstwirtschaft nicht mehr Bäume abgeholzt werden sollten als nachwachsen, hat heute eine globale Dimension gewonnen. Erst mit der Veröffentlichung der berühmten Studie des Club of Rome 1972 rückte Nachhaltigkeit im heutigen Sinne in das Blickfeld der breiten Öffentlichkeit, obgleich es schon vorher hinreichend Signale für die Auswirkungen der gesellschaftlichen und vor allem ökonomischen Entwicklungen in Bezug auf die Biosphäre gab. Zu nennen wären nur die Atombomben und Atombombenversuche, Ölschäden durch Tankerunglücke, Boden- und Klimaschäden durch Urwaldabholzungen, der Einsatz von Pestiziden, der starke Verbrauch von Ressourcen, die zukünftigen Generationen nicht mehr zur Verfügung stehen werden, und viele andere mehr.

Nachhaltigkeit meint seither insgesamt den Umstand, dass in einer Welt des zunehmenden Konsums bei enorm gestiegener Weltbevölkerung – für viele eine Welt des Wachstums mit steigendem Wohlstand, Zunahme der Konsumgüter und eines Überflusses –, eine Balance gefunden werden muss zwischen allen Entwicklungen, die Menschen anstoßen und betreiben, und den Wirkungen, die diese auf die Umwelt und für die Zukunft haben.

Es ist ein unerfüllter Wunschtraum geblieben, dass alle menschlichen Handlungen in Harmonie oder jedenfalls in Beachtung von schädlichen Folgen zwischen Umwelt, Natur, anderen Lebewesen und den menschlichen Bedürfnissen und Wünschen auf eine lebenswerte Zukunft stehen. Als Kriterium gäbe es hier die Annahme, dass Nachhaltigkeit daran bemessen werden kann, inwieweit die globalen Bedürfnisse der Gegenwart es auch zukünftigen Generationen noch erlauben werden, ihre eigenen Bedürfnisse nach hohen qualitativen und sozialen Maßstäben leben zu können.6 Oder auf den Punkt gebracht: Ermöglichen wir zukünftigen Generationen ein Leben, das auch unseren Maßstäben von Lebensqualität genügen würde, oder hinterlassen wir ihnen eine geschädigte, schwierige, so eingeschränkt bewohnbare Welt, dass sie uns dafür verachten und hassen müssen?

Nachhaltigkeit ist vor diesem Hintergrund keineswegs nur eine Frage der Abkehr von fossilen Brennstoffen, so wichtig die CO2-Problematik zur Begrenzung des Klimawandels in der Gegenwart auch ist. Heute geht es um sehr viele Bereiche und Felder der Nachhaltigkeit, die alle eine eigene Dynamik entfalten. Die Idee der Nachhaltigkeit ist ein Konstrukt, das zwar einer Sorge um die Natur, Ökologie und Umwelt gilt,7 in dem aber die Sorge um die Menschheit, auch die Fürsorge um die Zukunft der Menschheit, im Zentrum steht. Wenn die Menschheit sich verpflichtet, für Nachhaltigkeit einzutreten – für die Umsetzung gibt es Empfehlungen der UN (Vereinten Nationen)8 – dann wird ein normatives Gebot erzeugt, dem sich alle verpflichten müssten: »Handle stets so, dass die Folgen deines Handelns nicht zum Schaden der Menschheit und der Umwelt in der Zukunft sind.« Allerdings müssten solche Empfehlungen, selbst dann, wenn sie eine Zustimmung durch Regierungen in der UN erfahren, immer auch in lokales Recht und konkrete Anwendungen übersetzt werden, um nachprüfbare Wirkungen zu erzielen.

Angesichts der weltpolitischen Lage, in der Länder wie die USA aus dem Klimaabkommen aus vorrangig wirtschaftlichen Interessen ausgetreten sind, erscheint es als sehr schwierig, die ohnehin eher formalen Bekenntnisse der UN in die Tat umzusetzen und tatsächlich mit Konsequenz umfassend zu verfolgen. Selbst ein Land wie Australien, das durch große Flächenbrände verwüstet wurde – das also unter den Klimafolgen bereits jetzt stark leidet –, tut sich 2020 immer noch schwer, die Kohleproduktion zu beschränken und nachhaltiger zu wirtschaften. Nachhaltigkeit besteht bisher nur aus Empfehlungen, die gedeutet, ausgelegt, verwässert, dann auch missdeutet und verfehlt werden können. Alle Klimakonferenzen dienen bisher eher der Beruhigung, die medial umfassend besprochen und verbreitet wird, sie sollen zeigen, dass die Politik sich bewegt und etwas tut, währenddessen beispielsweise der CO2-Ausstoß Jahr für Jahr weiter anwächst und alle gesetzten Klimaziele weit unterboten werden. Der Klimawandel ist ein verzwicktes Problem voller Widersprüche, wie beispielsweise Incropera (2016) umfassend herausarbeitet.

Wenn der Begriff der Nachhaltigkeit als Ausdruck einer ersten Sorge um die Natur und Umwelt entstanden ist, so zeigte sich recht schnell, dass der Mensch nicht nur mit Verpflichtungen das Problem angehen konnte. Dies liegt daran, dass der Mensch sich durch seine eigene Lebensweise Bedingungen geschaffen hat, die es ihm nicht einfach möglich machen, sich vorbehaltlos für Nachhaltigkeit zu entscheiden. Der Mensch als Teil der Natur steht so aus dieser Natur heraus, dass er zu einer Bedrohung der bisherigen Entwicklungsgrundlagen auf der Erde geworden ist. Nun könnte man spitzfindig argumentieren, dass der Mensch als Teil der Natur eben auch die Natur in neuen Formen hervorbringt: Worin also soll das Problem liegen?

