Читать книгу Der entgrenzte Mensch und die Grenzen der Erde Band 1 - Kersten Reich - Страница 6

Vorwort

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Früher war der rauchende Schornstein ein Symbol für wirtschaftliches Wachstum, heute gilt er als Beispiel der Umweltverschmutzung. Gerade solche Symbole sind es, die den menschlichen Zweifel haben wachsen lassen, ob die Nachhaltigkeit unserer Handlungen und unsere Hinterlassenschaften für die nachfolgenden Generationen noch so zu rechtfertigen sind. Ist ein Umdenken an der Zeit und was kostet es uns? Oder müssen wir sogar umdenken, weil alles auf dem Spiel steht?

Nach einem einleitenden Kapitel, das die globalen Grenzen kurz abstecken soll, will ich in diesem Band zur Nachhaltigkeit insbesondere den Problemen unseres bisherigen Verhaltens und seiner Entstehung nachgehen. Ich will zeigen, dass wir uns durch die Bevorzugung bestimmter Vorstellungen und Denkweisen in die gegenwärtige Lage manövriert haben. Fehlende Nachhaltigkeit und daraus resultierende Folgen in der Natur und Umwelt sind nicht willkürlich oder zufällig, vielmehr sind sie aus vergangenen schädlichen Handlungen und unserem Umgang mit ihnen hervorgegangen. Dies lässt sich an folgendem Beispiel gut veranschaulichen:

Es wird erzählt, dass es in Delhi zur britischen Kolonialzeit eine Kobra-Plage gab. Um die Risiken durch diese hochgiftige Schlange zu mindern, wurden Prämien für gefangene Kobras vergeben. Schnell kamen findige Händler1 darauf, immer mehr Kobras zu züchten, um die Prämie einzuheimsen, woraufhin diese wieder aufgehoben wurde. Dies führte schließlich dazu, dass die Anzahl an Kobras sogar erheblich anstieg, da die Züchterinnen ihre Schlangen einfach aussetzten, nachdem sich mit ihnen kein Gewinn mehr machen ließ (vgl. auch Siebert 2001).2

Hier zeigt sich: Die Lösung kann die Falle sein. Es gibt eine Vielzahl solcher Fallen, die dadurch erzeugt werden, dass von Beginn an nicht langfristig genug gedacht wurde und so mögliche Folgeeffekte nicht imaginiert werden konnten. Senge (2006) spricht hier von System-Archetypen, von denen es sehr unterschiedliche Formen gibt. Meist sind dies kausale Wirkungsketten, die zu kurz greifen, weil der Mensch häufig eher den kurzfristigen Gewinn als die langfristige Wohltat für alle vor Augen hat. Menschen fällt es in der Sicherung individueller Vorteile oftmals schwer, in systemischen Zusammenhängen zu denken. Sie bevorzugen eher lineare Abfolgen (viele Kobras = Prämie = Ausrottung), weil die Weitsicht auf systemische Kontexte eine Perspektiverweiterung (gezüchtete Kobras = Tauschmittel = Gewinn) bedeuten würde, was mit einer Aufgabe der eigenen Verengung auf die persönlichen Vorteile einherginge. Menschen tappen immer wieder in solche Fallen und erzeugen sie auch selbst, weil der kurzfristige Erfolg die langfristigen Folgen überschattet und unsichtbar macht. Das macht die Kobra-Plage mit der gegenwärtigen Umweltsituation und den zu kurzfristig – nicht nachhaltig – gedachten Maßnahmen vergleichbar.

Nachhaltigkeitsfallen gibt es heute viele. Die meisten Menschen würden wohl für Nachhaltigkeit plädieren, sobald ihnen klar wird, dass der Klimawandel auch ihr eigenes Wohlbefinden in Zukunft stark gefährden wird. Die Nachhaltigkeit ist aber immer nur ein Aspekt in ihrem Leben und steht so stetig in Konkurrenz mit anderen Erwartungen, Wünschen und Ordnungen, die oft deshalb im Vordergrund stehen, weil sie entweder über das Überleben oder ein Leben im Wohlstand entscheiden. Wenn diese Aspekte mit der Nachhaltigkeit in einen Konflikt geraten, der vielfach noch nicht einmal unmittelbar erkennbar ist, entsteht eine Falle, die darin besteht, einfach das alte Verhalten zu bevorzugen und Veränderungen nach hinten zu schieben. Ich weiß beispielsweise, dass mein Auto CO2 ausstößt und dies für das Klima schädlich ist. Aber das Auto ist mir wichtig, da es für mich Freiheit, Mobilität und sozialen Status repräsentiert. Außerdem benötige ich es, um zur Arbeit zu kommen, und weil alle anderen auch Auto fahren und der Nahverkehr eingeschränkt ist, fahre auch ich. Hinzu kommt, dass ich in einem Land lebe, das sehr viele Autos produziert, in dem viele Arbeitsplätze und die Wirtschaftskraft von eben dieser Produktion abhängen, sodass ich womöglich sogar den allgemeinen Wohlstand riskiere, wenn ich auf das Auto verzichten würde. Hier wird die Falle konkret sichtbar.

