Читать книгу Und du bist nicht da - Kerstin Teschnigg - Страница 4

Kapitel 1

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Anna – Der erste Sommer


„Es ist doch noch nicht einmal acht. Musst du echt schon gehen?“ Ella sieht mich fast flehend an noch zu bleiben, während ich meine Sachen in meine Badetasche stopfe. Es kommen gleich noch ein paar Mädels aus unserer Klasse, ich würde echt gern bleiben, aber es geht einfach nicht. Ich schüttle den Kopf.

„Ja…Echt…Ich muss mich sowieso schon beeilen damit ich pünktlich daheim bin.“ Ich atme durch und schlüpfe in mein Kleid, zum Ausziehen von meinem nassen Bikini habe ich keine Zeit mehr. „Du weißt doch…“, seufze ich.

Ella erzwingt sich ein aufmunterndes Lächeln. „Sehen wir uns morgen? Es soll ja wieder so heiß werden.“

„Ich glaube schon“, nicke ich und erwidere ihr Lächeln.

Wir umarmen uns freundschaftlich zum Abschied, Ella lässt sich wieder auf ihr Badetuch fallen. Sie ist seit dem Kindergarten meine allerbeste Freundin. Ich würde wirklich noch gerne bleiben, aber ich will einfach keinen Stress. Die Liegewiese ist heute dem schönen Wetter geschuldet immer noch ziemlich voll. Es sind Ferien, dementsprechend chillig ist die Stimmung. Der See ist ruhig, die Sonne verschwindet zwar langsam, aber genau das macht diese besondere Sommerstimmung aus. Echte Sommervibes eben. Aus den Boxen der angeschlossenen Beach Bar strömt coole Musik, genau mein Beat. Mein Blick schweift auf dem Weg Richtung Ausgang nach links. Viele Badegäste haben es sich bereits an der Bar gemütlich gemacht und genießen den immer noch sehr warmen Abend bei ein paar Cocktails. Janine klebt am Schoß eines Burschen und befummelt ihn auf eine Art, die mir allein beim Zusehen peinlich ist. Ella hat mir erzählt er und seine drei Freunde kommen aus England. Sie wohnen seit ein paar Tagen im kleinen Bauernhaus vom Weingut Herzog nicht weit von hier. Anscheinend machen sie eine Tramptour quer durch Europa. Keine Ahnung. Ist mir eigentlich auch egal. Für mich sind sie typische Touristen. Bier trinken und sich befremdlich benehmen. Den anderen Mädels scheint das aber zu gefallen. Einige „Dorfschönheiten“ scharen sich um die Burschen. Ich verdrehe für mich selbst die Augen. Janine ist in ihrem Element. Sie kennt keine Zurückhaltung. Dabei bemerkt sie nicht einmal, dass sie ausgenutzt wird. Welche ernsthaften Absichten können junge Männer die vermutlich noch nicht einmal zwanzig Jahre alt sind schon haben? Die Burschen sind doch bald wieder weg und keiner von ihnen wir sich an sie erinnern. Dann ist sie nicht mehr als eine von vielen auf einer Reise durch Europa. Wobei, wahrscheinlich will sie genau das. Sie lässt keine Chance auf Körperkontakt aus und nachdem sie im Dorf schon fast alle Typen durchhat, müssen es jetzt eben diese Jungs sein.

„Bis Morgen Anna!“, lächelt mich Finni, die bei der Eintrittskasse sitzt, an und reißt mich aus meinen Gedanken.

