Читать книгу Pipeline - Klaus Bock - Страница 17

Prora. „Sandkiste“

Оглавление

25. Mai 2019. Der Tag versprach vielversprechend zu werden, fand Kalle, als er sein Strandcafé „Sandkiste“ in Prora Süd öffnete.

Die Sonne schien seit Stunden vom strahlend blauen Himmel. Anfang Mai ging sie schon kurz nach fünf Uhr morgens auf. Der Sand blinkte weiss in der Sonne, war aber noch kühl, und das Wasser lud nur vom Ansehen her zum Schwimmen ein. Für die jetzt schon anwesenden Touristen war es sogar zum Planschen noch viel zu kalt.

Kalle lockte das Wasser eh nicht, er verkniff sich das Baden, wo er konnte, denn er war Seemann durch und durch. Was ein echter Seemann ist, der vermeidet es, Schwimmen zu lernen, denn falls einem mal „der Pott unterm Arsch wegsäuft“ (´tschuldigung, aber so sagen das Seeleute [vermute ich]), will Seemann nicht lange, durch im Endeffekt doch sinnlose Schwimmversuche, mit dem Meer kämpfen müssen, da soll „es“ einfach schnell gehen.

Außerdem sagte Kalle, wenn ihn jemand, zum Beispiel eine Badenixe im knappen Badeanzug, zum Eintauchen überreden wollte, dass Gott ihm doch bestimmt Kiemen gemacht hätte, wenn er wolle, dass er schwimme. Meist fügte er noch an, dass sie, wenn sie allein wäre, nachher – also nach dem erfrischenden Bade – gerne auf ein Gläschen Heisses zum Aufwärmen oder Kaltes zum Vorglühen oder so in die Sandkiste kommen könne – totaler Chefservice inklusive. Wie der „Chefservice“ ausfiel, hing von der Nixe ab... Kalle konnte jedenfalls sehr charmant sein! Wenn er wollte. So viel dazu.

Was er nicht sagte war, dass er bei karibischen Wassertemperaturen und der richtigen Bikini-(kaum)bekleideten Begleitung auch zum Baden zu überreden gewesen wäre...

Mandy, seine fast immer gut gelaunte Bedienung, nahm sich einmal wieder die Freiheit, erst irgendwann im Laufe des Vormittages aufzutauchen – wenn überhaupt, denn offenbar gab es einen neuen Supermann in ihrem Leben, und der schien diesmal Langschläfer zu sein. Sie hatte ihn als Typ „mittelgroßer schlanker Triathlet mit mächtig vielen Muckis“ beschrieben, und – mit einem kleinen Lächeln – als gut gebaut und sehr leistungsfähig, was immer sie damit meinte. Mandy legte es jedenfalls nicht so sehr auf Gespräche über die Entstehung des Universums, des Lebens und dem ganzen Rest an, auch mathematische oder philosophische Diskussionen waren nicht ihr „Ding“. Sie war nicht dumm, das keinesfalls, aber sie meinte manchmal, wenn sie mit Kalle redete, dass sie im Job schon genug sagen müsse, und das sei manchmal ein fürchterlicher Scheiß, was Kerle von sich geben, wenn sie balzen –das reiche ihr – da müsste sie nicht auch noch abends...

Die „Sandkiste“ war nichts Besonderes, eigentlich im Grunde nur eine aufgemotzte Bretterbude am allerdings wunderbar weißen Südstrand von Prora, die ganz früher einmal als Bootsschuppen für Fischerboote und -netze gedient hatte. Das war lange her, lange bevor die Nazis ganz in der Nähe das KdF-Bad Prora aus dem Boden gestampft hatten.

Damals begann für wenige Monate ihr neues Leben als Feldküche für die Bauarbeiter. Auch lange her. In den 80er Jahren hatte ein Matrose der Hochseereederei der DDR, der wohl mal auf Kuba gewesen war, die „Sandkiste“ in eine karibische Bar umgebaut, in der vor allem Rum-Mischgetränke von „Kubanerinnen“ aus Sachsen ausgeschenkt wurden. Nur die geringste Menge des hier ausgeschenkten Rums kam tatsächlich aus Kuba – Zucker brennen konnte jeder Rübenbauer! Aber für die wichtigen Gäste gab es schon den echten. Für ein paar Jahre erlebte die Bar einen Boom, bis sie nach der Wende wieder in einen genauso tiefen Dornröschenschlaf verfiel wie die Nazi-Bauten in der Nachbarschaft.

Wobei verfiel genau das richtige Wort war, um ihren damaligen Zustand zu beschreiben, als Kalle die „Sandkiste“ erworben hatte, um sie wieder als Strandbar herzurichten. Inzwischen kamen abends sogar Touristen aus dem sich mondän gebenden Binz oder aus Sellin, das vom Image her Binz deutlich hinterherhechelte.

Kalle hatte mit viel Handarbeit aus einem mehr oder weniger zusammengefallenen Bretterhaufen seine Strandbar zusammengewerkelt. Er verschob die alte Bude dabei um mehrere einhundert Meter den Strand entlang in Richtung Binz und ca. 25 Meter vom Strand weg in den lichten Kiefern- und Birkenwald auf den Dünen. Er baute sie genau über einen alten Bunker wieder auf, der vergessen und versteckt tief im Sand gelegen hatte, den er nun als Keller benutzte, von dem niemand wusste, auch Mandy nicht (naja, vielleicht doch, sie war ja, wie gesagt, nicht dumm).