Die größte Nachhaltigkeitsfalle entsteht für mich heute aus der gedanklichen Vorstellung, es gäbe letztendlich immer einen Weg, durch den wir uns nicht wirklich schnell und umfassend ändern müssten. Viele Menschen sind sich der gegenwärtigen Umweltkrise und Ressourcenverschwendung, auch der darin offen zutage tretenden Nachlässigkeit gegenüber unseren Überlebenschancen in der Zukunft sehr wohl bewusst, glauben aber zugleich, dass es nie so schlimm kommen wird, wie es uns wissenschaftliche Prognosen vorhersagen. Die Grenzen der Erde, wie sie aus Sicht der Wissenschaften erscheinen, sind Menschen nur schwer vermittelbar, bevor Katastrophen in der Nähe eintreten.

In diesem ersten Band zur Nachhaltigkeit will ich mich mit der Herkunft von menschlichen Denk- und Vorstellungsweisen und vor allem psychologisch und pädagogisch erforschten Verhaltensformen beschäftigen, deren Bewusstmachung uns im Grunde immer wieder Mut machen kann, dass es noch nicht und nie zu spät ist, unser bisheriges Handeln zu ändern. Dieser Ansatz mag als ein zumindest mitunter optimistischer erscheinen, denn es ist für viele Menschen wichtig, einen positiven Sinn ihrer Handlungen und ihres Engagements anzunehmen, wenn es überhaupt erfolgreich sein soll. Allerdings – und dies ist der weniger optimistische Teil – zeigt eine Mehrheit solcher Forschungen auch schwer überwindbare Barrieren der Verhaltensänderung. Im vorliegenden Band wird aber immerhin aufgewiesen, wie es durch eine Umstellung des menschlichen Verhaltens gelingen könnte, die Nachhaltigkeitskrise auf verschiedenen Wegen zu meistern, wenn dies auch angesichts des gegenwärtigen Verhaltens breiter Massen als unwahrscheinlich erscheinen muss.

Was soll oder muss im Verhalten geändert werden? Die Ausgangslage ist ziemlich klar: Ressourcen werden knapper, die Treibhausgase steigen ständig, der Klimawandel schreitet voran, das Artensterben nimmt zu, der Müll und die Verschwendung haben einen Höchststand erreicht, die sozialen Folgen all dieser und vieler weiterer Ereignisse sind ungleich verteilt. Die Menschheit weiß, dass sie handeln, ihr Verhalten verändern, nachhaltiger leben muss, um die bestehenden Verhältnisse zumindest zu erhalten und nicht auch noch zu verschlechtern. Aber ist sie dazu überhaupt hinreichend in der Lage?

Ich möchte in der Beantwortung dieser Frage menschliche Denk- und Vorstellungsweisen beschreiben, die zeigen können, warum Menschen große Schwierigkeiten im Umgang mit der Nachhaltigkeit haben, die aber zugleich auch verdeutlichen, warum wir in diese Krise gekommen sind und welche Chancen in einer Bewusstmachung derjenigen Fallen liegen können, die uns davon abhalten, unser Verhalten zu ändern.

In einem zweiten Band zur Nachhaltigkeit, der zeitgleich mit diesem Buch erscheint,3 fällt das Forschungsergebnis deutlich negativer aus. Dort beschreibe ich, wie Ökonomie und Politik in der Gegenwart systematisch und umfassend verhindern, dass Nachhaltigkeit überhaupt gelingen kann: Ohne radikale Änderungen in der Ökonomie und Politik werden wir es nicht schaffen können. Es stellt sich hier zudem die Frage, inwieweit es überhaupt möglich ist, uns von der bisherigen Ökonomie und Politik abzuwenden und etwas Neues zu denken, damit die Wahrscheinlichkeit des Gelingens nicht weiter ins Utopische abgeschoben bleibt.