„Bis Morgen“, erwidere ich freundlich und gehe zu meinem Fahrrad. Wenn ich pünktlich zu Hause sein will, muss ich mich jetzt wirklich beeilen. Ich klemme meine Badetasche auf den Gepäcksträger und fahre los. Ein Stück muss ich auf der Hauptstraße fahren, dann biege ich in die schattige Seitenstraße gesäumt von Apfel- und Birnbäumen ein. Ich genieße den lauen Fahrtwind der durch meine feuchten Haare weht. Es duftet nach frisch gemähtem Heu, das langsam durch die abendlichen Sonnenstrahlen trocknet. Ich amte tief ein. Mein selbst versursachter Wind verschafft mir ein wenig Abkühlung, die zwischen den hohen Maisfeldern erfrischend angenehm ist. Hier staut sich die schwülheiße Luft und der Schotterweg ist von der Wärme des Tages ordentlich aufgeheizt. Die letzten Tage war es echt heiß. Ein richtig toller Sommer. Ich genieße den Lufthauch der unter mein Kleid fährt, bevor es ein Stück bergauf geht. Nach einigen Metern ist der kühle Wind von gerade eben vergessen. Ich trete angestrengt die letzten Meter des Hügels hoch, ich darf nicht schieben, sonst schaffe ich es niemals mehr pünktlich nach Hause. Langsam bilden sich Schweißperlen auf meiner Stirn und mein Dekolletee fühlt sich schweißfeucht an. Ich spüre wie ein paar Schweißtropfen meinen Rücken hinunterrinnen und am Saum meines Bikinihöschens stoppen. Nur noch ein Stück, dann geht es endlich bergab und den Rest bis nach Hause bleibt das so. Hinter mir höre ich Motorengeräusche aus der Ferne. Gerade als ich die Anhöhe geschafft habe, donnern drei Vespas an mir vorbei.

„Hey Baby!“, pöbelt mich einer der Fahrer lautstark an, aber ich sehe nicht zur Seite. Stehen bleiben muss ich jetzt aber doch, weil diese Idioten mit voll Speed die Schotterstraße hochgefahren sind. Dabei haben sie so viel Staub aufgewirbelt, dass ich kaum Luft bekomme. Alle drei Typen haben ein Mädchen mit dabei. Ich schätze es sind die Engländer, denn der Herzog Hof liegt nicht weit von hier. Ich schiebe kurz bevor ich wieder aufsteige und es endlich bergab geht. Ich lasse die Räder laufen, dann beginne ich wieder zu treten um den Schwung nicht zu verlieren. Als ich mich umdrehe, weil ich bemerke das etwas mit dem Hinterrad nicht stimmt ist es schon zu spät. Ich will noch bremsen, doch das gelingt mir nicht mehr. Der Hinterreifen blockiert so abrupt, dass es mir den Lenker verschlägt und ich kopfüber stürze. Alles geht so schnell, ich befürchte es dauert nicht länger als eine Zehntelsekunde. Es macht einen dumpfen Knall. Dann ist es leise.

„Hey…Mach deine Augen auf…“, höre ich eine weit entfernte Stimme. Langsam und beschwerlich folge ich dieser Aufforderung. Mein Kopf tut weh und mein Bein auch. Doch ich blicke direkt in die außergewöhnlichsten blauen Augen die ich jemals gesehen habe. Auch wenn ich komplett benommen bin, diese Augen sehe ich so klar, wie selten zuvor etwas. Sie sind nicht einfach blau. Eher hellblau. So hellblau, dass es fast schon unnatürlich ist. Alles dreht sich. Ich spüre zart eine Hand über meine Wange streichen. Ich schnappe nach Luft, der Sturz hat mir die Fähigkeit normal zu atmen genommen.

„Aua…Scheiße…“, murmle ich und fasse mir an meine Stirn. Zeitgleich fällt mir ein, dass ich jetzt definitiv zu spät komme. Eine befremdliche Panik baut sich in mir auf. Ich will mich aufrichten, doch die blauen Augen hindern mich daran.

„Warte, geht das? Are you ok? Du blutest. Ich kann einen Krankenwagen rufen, oder den Arzt.“ Er dreht sich zu Seite. „Wo ist denn hier der Doktor? I think she needs a doctor.“

Janine beugt sich über mich und grinst schadenfroh. „Brauchst du die Rettung?“

Ich schiebe den blauäugigen Typen zur Seite und richte mich etwas schwerfällig auf.