Meines Erachtens liegt es darin, dass sich der Mensch als Naturwesen deshalb gegen die Natur stellen kann, weil er zugleich ein von der Natur zunehmend entkoppeltes Kulturwesen geworden ist. Die menschliche Plünderung der Ressourcen und Beeinflussung der Biosphäre bewirken so extensiv und intensiv die Verringerung der Artenvielfalt, die Vernichtung der ursprünglichen Vielfalt von Flora und Fauna, die Klimaerwärmung, die Degradierung der Böden durch Versiegelung und Bebauung sowie die Vermüllung (Verschmutzung, Vergiftung, Überflutung) durch Produktions- und Konsumabfälle, dass der Mensch zum bestimmenden Faktor eines Wandels der Welt mit negativen Folgen für alle natürlichen Lebensgrundlagen – auch seiner eigenen – wird (einführend etwa Davies 2016, Hamilton 2010, 2017, WWF 2016).

Um sich den Gründen für diese Entwicklungen anzunähern, ist es sinnvoll, sich die Unterscheidung zwischen den Begriffen Nachhaltigkeit (sustainability) und nachhaltige Entwicklung (sustainable development) klarzumachen. Viele Menschen wollen beide miteinander verbinden, um ihre bisherige Lebensweise nicht gänzlich infrage stellen zu müssen9:

Einerseits ist Nachhaltigkeit nur mit radikalen Verhaltensänderungen zu erreichen. Die Umwelt müsste unabhängig von den menschlichen Bedürfnissen und Wohlstandserwartungen so geschützt werden, dass ein Einhalten des 1,5-Grad-Ziels und vieler anderer Begrenzungen mehr gewährleistet werden, um das langfristige Leben auf der Erde nicht zu gefährden. Aber solche Ziele erscheinen immer stark auslegbar und schwer greifbar, weil die Veränderungen langsam einsetzen und oft erst nach Erreichen der Gradgrenzen spürbar werden. Ob ein oder zwei Grad sinnvoller für das Aufhalten schädlicher Umweltwirkungen sind, das zeigt erst die Zukunft. Zudem ist gegenwärtig nicht erkennbar, wie diese Ziele überhaupt erreicht werden sollen. Zu den bereits erwähnten gibt es viele weitere nachhaltige Ziele, die gegenwärtig ebenfalls verfehlt werden; ich werde weiter unten noch näher darauf eingehen.

Andererseits gibt es den Wunsch nach einer nachhaltigen Entwicklung: So unterstellen nationale und internationale Gremien als Vertretungen der Menschheit, eine Mehrheit wolle, dass der erreichte Wohlstand und das bisherige Leben im Überfluss dadurch weitergelebt und fortgeschrieben würden, dass der wissenschaftlich-technische Fortschritt die Lücke zwischen notwendiger Begrenzung und steigendem Wohlstand schließt. Die Erwartung, dass dies gelingen kann und muss, ist übergroß, der Zweifel an diesen Anspruch ist verhältnismäßig gering. Insbesondere die Politik der reichen Länder scheut hier jeglichen Zweifel, weil er die Wirtschaft schwächen und direkt Wählerstimmen für alle Parteien kosten könnte. »Die Diskrepanz zwischen dem Wissen über die ökologische Krise und der Effektivität ihrer politischen Bearbeitung wächst. Institutionen internationaler Umweltpolitik stecken gerade in Zeiten der Verschärfung ökologischer Probleme in einer Legitimationsund Funktionskrise.« (Brand & Wissen 2011, 12)

Der Entwicklungsgedanke ist von der zentralen Annahme geleitet, dass es entweder durch Wirtschaftsinteressen zu einer wissenschaftlich-technologischen Lösung der Umweltfragen oder in einer »grünen Ökonomie« (UNEP 2011) zu einem Ausgleich in sozialer und ökologischer Hinsicht kommen kann. Von sozialer Seite her gesehen, die auch einen Teil von Nachhaltigkeit darstellt, ist es überaus deutlich, dass neben der steigenden ökologischen Problematik eine wachsende Armutskluft zwischen Nord und Süd und selbst innerhalb der einzelnen Nationen vorhanden ist, die die menschliche Zukunft als soziale Lebensform in einer Schieflage zeigen.

Aber diese Doppeldeutung von Entwicklung wird in der herrschenden Ökonomie ganz anders rekonstruiert. Die Wirtschaft mit ihrem Gewinnstreben bei zugleich ungerechter Verteilung hat bisher in den kapitalistischen Strategien immer Vorrang, weil – so die Drohung – ohne sie ohnehin alles zusammenbrechen würde, was Wohlstand und Überfluss auch für die Massen bedeutet. Mit der Steigerung des Wohlstands sollen die Menschen auch bereit sein, ihre soziale Lage zu akzeptieren und wesentliche Kosten für die Ökologie mitzutragen.