Teil I zeigt die Welt in der Krise fehlender Nachhaltigkeit. Die Fakten und Wahrscheinlichkeiten sind bereits erhoben, wer will, der kann sie sichten und daraus Schlüsse ziehen. Um dies einführend zu verstehen, beginne ich mit einer kleinen Geschichte der Nachhaltigkeit. Die Einführung in die Grenzen des Wachstums, die in diesem Band gegeben wird, ist ebenso für den zweiten Band bedeutsam. Die Einstiegsfrage lautet: Was ist Nachhaltigkeit heute? In einem Zeitalter vieler falscher, unvollständiger, verkürzter und verfälschter Nachrichten gibt es viele Mutmaßungen und Wunschannahmen über Nachhaltigkeit. Selbst möglichst exakt operierende Wissenschaften liefern keine vollständige Wahrheit der von Menschen verursachten Krisen und ihrer Folgen, wohl aber erarbeiten sie recht präzise und wahrscheinliche Beschreibungen und Prognosen. In einer kurzen Darstellung will ich klären, welche globalen Herausforderungen aus wissenschaftlicher Sicht bestehen; zu dieser Fragestellung sind mittlerweile unzählige Studien und Beiträge entstanden. Ich will diese nicht im Detail darlegen, sondern vor allem wesentliche Eckdaten zur Orientierung benennen, da die Studien, Erfahrungsberichte, und wissenschaftlichen Forschungen im Feld der Nachhaltigkeit unzählig sind und aus der Sicht vieler Perspektiven, Fächer und Interessen erzählt wird. Ich will mit einer knappen Einführung über bekannte und von der Wissenschaft wenig umstrittene »Tatsachen« beginnen, insbesondere um die sogenannten fake news zum Thema, beispielsweise zum besonders umkämpften Klimawandel, abzuwehren.

Fakten sind allerdings keine unumstößlichen Wahrheiten für alle Zeiten, sondern sie repräsentieren das, was nach dem heutigen Stand der Forschung die Grenzen des Wachstums bezeichnet, sie stellen eine Interessenlage von Forschung dar, die nicht mit den selektiven Interessen bestimmter Unternehmen und Konzerne unmittelbar verstrickt ist. Dies ist keinesfalls selbstverständlich, denn die Finanzierung wissenschaftlicher Forschung ist oft Auftragsforschung, die sich reiche Konzerne besonders gern leisten, um ihre Interessen im Lichte einer erkauften Verpflichtung als »wahr« erscheinen zu lassen. Andere Beeinflussungen finden aus politischen Interessen statt, wenn eine Partei etwa Wählerinnen und Wählern Versprechen gibt, um gewählt zu werden oder unbequeme Wahrscheinlichkeiten vorenthalten werden, um die Zustimmung bestimmter Gruppen von Menschen zu erhalten oder zu steigern.

Alle Fakten sind, kritisch betrachtet, immer nur Wahrscheinlichkeiten, aber wie kommt es, dass wir so ungern auf Wahrscheinlichkeiten hören wollen, sie oft so leicht abzutun bereit sind? Wenn man mit geschlossenen Augen eine Schnellstraße überquert, weiß man, dass es wahrscheinlich ist, überfahren zu werden. Das sehen die meisten Menschen ein. Aber wenn man mit einem SUV-Diesel durch die Gegend fährt, müsste man auch wissen, dass bei gleichzeitiger krimineller Energie des Herstellers mit Abschaltvorrichtungen die Gesundheit anderer durch Schadstoffe und das Klima durch Treibhausgase gefährdet sind, diese Gefährdung nur vorläufig unsichtbar bleibt. Weil sie in einer vagen Zukunft liegt, reicht die Fantasie leider oftmals nicht aus, um sich oder andere als unmittelbar bedroht zu erkennen. Dennoch ist es ein Fakt, dass hier CO2, Stickoxide und Feinstaub verursacht werden, die eine schädliche Wirkung auf die Umwelt haben. Wenn Populisten behaupten, dass dies alles nicht schlimm sei, weil es sich im Vergleich zu Naturkatastrophen nur um kleine Mengen handle, dann wird bereits eine Entschuldigung gesucht, die ich als Ausdruck einer Denk- und Vorstellungsfalle bezeichnen will, die für mich den Kern einer Nachhaltigkeitsfalle ausmacht. Wenn ein aktueller Schaden nicht sinnvoll zu leugnen ist, werden gern Vergleiche herangezogen, die das eigentliche Problem überhaupt nicht erhellen können und auch nicht darauf abzielen, weil das eigene Handeln nicht infrage gestellt werden soll. Solche Vorstellungs- und Denkfallen gibt es in kleinen und größeren Formaten, es gibt sie bei Schäden kleineren und größeren Ausmaßes, aber die Wirkmechanismen sind immer gleich: Leugnen, Fakten auslassen, Wunschdenken vor eine Wirklichkeitsprüfung stellen, die Wirklichkeit so lange umdeuten, bis sie in das eigene Welt- und Wunschbild passt.