„Nein, ich brauch die Rettung nicht. Es geht schon“, murmle ich und versuche Janine dabei nicht anzusehen, wäre sie nicht aufgetaucht, würde ich nicht so schnell aufstehen wollen. Ich blicke auf mein Schienbein, das eine ordentlich Schürwunde ziert, in der Schotter klebt, gleich wie in meinen Ellbogen. Mein Arm lässt sich etwas schwer abbiegen, aber ich glaube es ist nichts gebrochen. Mein Fahrrad liegt im Straßengraben. Kurz verschaffe ich mir einen Überblick über das was gerade passiert ist. Mist. Mir ist schwindelig und ich fühle mich komisch. Trotzdem muss ich jetzt weiter. Darum stehe ich auf und putze den Staub von meinem Kleid, auch wenn das nicht viel bringt. Ich will das Rad hochheben, doch der junge Typ meint er hilft mir und zieht es für mich aus dem Graben.

„Aber ich bring dich nach Hause? Wo wohnst du?“, fragt er und sieht mich musternd an. Fast als glaube er nicht, dass ich wirklich ok bin. Zu den blauen Augen und dem musternden Blick gesellt sich ein strahlendes Lächeln. Wow…auch noch schöne Zähne.

„Das ist nicht nötig…Danke…“ Ich greife nach meinem Fahrrad. Er zieht den Schulterriemen meiner Tasche aus einer Speiche.

„Der hat sich eingefangen“, stellt er fest.

Ich sehe ihn kurz an, er ist einer der Engländer, spricht aber ziemlich gut Deutsch. Er hat zwar einen Akzent und manche Wörter kommen etwas schief daher, aber es reicht um ihn gut zu verstehen.

„Verfangen“, bessert ihn Janine aus, während ich ihn immer noch ansehe.

Ich ignoriere sie, ich hasse es, wenn man so herablassend ausbessert, aber von ihr kann man nichts anderes erwarten. Sie ist zwar hübsch, unumstritten, aber sie ist blöd wie ein Ballen Stroh.

„Bist du sicher? Du blutest.“ Er greift sich an die Nase um mir zu signalisieren, dass meine nicht ok ist.

Ich fasse darunter und sehe auf meine blutigen Finger.

„Warte.“ Er dreht sich um und geht zur Vespa, die er ein paar Schritte von meiner Unfallstelle abgestellt hat.

„Die anderen warten bestimmt schon auf uns, Anna wohnt doch gleich da vorn“, beschwert sich Janine und zappelt ungeduldig herum.

„Let them wait…“, murmelt er und kramt im Fach der Vespa. Er kommt mit einem sauberen Taschentuch zurück und drückt es mir unter die Nase.

„Danke“, sage ich etwas verlegen ohne ihn anzusehen.

Ich fühle mich immer noch benommen von dem Sturz und mir ist es total peinlich hier so zu stehen. Ich weiß nicht recht was ich sagen oder tun soll. Das kann auch wirklich nur mir passieren. Janine verdreht genervt die Augen.

„Danke“, wiederhole ich um aus dieser blöden Situation zu entkommen. Ich nehme meine Tasche vom Gepäcksträger, hänge sie mir über die Schulter und will mein Fahrrad losschieben, als er mich am Arm sanft zurückhält.

„Ich kann dich nach Hause fahren. Wo wohnst du?“

Janine atmet hörbar ungeduldig durch.

Ich schüttle den Kopf. „Nein. Es geht schon“, sage ich etwas eindringlicher und gehe los.

„Kommst du jetzt? Es geht ihr doch gut“, beschwert sich Janine. Ich schließe kurz meine Augen und atme durch.

„Anna?“, sagt er mir etwas lauter hinterher.

Ich drehe mich um.

„Bist du sicher?“ Er blickt abwartend zu mir.

Ich nicke und lächle ihn an. Keine Ahnung warum. Weil er sich Sorgen um mich macht. Weil er Janine ignoriert. Weil er süß ist. Ziemlich süß sogar.

„Danke, ja, es sind doch nur ein paar Kratzer.“

„Ok…Wenn du sicher bist?“ Er fährt mit der Hand durch seine dunkelblonden Locken, die im Rest der abendlichen Sonne fast goldig schimmern.