Dagegen stehen die weltweiten Armuts- und Reichtumsberichte, die im Gegenteil zeigen, wie ungleich und ungerecht der Reichtum der Welt verteilt ist. Zudem hat die Umweltforschung nachgewiesen, dass die Reichen in der Welt deutlich mehr zur Schädigung beitragen als die Armen (Oxfam 2020): Von 1990 bis 2015 haben die reichsten 10 Prozent der Weltbevölkerung mehr als doppelt so viele klimaschädliche Kohlendioxid-Emissionen in die Luft geblasen wie die ärmere Hälfte der Menschheit zusammen. Ein Prozent der Reichen steht für 15 Prozent der Treibhausgase, die ärmere Hälfte der Menschheit gerade einmal für 7 Prozent. Hinzu kommt, dass die Reichen mit ihren SUVs und Flugreisen immer stärker auch ein Vorbild für die Schichten unter ihnen geworden sind.

Nun ist die Frage, welche Handlungen aus diesen Erkenntnissen folgen. Die systemrelevante Ökonomie nimmt die Forderungen der Nachhaltigkeitsagenda solange gelassen hin, wie die ökonomische Entwicklung im Vordergrund der Agenda steht. Einige fordern sofortige Handlungen, um die Wirtschaft ökologischer auszurichten (etwa Stern 2006, 2016). Und was für die soziale Frage schon lange gilt, das verschärft sich für die Ökologie noch, denn die Kosten sollen möglichst alle tragen, die Gewinne möglichst wenige machen. Vor diesem Hintergrund wird Entwicklung zu einer Art Mythos, der die gegensätzlichen Kräfte der sozialen Gerechtigkeit und der wachsenden Ökonomie mit Gewinnstreben scheinbar gut vereinen kann.

Und die Politik? Weder massenwirksame Beschreibungen wie der Film An Inconvenient Truth von Al Gore noch die ständigen Sachstandsberichte des Intergovernmental Panel on Climate Change (Weltklimarat, mittlerweile bis 2022 in der sechsten Berichterstattungsphase) oder zahlreiche Forschungsergebnisse, Sachbücher und Medienberichte oder Demonstrationen wie die Fridays for Future haben, obwohl die Einsicht in die Gefahr insbesondere der fossilen Brennstoffe für den Klimawandel gewachsen ist, dazu geführt, dass tatsächlich radikal umgesteuert wird. Es »weisen immer mehr Studien darauf hin, dass es zwar ein zunehmendes Wissen über die vielfältigen lokalen, regionalen und globalen Dimensionen der ökologischen Krise in den unterschiedlichsten Feldern wie Klimawandel, Erosion der biologischen Vielfalt oder Wasserknappheit gibt. Gleichwohl führen diese Einsichten kaum zu weit reichenden Politiken und schon gar nicht zu deren Implementierung« (Brand & Wissen 2011, 13).

Nachhaltigkeit ist ein Grenzbegriff, der stets zur Diskussion stellt, ob die Folge einer Handlung für das spätere Leben nachhaltig ist oder nicht (historisch vgl. Caradonna 2014). Es wird hier immer öffentlich, politisch, in Lobbygruppen, durch Protest und Widerstand, in sozialen Gruppen wie von einzelnen Menschen bestimmt, inwieweit Nachhaltigkeit der Erhalt eines bestehenden und für »gut« gehaltenen Zustandes sein soll oder ob eine verträgliche Weiterentwicklung im bisherigen Lebensstandard möglich erscheint. Hierbei richten sich die subjektiven Meinungen und Beurteilungen sehr stark nach selektiven Interessenlagen, menschlichen Wünschen auf Selbstverwirklichung und unzähligen Konsumwünschen.

Die eingenommenen Standpunkte sind sehr unterschiedlich: Es gibt die naturwissenschaftliche Sicht, etwa zu den Zuständen des Klimas, des Wassers, der Ressourcen usw. Einen weiteren Zugang bilden soziale, ökonomische und politische Studien, die das Verhältnis von Nachhaltigkeit zur menschlichen Wirtschafts- und Lebensweise vielfältig diskutieren. Eine besondere Rolle spielen außerdem philosophische, kulturbezogene bis hin zu ethischen Überlegungen, die meist einen großen Deutungsrahmen im Kontext der Kulturgeschichte aufbauen. Politisch-ökonomische Diskurse verbinden die ökologische Kritik mit einer Kapitalismuskritik. Der öffentliche Diskurs in den Medien und Regierungserklärungen wird insbesondere durch die UN und ihre Unterorganisationen wie auch einige führende Nichtregierungsorganisationen bestimmt. Hieraus hat sich ein Feld der politischen Ökologie entwickelt, in dem sich unterschiedliche Interessengruppen sammeln (vgl. etwa Peet et al. 2011, Perreault et al. 2015, Bryant 2015, Swyngedouw & Wilson 2014).

Insgesamt beschleunigt sich durch die Vielzahl der Ansätze in wissenschaftlichen Fachpublikationen und Fachgesellschaften – insbesondere in den Naturwissenschaften – eine wissenschaftliche Beurteilung, die zu einer Versachlichung beitragen kann, weil sie etwa nachweisbare Veränderungen und Kipp-Punkte bestimmt, die all die Subjektivierungen der politischen Interessengruppen objektivieren helfen. Ob dies dann wiederum dazu führen kann, die Menschen – und hier vor allem die Politik – eines Besseren zu belehren, das ist allerdings eine ganz andere Frage. Hieran bestehen deshalb große Zweifel, weil eine Wirkung der schon bestehenden wissenschaftlichen Datenlage bisher in ausreichender Weise ausgeblieben ist. Es stellt sich so die Frage, ob dies überhaupt durch Argumente gelingen kann oder ob erst größere Katastrophen oder Kipp-Punkte einsetzen müssen, um die Mehrheit der Menschen zu einer Berücksichtigung der Grenzen des Wachstums und zu nachhaltigem Handeln zu bringen.