Meine Argumentation in diesem Buch soll nach dem zusammenfassenden und einleitenden ersten Teil, der unsere gegenwärtige Ausgangsposition markiert, nicht vorrangig weitere Fakten sammeln oder bekannte neu zusammenstellen. Solche Differenzierungen lassen sich auf aktuellem Stand gut im Internet und in zahlreichen wissenschaftlichen Studien rekonstruieren. Ich will hingegen in den folgenden Teilen von einer zentralen Frage ausgehen: Warum gelingt es Menschen heute mehrheitlich nicht, tatsächlich und umfassend nachhaltig zu handeln, obwohl sie genau sehen könnten, was zu tun wäre?

Es gehört für mich vor dem Hintergrund vieler Antworten zu dieser Frage zu den falschen Hoffnungen in der Nachhaltigkeitsdebatte, wenn versucht wird, Konstruktionen und Wünsche von sogenannten faktischen Inhalten – gleichsam einer »absoluten« und reinen Wahrheit der Nachhaltigkeit – strikt unterscheiden zu wollen. Gewiss sind mit naturwissenschaftlichen Verfahren gewonnene Aussagen wahrscheinlicher und »sicherer« als bloße Meinungen und Mutmaßungen über Umweltveränderungen, aber in der Interpretation solcher Wahrscheinlichkeiten, in der politischen bis hin zur persönlichen Auslegung werden die vermeintlichen Tatsachen immer wieder zu Konstruktionen, die sowohl individuell als auch gesellschaftlich zu verhandeln sind. Und es ist dabei bisher nicht gelungen, Nachhaltigkeit wirksam für Verhaltensänderungen so zu erfassen, dass wir eine klare Mehrheitsperspektive gewonnen hätten, die allen Menschen einen vernünftigen Weg ohne Rücksicht auf Einzelinteressen weisen könnte. Was wir heute haben, das sind viele Einzelperspektiven, also etwa naturwissenschaftliche, ökologische, technologische, ökonomische, sozialwissenschaftliche, psychologische, pädagogische, philosophische oder andere Erklärungen, die in einzelnen Feldern operieren und dann zu Lösungen kommen, wobei so nur sehr partielle Vorstellungen über die Aufgabe entstehen. Hinzu kommt, dass in all den Wissenschaften dann wiederum Individuen tätig sind, die unterschiedliche Auffassungen in der Gewinnung und Interpretation solcher Ergebnisse entwickeln. Dabei würde die Komplexität des Themas interdisziplinäre bzw. transdisziplinäre Verständigungen über möglichst breite Gruppen von Menschen notwendig machen. Das Verhältnis der jeweiligen Konstruktion dessen, was Nachhaltigkeit ist und sein soll, die vor dem Hintergrund von selektiven Interessen geschieht – wer bezahlt und bestimmt die Forschungsergebnisse? – ist immer der erste kritische Einstieg in das, was der Öffentlichkeit dann als Fakten und Wahrheiten angeboten wird. Dagegen hilft nur, dass möglichst viele Menschen sich für die Nachhaltigkeit engagieren, um eine Einigung über die Bedeutung dessen, was aktuell zu wissen und zu tun ist, möglichst in breiter Mehrheit zu erreichen. Die einzige Alternative wäre, dass wir andere darüber entscheiden lassen oder dass wir warten, bis uns Katastrophen zum Handeln zwingen.

Nachhaltigkeitsfallen, das sind meist Denk- und Vorstellungsmuster, die sich Menschen imaginieren und konstruieren, um die Welt nach ihren Wünschen, Sehnsüchten, bisherigen logisch und natürlich scheinenden Erklärungen zu formen, ohne hinreichend Rücksicht auf real stattfindende Veränderungen, Einschränkungen, Risiken und Gefährdungen zu nehmen. Angesichts des Umstandes, dass die Menschheit schon seit fast 40 Jahren von der Klimaveränderung oder anderen Krisenphänomenen weiß, und der bescheidenen Gegenmaßnahmen, die bisher tatsächlich praktisch umgesetzt wurden, scheint es mir berechtigt zu sein, von einer Falle zu sprechen, in der wir uns selbst gefangen haben, um den bisherigen Lebensstandard, die Verschwendung, die Ausbeutung des Planeten und die Rücksichtslosigkeit gegenüber anderen Lebewesen (einschließlich von Menschen) immer weiter zu praktizieren.

Was hat uns in diese Fallen getrieben, was sind ihre Bestandteile, was lässt sich gegen sie unternehmen? – das sind zentrale Fragen dieses Buches. Bisherige Erklärungsmodelle und heute vorrangig ihre medialen Ausdrucksformen beeinflussen das, was wir als Fakten sehen wollen, und formen eine Ausgangslage, die ich in mehreren Schritten zugänglich machen will.