Erneut nicke ich. „Tschüss…“

Ich gehe wieder los und versuche nicht zu humpeln, auch wenn ich das lieber tun würde, weil mein Bein echt weh tut, aber ich will nicht den Anschein machen empfindlich zu sein.

„Bye…“, höre ich ihn noch sagen.

Janine motzt etwas, dann höre ich nicht mehr was sie sprechen, weil er die Vespa wieder startet. Er rollt langsam an mir vorbei. Ich muss einfach noch einmal zu ihm sehen. Unsere Blicke treffen sich, wieder lächelt er und wieder erwidere ich es. Verlegen. Mir wird kurz heiß. Vermutlich bin ich jetzt rot. Dann fährt er an mir vorbei, Janine dreht sich noch einmal um und schlingt ihre Arme fast demonstrativ um seinen Bauch. Sie ist so eine blöde Schlampe. So eine blöde Schlampe... Ich atme durch. Auch wenn ich schon viel zu spät bin, schiebe ich mein Fahrrad den restlichen Weg. Erstens weil ich glaube, dass der Vorderreifen vom Sturz einen Achter hat, zweitens weil mir der Kopf weh tut und drittens hoffe ich, dass der Unfall mein Zuspätkommen zu Hause rechtfertigt. Erst jetzt merke ich wie weh mir alles tut. Die Schürfwunden brennen ordentlich. Ich lehne mein Fahrrad an die Holzwand vom Schuppen und gehe über den Hof ins Haus. Ich bin auf alles eingestellt. Viel schlimmer als mein Sturz kann es heute auch nicht mehr werden. Ich gehe hinein und schlüpfe aus meinen Flip Flops. Mama schaut aus der Küche.

„Anna! Ach du meine Güte…Was ist passiert?“

Ich zucke mit den Schultern. „Ich bin gestürzt. Mit dem Fahrrad.“

„Komm, setz dich in die Küche. Das müssen wir sauber machen. Da sind ja überall kleine Steinchen in den Abschürfungen. Da ist aber nichts gebrochen oder?“

Nein…Kann ich das nicht unter der Dusche machen?“, seufze ich.

Mama schüttelt den Kopf und meint der Schotter muss aus der Wunde. Ich sehe auf die Küchenuhr. Fast halb neun.

„Ist er nicht da?“, frage ich vorsichtig.

„Er musste noch einmal weg.“ Mama streicht durch meine Haare und über meine Wange. Ich amte erleichtert aus und lehne mich zurück. Sie holt das Desinfektionsspray und gibt mir ein kaltes Tuch für meine immer noch blutende Nase.

„Wie ist denn das passiert?“, fragt sie als ich zusammenzucke, weil das Spray fürchterlich brennt.

Ich schließe kurz meine Augen. „Der Riemen von meiner Tasche hat sich verfangen.“

Es lässt sich nicht verhindern, dass ich trotz dem Brennen lächeln muss. Ich habe noch nie solche Augen gesehen. Wunderschöne, fast durchscheinend und aus seinem Gesicht stechende hellblaue Augen. Er ist echt nett. Aber was will er mit Janine? Das verstehe ich absolut nicht.

„Ich glaube mein Fahrrad hat einen Achter…“, murmle ich.

Mama seufzt, sagt sonst aber nichts mehr. Nach ein paar Minuten hat sie alles sauber gemacht und ich bin froh endlich unter der Dusche zu stehen. Die Schürfwunden brennen zwar ordentlich, aber das vergesse ich gleich wieder, wenn ich an das schöne Lächeln denke. Ich weiß nicht einmal wie er heißt. Ich hätte freundlicher sein können. Dankbarer. Ich hätte ihn nach seinem Namen fragen sollen. Mein Gesicht unter den Wasserstrahl haltend schüttle ich den Kopf. Mist. Selbst wenn ich die Augen schließe ist er noch da. Ich seufze und greife an die Stelle an meiner Wange über die seine Finger strichen.

Kurz nach neun liege ich im Bett. Mir tut alles weh und trotzdem schlafe ich mit einem Lächeln auf den Lippen ein.










Und du bist nicht da

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