Wenn diese Kipp-Punkte aber tatsächlich einsetzen, wird es für eine effektive Umsteuerung zu spät sein, wird der Zeitpunkt für notwendige Maßnahmen verpasst sein. Was die Lage erschwert, ist der Umstand, dass es sich als schwierig erwiesen hat, in komplexen Fragen mit sehr vielen Variablen, deren Lösungen immer nur in Aussagen über Wahrscheinlichkeiten liegen kann, genaue Zeitangaben mit exakten Prognosen zu machen (vgl. etwa Detten et al. 2013). Insbesondere Klimaleugner ziehen hieraus einen Profit, aber auch Fortschrittsanhängerinnen mutmaßen, dass es genügend »Fakten« für eine zwar nicht heile, aber sichere und lebenswerte Gegenwart gebe, die allein durch Fortschritt gerettet werden könne (Norberg 2016). Daraus wird dann gern geschlossen, dass alles besser sei, als wir bisher annehmen (Rosling et al. 2018), oder dass die westliche Vernunft mit ihrer Aufklärungsidee uns die Hoffnung gebe, es immer schaffen zu können (Pinker 2018).

Nachhaltige Entwicklung ist im Gegensatz zur Nachhaltigkeit als Konzept und Konstrukt stark vom Feld der Ökonomie bestimmt, die Entwicklung (auch der genutzten Natur) und Wachstum (insbesondere der Wirtschaft und des Profits) stets als Einheit denkt. Wenn im Sinne der global goals der UN von nachhaltiger Entwicklung gesprochen wird, muss deshalb gefragt werden, was denn genau entwickelt werden soll.10 Sind es die Grenzen des Wachstums, die eingehalten werden sollen, oder die Fortschritte des Wachstums, die helfen sollen, dass die Veränderungen nicht ganz so schädlich wie bisher ausfallen? Wie schädlich dürfen die Wirkungen sein, wie groß das Überschreiten der Grenzen? In welche neuen Kampfzonen wird der Schaden verschoben, damit der Wohlstand wächst und neue profitable Technologien entstehen?

Die UN hat 17 globale Ziele, die global goals, entwickelt, die alle für sich genommen wünschenswerte Ziele der menschlichen Entwicklung innerhalb der Grenzen des Planeten darstellen. Die 17 global goals lauten (vgl. United Nations 2016):

1.Armut beenden – Armut in all ihren Formen und überall beenden.

2.Ernährung sichern – den Hunger beenden, Ernährungssicherheit und eine bessere Ernährung erreichen und eine nachhaltige Landwirtschaft fördern.

3.Gesundes Leben für alle – ein gesundes Leben für alle Menschen jeden Alters gewährleisten und ihr Wohlergehen fördern.

4.Bildung für alle – inklusive, gerechte und hochwertige Bildung gewährleisten und Möglichkeiten des lebenslangen Lernens für alle fördern.

5.Gleichstellung der Geschlechter – Geschlechtergleichstellung erreichen und alle Frauen und Mädchen zur Selbstbestimmung befähigen.

6.Wasser und Sanitärversorgung für alle – Verfügbarkeit und nachhaltige Bewirtschaftung von Wasser und Sanitärversorgung für alle gewährleisten.

7.Nachhaltige und moderne Energie für alle – Zugang zu bezahlbarer, verlässlicher, nachhaltiger und zeitgemäßer Energie für alle sichern.

8.Nachhaltiges Wirtschaftswachstum und menschenwürdige Arbeit für alle – dauerhaftes, breitenwirksames und nachhaltiges Wirtschaftswachstum, produktive Vollbeschäftigung und menschenwürdige Arbeit für alle fördern.

9.Widerstandsfähige Infrastruktur und nachhaltige Industrialisierung – eine widerstandsfähige Infrastruktur aufbauen, breitenwirksame und nachhaltige Industrialisierung fördern und Innovationen unterstützen.

10.Ungleichheit verringern – Ungleichheit in und zwischen Ländern verringern.

11.Nachhaltige Städte und Siedlungen – Städte und Siedlungen inklusiv, sicher, widerstandsfähig und nachhaltig gestalten.

12.Nachhaltige Konsum- und Produktionsweisen – nachhaltige Konsum- und Produktionsmuster sicherstellen.

13.Sofortmaßnahmen ergreifen, um den Klimawandel und seine Auswirkungen zu bekämpfen.

14.Nachhaltige Nutzung der Ozeane, Meere und Meeresressourcen – Bewahrung und Schutz, nachhaltige Bewirtschaftung und Sicherung der Vielfalt des Lebens.

15.Landökosysteme schützen, um sie wiederherzustellen und ihre nachhaltige Nutzung zu fördern, Wälder nachhaltig bewirtschaften, Wüstenbildung bekämpfen, Bodendegradation beenden und umkehren und dem Verlust der biologischen Vielfalt ein Ende setzen.

16.Frieden, Gerechtigkeit und starke Institutionen – friedliche und inklusive Gesellschaften für eine nachhaltige Entwicklung fördern, allen Menschen Zugang zum Recht ermöglichen und leistungsfähige, rechenschaftspflichtige und inklusive Institutionen auf allen Ebenen aufbauen.