Teil II erörtert, wie es dazu gekommen ist, dass der Mensch sich so sehr über sein eigenes Wohlergehen besorgt zeigt, aber so schnell die weitere Umwelt und die Folgen seiner Handlungen vergisst. Einige wichtige wiederkehrende Sorgen, die unser Verständnis von Nachhaltigkeit bis heute betreffen, will ich darstellen, um immer wieder auftretende Erklärungshorizonte und Handlungs- und Denkmuster zu verdeutlichen. Solche Erklärungen stellen einen Denkhorizont dar, der aus unserer Geschichte und Tradition überliefert ist und der uns auch heute oft hindert, klar genug zu sehen.

Beginnen werde ich mit einem Rückblick auf die Antike, in der bei Platon im Grunde schon dargestellt ist, mit welchen Wirkkräften wir es im menschlichen Überlebenskampf zu tun haben. In der Philosophie heißt es mitunter, dass alles, was in der Neuzeit kam, bereits in der Antike angelegt war, und zumindest was die Fragen nach der menschlichen Begierde, Gier und Maßlosigkeit sowie die Begrenzung schädigenden Verhaltens betrifft, scheint dem durchaus zuzustimmen zu sein. Menschen meinen heute sehr oft, der alten Geschichte entkommen zu sein, aber bei näherem Hinschauen sehen wir, dass viele Menschen noch stark in archaischen und traditionellen Verhaltensmustern gefangen sind. Ich will die Vielschichtigkeit dieser uns heute noch bestimmenden Vorstellungswelt am Beispiel von Hobbes, Locke und Rousseau diskutieren, weil die von ihnen schon zum Beginn der Neuzeit getroffenen Argumente bis heute immer wieder unter neuen und veränderten Begriffen wiederkehren. Nach meiner Ansicht haben wir es mit einer stillschweigenden Nachhaltigkeitsagenda zu tun, die meist ohne Bezug auf diese Ursprünge des Vorstellens und Denkens immer weiter tradiert wurde und bis heute in wesentlichen Aussagen dominant geblieben ist. Allerdings gehört es zur menschlichen Vergesslichkeit, dass begründende und still wirksame Ansätze, Theorien und Denkschulen heute sehr viel leichter als in früheren Zeiten einfach vergessen oder schlicht ausgelassen werden. Ich will einige Erinnerungsanstöße geben und zeigen, wie sehr wir bis in die Gegenwart noch in einem Vorstellen und Denken gefangen sind, das in seiner ersten Entstehungszeit noch klar bekennen konnte, warum es den Menschen über Natur und Umwelt stellt. Einschränkend ist zu sagen, dass meine Auswahl weder vollständig noch detailliert genug sein mag. Sie soll aber exemplarisch an wesentlichen Eckpunkten verdeutlichen, welche Vorstellungen und Denkweisen besonders nicht nur die sozialen Verhältnisse in der Interpretation bis in die Gegenwart beeinflussen, sondern zugleich auch markante Haltungen und Überzeugungen gegenüber der Nachhaltigkeit begründen. Sie gehören zugleich zum klassischen Erkenntnisrepertoire der Verhaltenswissenschaften bis heute.

Von der Vergangenheit geht es dann in die Gegenwart: Materialismus und Kapitalismus, wachsender Wohlstand und Überfluss mit all ihren Folgen für die Umwelt bis hin zu den Grenzen des Wachstums beschäftigen die Menschheit heute. All das setzte mit der liberalen Phase des Wirtschaftsdenkens ein, die gleichzeitig auch mit den Geburtsstunden der modernen Demokratie westlicher Prägung verbunden war. Wohlstandsvermehrung und Nachhaltigkeitsvermeidung gehen seither Hand in Hand. Die Sorge gilt vornehmlich immer dem, was den Menschen nah ist, was ihr Eigentum, ihren Konkurrenzkampf gegeneinander, ihr Vorwärtskommen auch gegen andere und die Umwelt betrifft, aber Anwälte für oder gegen etwas muss man bezahlen, und Natur und Umwelt haben keine eigene Verteidigung. Dies ist einer der Gründe, dass bisher die Nachhaltigkeitskrise vielen als harmlos erscheint. Mit der Individualisierung, die in den letzten Jahrzehnten immer weiter zugenommen hat, ist die Nachhaltigkeit eine Krise, die perfekt fürs Weitermachen ist, weil Menschen unter Wohlstandsbedingungen individuell alles kritisch besprechen und erklären können, ohne letztlich etwas ändern zu müssen. Dies hat damit zu tun, dass wir ohnehin in einem Zeitalter der Ambivalenz angelangt sind, aber auch damit, dass sich die Verantwortlichkeit für das eigene Tun oft ins Abstrakte verschoben hat und in individuellen Narrationen leicht zu entschuldigen ist. Die Mechanismen dieser Falle vor dem Hintergrund der grundsätzlichen Ambivalenz des Zeitalters will ich analysieren

