Читать книгу Und du bist nicht da - Kerstin Teschnigg - Страница 13
Kapitel 10
ОглавлениеJulian
Ich bin nicht gleich zurück zum Herzoghof gefahren. An der Weggabelung musste ich anhalten. Immer noch versuche ich mich zu fangen. Wenn ich meine Augen schließe, sehe ich Annas Gesicht. Die Wangen gerötet, unter dem Auge ein blauer Fleck, die Nase aufgeschlagen. Ich kann es einfach nicht glauben. Was ich gerade gesehen habe, übersteigt alles was ich bisher erlebt habe. Ich habe sie gefragt, ob ihr Vater ihr das angetan hat. Sie hat nicht darauf geantwortet, doch ich bin mir sicher. Wie kann man so etwas tun? Ich atme tief durch. Niemals hat mein Vater gegen mich oder meine Schwester die Hand erhoben, selbst wenn es dazu hin und wieder Anlass gegeben hätte. Niemals…Je mehr ich darüber nachdenke umso weniger verstehe ich es. Anna ist so ein besonders Mädchen. Überlegt und keinesfalls rebellisch oder sonst etwas, kein Grund der solch ein Handeln nur Ansatzweise rechtfertigen könnte. Ich möchte nicht, dass ihr jemand wehtut. Ich muss zurück. Sie muss weg von dort, ich kann und darf das nicht hinnehmen. Ich setze den Helm wieder auf und starte die Vespa, doch dann halte ich inne. Er wird ihr wieder wehtun, besonders wenn ich dort auftauche. Es war wohl ein Glück, dass er gerade vorhin nicht zu Hause war. Darum wollte sie nicht, dass ich sie nach Hause bringe oder abhole. Jetzt verstehe ich alles. Ich hätte es spüren müssen und wenn ich jetzt darüber nachdenke macht es auch Sinn. Sie hat wirklich Angst vor ihrem Vater. Ich erinnere mich an ihrem Blick, als sie an mir vorbeifuhren. Da war so viel Verzweiflung, dass es mir augenblicklich fast den Magen umdreht. Aber ihre Mutter ist nett, doch wie kann sie das alles mitansehen, oder gar dulden? Ich verstehe es nicht. Wenn ich sie zumindest anrufen könnte…Sie fehlt mir. Es zieht wieder in meinem Bauch. Ich muss nachdenken. Überlegen. Langsam rolle ich zurück zum Herzoghof. Meine Kumpels sitzen bei einer Flasche Wein vor dem Haus. Es ist ein lauer Abend, nicht so schwül wie die letzten Tage, aber das ist durchaus angenehm. Ich bin an diese schwülheißen Nächte nicht gewöhnt.
„Trinkst du auch ein Glas? Frau Herzog hat ihn vorhin herübergebracht“, fragt mich Sam und zeigt auf den leeren Platz neben ihm.
Mir ist absolut nicht nach Wein und das nicht nur, weil mir der Alkohol der vergangenen Nacht immer noch in den Knochen sitzt. Ich fühle mich mies und von Stunde zu Stunde kommt etwas dazu, dass mich noch mehr fertig macht. Der Kater, Janine, dass ich Anna blöd angemacht habe und sie jetzt auch noch so verletzlich, nein verletzt zu sehen, das halte ich nicht aus.
„Nein…Ich geh schlafen“, murmle ich und gehe an den Jungs vorbei.
„Hat wohl nichts gebracht bei Anna, was?“, ruft mir Daniel nach.
Ich kommentiere seine Frage nicht und gehe direkt auf mein Zimmer. Die letzten Wochen waren toll. Ich habe soviel gesehen und erlebt. Es war lustig und wir haben echt nichts ausgelassen. Dann kamen wir hierher. Es sollte eigentlich nur ein kurzer Abstecher auf dem Nachhauseweg werden, doch jetzt gefällt es uns allen so gut, dass wir noch ein bisschen bleiben wollen. Ein Grund bei mir war Anna. Sie weiß was sie will. Keine Ahnung ob sie mich auch gleich so wollte wie ich sie. Sie war schon ziemlich verschlossen, aber seit heute glaube ich den wahren Grund dafür zu kennen. Ich lasse mich samt Klamotten ins Bett fallen. Es wäre besser sie in Ruhe zu lassen. Ich mache ihr Schwierigkeiten. Ihr Gesicht und die Schmerzen hat sie bestimmt mir zu verdanken. Das will ich nicht…Nein…Ich atme aufgeregt durch und lege dabei meine Hände vors Gesicht. Wenn ich sie nicht gehen gelassen hätte heute Nacht, dann wäre das nicht passiert. Ich seufze tief. Ich kann sie nicht in Ruhe lassen. Es geht einfach nicht. Es ist noch gar nichts passiert zwischen uns außer vielen Küssen und ein paar wundervollen Berührungen, aber das ist auch gar nicht wichtig. Ich weiß, dass ich sie liebe. Gott…kann das sein? So ein Gedanke ist mir noch nie eingekommen. Noch nie. Ich schließe meine Augen und atme ruhig. Mama sagt immer, am Ende wird alles gut und wenn es nicht gut ist, dann ist es noch nicht zu Ende. „Alles wird gut Anna“, murmle ich und drehe mich zur Seite.