17.Umsetzungsmittel und globale Partnerschaft stärken – Umsetzungsmittel stärken und die globale Partnerschaft für nachhaltige Entwicklung mit neuem Leben füllen.

Sind diese globalen Ziele nun tatsächlich Ziele oder sind es politische Wünsche? Und wie steht es um ihren inneren Zusammenhang mit der Nachhaltigkeit? Die 17 global goals mögen für sich genommen alle wünschenswert sein, aber im inneren Zusammenhang werfen sie sehr kritische Fragen auf. Sie weichen der ökologischen Fragestellung immer dort aus, wo die soziale Lösung vorrangig ist, aber in ihren ökologischen Folgen nicht weiter thematisiert wird. Was würde es ökologisch bedeuten, wenn wir die Armut bis 2030 abschafften? Welcher Konsum, welche Schäden durch Massen von Menschen würden entstehen, wenn die ehemals Armen auch so leben wollten wie diejenigen, die die großen ökologischen Schäden angerichtet haben? Werden diese Fragen von denjenigen gestellt, die jetzt schon in reichen Ländern leben, müssen sie zynisch wirken. Denn wer kann denen eine Teilhabe verwehren, deren Konsumfreiheiten erst jetzt beginnen – die endlich auch kaufen, reisen, im Überfluss leben wollen? Viele der 17 globalen Ziele setzen auf einen Entwicklungsfortschritt, der ökonomisch hoffnungsfroh und sozial wünschenswert ist, aber ökologisch nicht in den Wechselwirkungen durchdacht wird.

Die gewünschte Transformation ist komplexer, als es sich in globalen Zielen ohne Wechselwirkung darstellen lässt. Chabay (2020, 153) nennt drei Gründe, die nachhaltige Entwicklungsziele (sustainable development goals – SDGs) schwierig machen:

Erstens repräsentieren die SDGs ein Bündel kritischer Fragen und Probleme, die hochgradig miteinander verbunden und voneinander abhängig sind. Sie lassen sich nur aus Veranschaulichungsgründen in einzelnen Segmenten darstellen, sind in der Praxis aber nur ganzheitlich und mit systemischen Modellen zu erfassen. Ihre Auflösung benötigt ein ganzheitliches Vorgehen und Verständnis.

Zweitens unterstellen die Ziele immer schon, dass die sozio-ökonomische Realität des gegenwärtigen Kapitalismus die einzige Grundlage für eine Lösung darstellt, ohne hinreichend zu diskutieren, an welchen Stellen dies selbstwidersprüchlich wird und wo und wie dabei gegengesteuert werden könnte. Hier zeigt sich der Kompromisscharakter der UN-Strategie und der Durchsetzungscharakter ökonomisch starker Länder.

Drittens bleibt die politische Struktur der Unterzeichnerländer der Ziele außen vor. Zwischen diesen politischen Regierungen – zwischen Demokratien und autoritären Regimen – muss es aber zwangsläufig zu Widersprüchen zwischen nationalen und globalen Zielstellungen, Zugehörigkeiten in Besitzverhältnissen und Wohlstandserwartungen und Verpflichtungen gegenüber dem Planeten und seinen Grenzen kommen. Die Frage danach, wie eine nachhaltige Politik gelingen kann, erscheint als eine Grundfrage, die in der Umsetzung der SDGs als Spannungsverhältnis zwischen schönen Zielen und wünschenswerten Erzählungen im nationalen Kontext und tatsächlichen Taten und deren Wirkungen für Verzicht und Veränderungen erfahren wird.

Vor diesem Hintergrund scheint es mir sinnvoll, von einem Lernen für Nachhaltigkeit (learning for sustainability – LFS) zu sprechen, um zweierlei auszudrücken: Einerseits sind alle Menschen als lernende Wesen in allen Altersgruppen betroffen, so ist es nicht allein Aufgabe der Erziehung, für Nachhaltigkeit zu sorgen (Jucker 2014, 2). Andererseits wird der Entwicklungsgedanke, der immer mit kapitalistischem Wachstum verbunden ist, nicht schon in die Definition der Nachhaltigkeit eingeschlossen, weil wir offener auf das Problem schauen müssen (Strachan 2012, 6).

Eine sozial-ökologische Transformation, die mit einer nachhaltigen Entwicklung intendiert wird, ist deshalb so anspruchsvoll, weil schon die jeweiligen Ausgangsbedingungen unterschiedlich sind. Menschen sind in den historisch gewachsenen sozialen Strukturen stark von der natürlichen Welt abhängig, in der sie leben. Ihre Beziehung zur jeweiligen Umwelt bestimmt über den gesellschaftlichen Entwicklungsprozess die Einstellungen, Haltungen und Erwartungen, sie treibt an, was in einer Gesellschaft und Kultur für wertvoll, relevant und unverzichtbar angesehen wird. Bereits von dieser Ausgangslage her reagieren die Menschen sehr unterschiedlich auf den notwendigen Transformationsprozess angesichts der planetaren Grenzen.