Die Gegenwart stellt vor die Frage, inwieweit eingetretene oder kurz bevorstehende Katastrophen Menschen dazu bringen können, ihr Verhalten zu ändern. In den Nachhaltigkeitsdebatten wird öfter argumentiert, dass die Menschen erst einmal hinlänglich Katastrophen erleben müssten, bevor sie ihr Verhalten an die Herausforderungen anpassen. Heute gibt es in der Tat viele Ekstasen der Sorgen und ihrer Abwehr, und ich will fragen, wie viele Katastrophen und Sorgen notwendig sind, um das Verhalten zu verändern. Ich diskutiere das hier zunächst als Ausdruck einer Vergesslichkeit. Vor allem aber beschreibe ich die Forschung zu den möglichen Verhaltensänderungen als Schlüssel zu Maßnahmen für mehr Nachhaltigkeit.

Teil III fokussiert stärker auf die Auswirkungen. Was hat uns die Geschichte der Sorgen in der Neuzeit hinterlassen? Welche Auswirkungen hat dies für die Sorge um Nachhaltigkeit? In diesem Band geht es mir um menschliches Vorstellen und Denken, im zweiten Band dann um die Ökonomie und Politik. Um nachhaltiges Vorstellen und Verhalten überhaupt näher bestimmen zu können, bedarf es aus meiner Sicht eines Herangehens, das die menschliche Sorge um eine nahende ökologische Katastrophe mit Fragen der Wahrheit und Wahrscheinlichkeit verbindet. Wissenschaften der Nachhaltigkeit zeigen hinreichend wahrscheinliche Szenarien dieser Katastrophe. Aber die menschliche Sorge führt erst dann zu Handlungen, wenn das Wahrscheinliche als »wirklich wahr« und eindeutig, nah und ausweglos erscheint. In welcher Weise trifft das heute zu?

Ich gehe in einer Kombination verschiedener Forschungsansätze sowohl der grundsätzlichen Spannung zwischen Individuum und Gesellschaft als auch neueren psychologischen Forschungen über den Menschen nach, um ein besseres Verständnis davon zu ermöglichen, was Menschen wann und warum von anderen übernehmen und inwieweit sie ein eigenes Wissen und Meinen gegen andere behaupten können. Da gerade die Nachhaltigkeitsdebatte von sehr vielen Einflusskräften begrenzt, bestimmt, manipuliert und gelenkt wird, ist es wichtig, sich der Bedingungen für die Möglichkeit einer eigenen Wahrheitsfindung zu vergewissern. Es wird sich zeigen, dass die Entscheidung für Nachhaltigkeit keineswegs nur eine rationale Frage ist. Zudem sind stets Fragen des Nutzens in allen Sorgen als auch Beeinflussung durch andere, insbesondere durch Medien, zu beachten. Zu nachhaltigem Handeln kann kein Mensch nur für sich und aus gänzlich autonomer Einstellung finden, es ist immer auch eine Frage seines sozialen Umfelds und der Widersprüche des Zeitalters.

Ich zeige auf, dass wir in einem Zeitalter der Ekstasen aller Sorgen leben, weil alle bedrohlichen Informationen medial dramatisiert werden. Für die fehlende Nachhaltigkeit werden eher die erahnten Ereignisse einer Zukunft ins Drama überführt. Ich will dies für Dystopien im Zusammenhang mit Nachhaltigkeit verdeutlichen. Sie sind Ausdruck eines Unbehagens, das viel stärker als die Politik sichtbar macht, was auf dem Spiel steht: Durch die bildliche Darstellung nahender Katastrophen wird der Versuch unternommen, der Ahnung einer gefürchteten Zukunft zu begegnen, indem diese durch eine fiktive Erzählung weitestmöglich auf Distanz gehalten wird. Sind die Dystopien noch Abarbeitungen einer gefürchteten Ahnung, so sind heute die Leugner beispielsweise des Klimawandels Menschen, die klassische psychologische Abwehrmechanismen benutzen, die auch in anderen Zusammenhängen auftreten. Die Inhalte der Verleugnung wissenschaftlicher Tatsachen sind vielfältig, die Mechanismen solcher Abwehrleistungen aber sind soziologisch und psychologisch sehr gut erforscht. Wann immer ich Gelegenheit hatte, mit den Leugnern der Nachhaltigkeitskrise, insbesondere des Klimawandels, zu diskutieren, haben mir die hier dargestellten Forschungen geholfen, die Mechanismen der Leugnung näher zu begreifen und in die Diskussion miteinzubeziehen. Dabei allerdings wird auch oft erkennbar, wie verhärtet die Abwehr wirken kann und wie wenig zugänglich der Abwehrpanzer für andere Erklärungen macht.