Diese Grenzen werden dabei immer wieder in den Dimensionen der Ökologie, der Ökonomie und des Sozialen als circles of sustainability dargestellt. Das Drei-Kreis- oder Säulen-Modell wird auch in der Bildung für Nachhaltige Entwicklung in der Öffentlichkeit und den Schulen verwendet. Zwei Positionen – Fortschritt durch ökonomisches Wachstum und wissenschaftlich-technologischen Fortschritt – werden dabei unter der Hauptkategorie Entwicklung vereint. Vielfach wird in den Diskussionen seither vergessen, dass es sich um ein politisches Konstrukt handelt, das in Kompromissen in diese Form gegossen wurde. Zudem wird die Entwicklung in den drei Säulen Ökonomie, Soziales und Ökologie oft eher statisch und abgegrenzt dargestellt. Im Grunde geht es um eine Konstruktion, die Perspektiven benennt, Wirkfaktoren in sehr allgemeiner Art identifiziert, die allenfalls als systemische Bestandteile eines komplexeren Wirkungszusammenhanges betrachtet werden können. Ich will sie in einem eigenen Schaubild in Kreisformen kurz zusammenfassen (siehe Schaubild).

Dort, wo die drei Kreise sich überschneiden, müsste Nachhaltigkeit stehen. Aber die so konfigurierte Ordnung des Diskurses der Nachhaltigkeit ist trügerisch, sie ist schon in der UN ein Kompromiss. Das Drei-Kreise-Modell, das 2002 in Rio vom World Business Council for Sustainable Development (WBCSD) eingeführt wurde, ist deshalb problematisch, weil es von vornherein Ökonomie und Ökologie als scheinbar gleichwertige Bedeutungssysteme anführt, obwohl de facto die Ökologie ein Subsystem der Ökonomie geblieben ist (Jucker 2014, 3). Dieser Kompromiss wird immer wieder neu beschworen, weil viele Menschen heute durch die schon länger geführten Debatten glauben, dass die drei Hauptwirkfaktoren tatsächlich die entscheidenden und dann auch noch gleichwertig seien. Auch in meinen Kreisen scheinen diese Perspektiven in gewisser Harmonie zueinander zu stehen, und nur sie scheinen bedeutsam zu sein. Aber stimmt das so?


Schaubild 1: Wirkfaktoren in der Nachhaltigkeit

Allevato (2018, 12) meint, dass in einer solchen Vorstellung immer schon ein anthropozentrisches, ein menschliches Vorurteil steckt, weil es die Natur nur aus der Perspektive der menschlichen Handlungen und Machbarkeitswünsche erfasst. Auch Dhiman (2018) betont, dass wir zunächst den negativen Fußabdruck, den wir in der Welt hinterlassen, begreifen müssten, was für ihn vor allem bedeutet, eine ganzheitliche Sicht auf die Welt einzunehmen und nicht immer alles gleich menschlich nutzbar zu machen und in Geschäfte verwandeln zu wollen. Auch wenn etliche Autoren wie etwa Griggs et al. (2013) den Schutz der Erhaltungssysteme der Erde vor Augen haben, so gehen die meisten bei den Lösungen gleichzeitig immer noch von der ökonomischen Machbarkeit aus. Wenn diese gefährdet ist, scheinen alle Strategien sinnlos zu sein.

Im Gegensatz zu den Wunschvorstellungen ist die Perspektive der Ökonomie aber sehr oft ein Ausdruck der immer wieder nicht mit der Ökologie zu vereinbarenden Perspektive auf Wachstum, die durch menschliche Selbstsucht, Gier und Kostenvermeidung das Problem der Nachhaltigkeit erst entstehen lässt. Alle Lobbyisten der Welt schreien: Nachhaltigkeit ja! – aber doch nur, wenn die wirtschaftliche Entwicklung gesichert bleibt. Der Hauptfeind solcher Entwicklung sind Kosten – aber kann es Nachhaltigkeit ohne Kosten für die Entwicklung geben, und wer soll sie dann am Ende tragen?

Es ist zu bezweifeln, dass die drei Kreise ausreichen, um das Problem hinreichend zu erfassen und weitreichend genug zu begreifen. Ein schlüssiges Modell müsste die Grundfrage stellen, welche Schädigungen eine stets wachsende Ökonomie für die Ökologie bedeutet. Die Ökonomie müsste in diesem Sinne einen Fokus darauf richten, welche Kosten sie wie aufbringen will, um die Schädigungen zu beseitigen. Dies würde ein gänzlich neues Bepreisungsmodell erzeugen. Die entscheidende Frage müsste dann lauten: Wie viel davon müssen die Produzenten bezahlen, die an ihren Waren verdienen, und wie viel die Konsumenten, die sie nutzen?

Stattdessen wird das Drei-Kreis-Modell bisher eher ergänzt und erweitert. Umwelt, Ökonomie und Soziales werden um einen Vier-Kreise-Ansatz erweitert, der die Bereiche ökonomische, ökologische, politische und kulturelle Nachhaltigkeit (Meireis & Rippel 2019) benutzt. Insbesondere in der Agenda 21 wird die kulturelle Dimension als vierte Kraft identifiziert. Das Soziale wird dabei in der Übersetzung ins Politische erhalten, aber es wird auch deutlich gemacht, dass soziale Fragen politisch entschieden werden. Andererseits wird auch diskutiert, dass alle vier Bereiche eine soziale Dimension darstellen, weil sie immer soziale Fragen enthalten.

Es ließen sich mit guten Gründen weitere Perspektivmodelle – besser als Kreise sind dynamische Modelle – bilden, um das Feld der Nachhaltigkeit näher zu erfassen und seine Bestandteile zu bestimmen. Zu bedenken ist, dass alle Kreis- oder Dimensionsansätze stark von der Systemtheorie bestimmt sind, die Mechanismen und Wirkungsweisen jeweils einzelner Systeme gesondert fokussiert, wobei aber in der Realität all diese Teile immer konkret miteinander in Beziehung stehen. Um dies annähernd zu erfassen, sind komplexe und komplizierte Modelle und Überlegungen notwendig. Meinen Beobachtungen nach verlieren sich alle Nachhaltigkeitskonferenzen in eben diesen Komplexitäten und der Streit geht dann oft um Details, wobei leicht die größeren Zusammenhänge und Bezüge zu realen Vorgängen und bereits vorhandenen Bedrohungen verloren gehen.

Die von der UN gewählten Ansätze vermeiden allerdings ohnehin die systemtheoretischen Zusammenhänge und komplexen Ableitungen, sie sprechen von spezifischen Zielen, wie sie in den 17 globalen Zielen der Agenda 2030 zusammengefasst sind. Die Menschheit benötigt zur Erfassung der Nachhaltigkeit, so ließe sich dies interpretieren, eher Listen als komplexe wissenschaftliche Modelle und Abhandlungen über Wechselwirkungen, um sich einen Überblick und eine einfache Orientierung zu verschaffen.

Solche Ziele der Nachhaltigkeit sind dann meist sehr allgemein gehalten, die Indikatoren, an denen sie bemessen werden können, sind sehr offen – als Ausdruck der Abstimmungsprozeduren, die ihnen zugrunde liegen –, so dass davon gesprochen wird, wie die Ziele in das bisherige Leben integriert, wie sie mit wirtschaftlichen Zielen ausbalanciert oder schlichtweg nur für das Leben überdacht werden können (Purvis et al. 2019, 690). Sowohl in den Kreis- oder Säulenmodellen als auch bei den globalen Zielen bleibt jedoch überwiegend unklar, wo genau es in der Entwicklung Abstriche und Verzicht geben muss, wo es bereits verfügbare wissenschaftlich-technologische Fortschritte – von denen alle sprechen, aber kaum jemand wirklich etwas weiß – für einen massenhaften und bezahlbaren Einsatz gibt. Außerdem, wo es eine Entwicklungspause geben muss, bis diese Fortschritte weniger umweltschädliche Lösungen erlauben und welche Einschnitte Regierungen ihrer Bevölkerung überhaupt zumuten können, ohne gleich wieder abgewählt zu werden. Die jeweilige Prognose der erreichten und erreichbaren Nachhaltigkeit hängt vor diesem Hintergrund sehr stark vom Optimismus der Betrachtungsweise ab, und dieser ist heute noch so ausgeprägt, dass nur zögerlich Konsequenzen gezogen werden, die schädliche Handlungen beschränken oder gar verbieten würden. Es bedarf einer neuen Ehrlichkeit: »Was ein Übergang zu einer nachhaltigen Gesellschaft erfordert, ist eine systemische und ehrliche Analyse der Nicht-Nachhaltigkeit der gegenwärtigen Situation und Lösungsvorschläge, die systemisch kohärent und mit den nicht verhandelbaren planetarischen Grenzen vereinbar sind. Die Ergebnisse können positiv oder negativ sein, je nachdem, ob jemand etwas durch sie gewinnt (höchstwahrscheinlich arme Menschen) oder verliert (höchstwahrscheinlich euro-amerikanische Verbraucher), und dies wird zweifellos die Einstellung (optimistische oder pessimistische Aussichten) beeinflussen.« (Jucker 2014, 3)

Ein anderes Modell nach Thomas (2016) schlägt vor, die vier Bereiche durch sieben Modalitäten zu ersetzen, die möglichst alle für sinnvoll gehaltenen Aspekte umfassen: Ökonomie, Gesellschaft (community), Berufe, Regierungen, Umwelt, Kultur, Gesundheit. Auf all diesen Ebenen kann und müsste – von einer globalen bis zur lokalen und zur persönlichen Bedeutung – Nachhaltigkeit erreicht werden. Doch wo sollen solche immer neuen Bereiche oder Aspekte enden? Hier ließen sich etwa Beteiligungsprozesse, Demokratie und Erziehung als weitere Dimensionen hinzufügen, die ihr jeweilig eigenes Nachhaltigkeitsspektrum entfalten können, wenn nicht müssen.

Einen sehr plausiblen Ansatz wählen Johann Rockström et al. (2009), wenn sie statt von immer neuen Möglichkeiten von den planetaren Grenzen sprechen (siehe auch Stockholm Resilience Centre 2009). Aus dieser Sicht hat die Menschheit den Bereich der sicheren Grenzen, die noch zu handhaben sind, bereits in vier Bereichen überschritten: in dem des (1) Klimawandels, (2) der Artenvielfalt, (3) der Landnutzung und (4) bei den globalen Phosphor- und Stickstoffkreisläufen. In dieser Modellierung werden nicht einfache lineare Entwicklungen beschrieben, sondern es wird die exponentielle Entfaltung des Wandels zugrunde gelegt. Die Grenzen sind durch Kipp-Punkte bestimmt, deren Überschreiten irreversibel ist, was ausdrückt, dass die dann folgenden Ereignisse nicht mehr mit alten Mitteln beherrschbar sind.