Abschließend wird diskutiert, was die Forschung uns konkret über die Chancen und Grenzen menschlicher Verhaltensänderungen lehrt. Dabei hat sie insbesondere Barrieren der Verhaltensänderung aufgewiesen, die uns sehr klar zeigen, wie schwierig es überhaupt ist, ein einmal angeeignetes Verhalten und Gewohnheiten zu ändern. Die Lösungen, die uns bleiben, erscheinen vielen noch als unendlich groß, anderen bereits als unendlich klein, aber so vielfältig sie auch im individuellen Fall sein oder erscheinen mögen, so radikal werden sie im großen Maßstab erfolgen müssen, damit sie nicht zu spät kommen.

Teil IV, in dem mögliche Auswege aus den Nachhaltigkeitsfallen erörtert werden sollen, wendet sich der Erziehung und Bildung zu. Bei gelingender nachhaltiger Erziehung scheint die Chance groß, Nachhaltigkeit tatsächlich verstehen und umsetzen zu können. Aber die Analyse der gegenwärtigen Erziehung und der Vorstellungs- und Denktradition zeigt im Gegenteil auch, wie statt einer möglichen Lösung ein anderes großes Problem vorliegt. Um nachhaltig erziehen zu können, müssten die Erziehenden selbst schon erzogen sein, müsste eine radikale Erziehungs- und Bildungsreform Voraussetzungen für einen Erfolg schaffen. So wie die Frage offen ist, ob nicht auch die soziale Gerechtigkeit verbessert werden müsste, bevor die Nachhaltigkeit besser gelöst werden kann, so bleibt auch die Frage, ob nicht Erziehung und Bildung völlig neu aufgestellt werden müssten, bevor wir erwarten können, dass sie das menschliche Verhalten in Richtung auf Nachhaltigkeit verbessern könnten.

Das Erziehungssystem hat durch die Trennung von Familie und Schule zwei unterschiedliche Autoritätsinstanzen und Verantwortlichkeiten errichtet, die fast alle Fragen des sozialen Lebens und der Verantwortung auch bezüglich der Nachhaltigkeit der Familie und dem jeweils vorhandenen Bildungsstand – aus dem dann auch die grundlegende Einstellung zur Nachhaltigkeit hervorgeht – überlässt. Mit diesem Vorgehen soll einer Neutralität der weltanschaulichen Beeinflussungen entsprochen werden, in der Raum für die Diversität einer pluralen Gesellschaft bleibt. Alle sollen sich eine eigene Meinung bilden können, was natürlich sowohl Raum für Nachhaltigkeitsbefürworter wie für ihre Gegner lässt.

Wie nehmen im Gegensatz zum Erziehungssystem Familien das Problem der Nachhaltigkeit auf? Die meisten Familien sehen heute die Nachhaltigkeit als Sorge im eigenen Leben vorrangig als Aufgabe ihrer sozialen Sicherung. Hier werden Einstellungen, Werthaltungen, Sorgen und Ängste tradiert. Der Staat hingegen ist, vertreten durch das Schulsystem, eher eine Verteilungsinstitution, die durch Benotung und Beurteilung die Abschlüsse regelt, die Aufstiege und Aufrückungen im gesellschaftlichen Leben klärt, gesellschaftlich wichtige Themen und Inhalte vermittelt, aber deren Priorisierung den Heranwachsenden überlässt. Dabei setzt der Staat auf zwei Beharrungskräfte: Einerseits auf die Tradition der Familien, insbesondere auf den Wunsch, ehemals erfolgreiche Modelle von Werten und Normen sowie Einstellungen und Verhaltensweisen zu bewahren. Andererseits auf die politisch dominanten Kräfte, die das Schulsystem gestalten und als Bürokratie der Bestimmung von Lebenswegen vorhalten. Das Ergebnis ist eindeutig: Die Ideologie einer gleichen Behandlung unterschiedlicher Individuen mit günstigen oder ungünstigen Bildungsvoraussetzungen, denen mit gleichen Anforderungen und kostensparender Vorgehensweise im one-size-fits-all begegnet wird, erhält bloß die schon erreichten Besitzstände, sowohl was den Wohlstand als auch was die Bildung betrifft. Sie gibt sich stets neutral, obwohl sie Partei für die Stärkeren ergreift. In der Nachhaltigkeit ist dies ein ungünstiger Ausgangspunkt, denn obgleich die staatliche Erziehung und Bildung im Sinne einer ausgleichenden Vernunft zu wirken fähig wäre, hat sie sich stattdessen von Anfang an der Bewahrung bestehender Praktiken, Routinen und Institutionen ergeben. Ihre Aussage lautet stets: An bestehenden Strukturen und Verhaltensweisen wollen wir im Grunde nichts verändern.

Obwohl heute viel von einer Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) oder radikaler von einem Lernen für Nachhaltigkeit gesprochen wird, so ist eine solche Erziehung und Bildung bisher weder verbindlich im deutschen Schulsystem noch umfassend in der Bildungspolitik verankert. Die heutige Bildung bereitet die Menschen eher auf einen negativen Fußabdruck vor, der immer größer wird, als auf einen positiven Handabdruck, der die Grenzen des Wachstums respektiert und das Verhalten tatsächlich umfassend ändert.

Schon länger als der Kampf um mehr Nachhaltigkeit währt der Kampf um stärkere soziale Gerechtigkeit. Ein internationaler Vergleich der Schulsysteme zeigt, dass es beispielsweise den skandinavischen Ländern deutlich besser als Deutschland gelingt, auch bildungsbenachteiligte Gruppen erfolgreich werden zu lassen. In Schweden haben Heranwachsende aus bildungsbenachteiligten Milieus fünfmal höhere Chancen ein Abitur zu machen als in Deutschland. In keinem entwickelten Land ist der Bildungserfolg so stark von der Herkunft abhängig wie bei uns. Würden wir dieses politische und staatliche Versagen als Vorhersage für das Gelingen einer Bildung für eine nachhaltige Entwicklung nehmen, dann sind die Prognosen schlecht. Die in Deutschland lange schon aufgeschobene und abgewehrte »Bildungsrevolution«, die eine Übernahme etwa des erfolgreichen skandinavischen Modells bedeuten würde, wäre eine wesentliche Bedingung dafür, dass Nachhaltigkeit im deutschen Schulsystem überhaupt hinreichend vermittelt werden könnte.

Abschließend beschreibe ich, dass es zwei Argumentationen gibt, die beide häufig anzutreffen sind: Es sollen jene beim Wort genommen werden, die behaupten, dass es immer »weiter so« gehen soll, weil die Krise entweder übertrieben wird oder ohnehin gar nicht aufzuhalten ist. In dieser Sicht können sich Befürworter oder Leugner der Krise sogar einig fühlen. Dagegen mögen die Ausführungen den Optimisten Hoffnung geben, die niemals aufgeben wollen. Sie wissen, dass jede und jeder bei sich selbst anfangen muss, denn Nachhaltigkeit kann nicht einfach nur allgemein verordnet und instruiert werden, sondern bedarf der aus Einsicht erwachsenen und emotional vertretenen individuellen Handlung. Alle müssen sich Gedanken darüber machen, was gut funktioniert und was weniger gut gelingen kann. Die große ökologische und nachhaltige Transformation wird auch nicht ohne Verzicht zu vollziehen sein. Sie kann durch Innovationen und neue Lebenskonzepte kompensiert werden, sie kann sogar die Menschheit sozial gerechter machen und sich vielfältig in neue Richtungen entwickeln lassen, aber zunächst bedeutet sie eine wesentliche Umstellung in sehr vielen Lebensbereichen. Einige Eckpunkte für das Vorstellen, Denken und Verhalten, die für ein solches Umdenken nötig sind, will ich in den Blick nehmen.

Ich beende die Argumentation mit individuellen Regeln für ein nachhaltiges Verhalten, die ich aus einer Sichtung sehr vieler Vorschläge aus der Literatur verdichtet habe. Würden wir sie als Leitfaden für nachhaltiges individuelles Handeln nehmen, dann wären wir einen großen Schritt weiter. Sie werden im zweiten Band durch gesellschaftliche Regeln ergänzt.

Mein Dank gilt den vielen Forscherinnen und Forschern, die mir ihre Veröffentlichungen frei zugänglich gemacht haben. Die umfangreichen Referenzen finden sich im Literaturverzeichnis für beide Bände, das mit Links zu zugänglichen Quellen auch online unter www.westendverlag.de/nachhaltigkeit verfügbar ist. Es sind zu viele, die mich in meinem Vorhaben unterstützt haben, um sie hier einzeln zu nennen. Hervorheben will ich die Lektorin Lea Mara Eßer vom Westend Verlag, die durch ihre professionelle Überarbeitung zur Verbesserung des Textes beigetragen hat.

Der entgrenzte Mensch und die Grenzen der Erde Band 1

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