Für die planetaren Grenzen haben Steffen et al. (2015) eine gute bildlich aufbereitete Darstellung der rasanten Veränderungen, die zu Kipp-Punkten führen, erstellt. Sie beschreiben eine große Beschleunigung der Risikofaktoren (vgl. dazu Schaubild 3 weiter unten). Umfassender ist die Darstellung in Incropera (2016), die ich als umfassendere Einführung empfehlen möchte. Als Entschleunigung der Risiken versuchen unterschiedliche Länder und Organisationen mittels Normen, Siegeln, Ratings und Rankings (vgl. Dahm 2019, 127 ff.) eine Ordnung in das Wirrwarr von Gegenmaßnahmen zu bringen, was jedoch bisher eher Selbstverpflichtungen auf einem zögerlichen Weg der Veränderung zu mehr Nachhaltigkeit in groben Bekenntnissen als einen radikalen Wandel im Denken und Handeln ausdrückt (für die deutsche Situation siehe auch den Monitoringbericht 2019). Die hohe mediale Präsenz des Themas scheint eine Handlungsfähigkeit der Menschheit auszudrücken, aber die realen Umsetzungen zeigen, dass es sich letztlich bisher um unzureichende Lippenbekenntnisse handelt.

Ziehen wir ein Fazit: Nachhaltigkeit wird als Begriff durch die Konventionen vieler Gruppen mit unterschiedlichen Interessenlagen festgelegt. Die UN bestimmt dabei sehr stark über den allgemeinen Diskurs in einem Kompromissmodell mit, das sowohl eine »gewisse« Nachhaltigkeit als auch weiteres Wirtschaftswachstum umfassen soll. Hinter all diesen Konventionen und Konstruktionen stehen unterschiedliche Interessen von Menschen, die bereits bei der Erfassung des Problems bestimmte Horizonte von Lösungen vor Augen haben. Menschen haben Wünsche nach Wohlstand, haben bisher die Natur immer als Verfügungsrahmen und weniger als eigenständigen, verletzlichen Teil von Welt gesehen, sie haben je nach Land und Lebenslage mehr oder weniger, oft auch fast keine finanziellen Mittel, um mehr Rücksicht auf die Natur und das Leben anderer Lebewesen, selbst nicht dasjenige anderer Menschen zu nehmen. Die UN erarbeitet Konventionen zu einer besseren Nachhaltigkeit in schwierigen Abstimmungsprozeduren, aber dabei gehen in die Konstruktion immer schon viele Kompromisse aus bereits gemachten und vor allem erwünschten Voraussetzungen ein.

Wenn Ekardt (2011, 51) solche Konstruktionen von den eigentlichen Inhalten der Nachhaltigkeit unterscheiden will, Inhalten, die nicht konstruiert, sondern faktisch sind, die die ungeschönten Tatsachen der Natur- und Weltzustände dokumentieren, dann macht er auf folgenden Umstand aufmerksam: Trotz aller Sprachspiele, die Menschen in ihren Wirklichkeits- und Wahrheitsdefinitionen erproben, bleibt immer ein Reales, das trotz oder auch entgegen solcher Sprachspiele besteht. Betrachtet man es so, führt der Klimawandel tatsächlich zu Klimakatastrophen. Diese Kränkung durch das Reale muss die Nachhaltigkeitsdebatte hinnehmen, denn neben all den Wünschen und Meinungen gibt es Auswirkungen, die dieses Reale betreffen, die zumindest aus wissenschaftlicher Sicht zu leugnen immer weniger Sinn macht. Aber gerade die gegenwärtige Nachhaltigkeitsdebatte zeigt, wie sprachlich auslegbar selbst Fakten sind und wie kulturell unterschiedlich das Phänomen der Nachhaltigkeit angegangen und aufgefasst wird. Die wissenschaftliche Expertise selbst ist ihrerseits auch nicht frei von Beeinflussungen und Auftragsforschung. Selbst wenn den Menschen das Wasser bis zum Hals steht – um es in einem Bild auszudrücken –, diskutieren sie immer noch über die besseren oder schlechteren Boote, die zur Verfügung stehen. Warum das Wasser gestiegen ist, das kümmert sie angesichts der gegebenen Herausforderung schon gar nicht mehr.

Es wird bereits nach dieser kurzen Einführung in die Begrifflichkeit deutlich, dass es einer Fokussierung bedarf, wenn sich die Diskussion nicht in unendlichen Debatten und Streitereien verlieren soll. Dabei geht es um die grundsätzliche Perspektive, die wir einnehmen wollen, wenn wir von Nachhaltigkeit sprechen. In diesem Fokus scheinen zwei Perspektiven wesentlich zu sein, sie betreffen Zeit und Raum (vgl. auch Ekhardt 2016, 53):

(1) Nachhaltigkeit bedeutet eine Generationenperspektive. Es geht weniger um den Wohlstand und die Entwicklung der Gegenwart, sondern vielmehr darum, was folgenden Generationen hinterlassen wird und welche Lebenschancen dadurch in der Zukunft bestehen. Die Grundfrage lautet: »Welche Auswirkungen hat unser Handeln auf zukünftige Generationen?«

(2) Nachhaltigkeit benötigt eine globale Perspektive. Alle Aspekte der Nachhaltigkeit finden nie nur im Lokalen, nie nur räumlich begrenzt statt, sie kennen keine menschlich gemachten Grenzen und Schlagbäume, sondern haben globale und räumlich planetare Auswirkungen. Die Grund frage lautet: »Welche Folgen hat unser lokales Handeln für globale Wirkungen?«

Der entgrenzte Mensch und die Grenzen der Erde Band 1

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