Die so aus originalen und neuen Brettern, Fenstern und Türen neu entstandene „Sandkiste“war nicht schick, sie war nicht fancy, vor allem war sie nicht mondän – sie war einfach nur die „Sandkiste“. Die lebte gut vor allem vom Charme und Witz ihres Besitzers und den diversen Tees, die er aus allen Anbaugebieten der Welt bezog, und die er selbst in einem kleinen Anbau zu den von seinen Gästen geliebten Köstlichkeiten mischte. Wer wollte, bekam auch auf Rügen gerösteten Kaffee in diversen Sorten.

Die „Sandkiste“ war offiziell von Mitte Oktober bis Ende April geschlossen – außer es war Weihnachten, Sylvester oder Ostern oder kein Feiertag aber extrem schönes Wetter, denn dann strömten sogar die Stralsunder auf die Insel, um mal nachzusehen, was die Touristen an schönen Flecken noch für sie hinterlassen hatten. In diesen Monaten nahm Kalle alle notwendigen Reparaturarbeiten mit vielen kommunikativen Pausen persönlich vor.

So eine Bretterbude in den Stranddünen – das war die „Sandkiste“ schließlich – und vor allem die große Holzterrasse mit ihrem Unterbau aus in den Boden gerammten Pfählen war im Winter sogar an der Ostsee Wetterunbilden ausgesetzt, die auch schon mal mit Hochwassern einher gingen, die am Unterbau der Terrasse nagten – und im Sommer durfte man die Wirkung der Sonnenstrahlen nicht unterschätzen!

Also gab es viel zu tun. Kalle fand das eigentlich gut, er arbeitete gerne körperlich. Dabei hätte er es sich leisten können, alle Arbeiten von Handwerkern der Insel ausführen zu lassen, aber er wollte es lieber selbst machen.

Bei sonnigem Strandwinterwetter konnten Strandläufer allerdings auch im frühen Frühjahr Glück haben, und Kalles „Sandkiste“ als Belohnungshäuschen anlaufen. Wenn er viel Lust hatte und gut drauf war, öffnete er die Bude für einige Sonnenstunden und stellte vor der Bude ein oder zwei Tische und Stühle auf. Es gab alles, was das Herz des Strandwanderers begehrte. Er hatte sogar ein Schild gemalt: „Tee pur, Tee mit Schuss, Kaffee pur, Kaffee mit Schuss oder Schuss pur... Alles auch vegan!“. Wer etwas anderes wollte, hatte eben Pech gehabt. Da ließ er nicht mit sich reden. Kinder, und nur die, konnten – wenn sie sich benahmen – eine Fanta (ohne Schuss) haben.

Die Bude war außen weiß und innen blutrot gestrichen (Kalle holte die „richtige“ Farbe aus Norwegen). Innen bot die „Sandkiste“ Platz für einen einfachen Tresen für sechs Barhocker und sechs Tische mit jeweils vier Stühlen. Neben der Holzerrasse gab es noch einen Außenbereich, der direkt an der Hütte mit diesen typischen DDR-Wege-Betonplatten belegt, und vom Wind immer mit einer dicken oder dünnen Schicht weichen Sandes bedeckt war. Aus der Dicke der Sandschicht konnten Kenner auf die Windstärke schließen. Fegen fand Mandy meistens nutzlos.

Gegen den Wind mehr oder weniger gut geschützt saß man auf der Holzterrasse hinter (unten) Holz- und (oben) Glaswänden, die einen ständigen Kampf gegen den vom Wind verfrachteten Sand kämpften, oder in einigen kuscheligen Strandkörben, die man nicht im Voraus reservieren konnte – „Nee, so geiht dat nich, first come, first seat“, lachte Mandy bei Reservierungswünschen.

Kalles Strandkörbe waren – natürlich – Ruganer Sonderanfertigungen nach Zeichnungen, die ein befreundeter schwedischer Strandkorbdesigner für drei maximal leicht dicke oder für vier dünne Gäste exklusiv für Kalle entworfen hatte, und mit denen Kalle 2016 einen in der Szene viel beachteten internationalen Strandkorbpreis gewonnen hatte.

Ein anderes Highlight der „Sandkiste“, war ein Bezahl-Fernrohr, das lange auf der Binzer Seebrücke gestanden und dann irgendwann offenbar dem modernen Image-Anspruch der Touristenverwaltung nicht mehr genügt hatte: Alt, abgeschabt und nur manchmal und nur mit Markstücken zum Dienst zu bewegen. Mandy hatte das Ding auf einem Bauhof gefunden, Kalle hatte es für ein paar „schlappe“ Euro erworben und auf der Terrasse vor der „Sandkiste“ aufgebaut. Mit dem Fernrohr hatte man nach links einen sehr guten Blick auf den Fährhafen von Mukran und die dort manchmal liegenden schweizer (!) und russischen Kran- und Rohrlegeschiffe sowie auf die Rohrtransporter, die die in Mukran lagernden Pipeline-Rohre zu den Rohrlegern auf hoher See brachten, und nach Sassnitz. Nach rechts fiel vor allem das Binzer Kurhaus ins Auge. Ein Markstück konnte man bei Mandy jeweils für eine Zweieuromünze eintauschen. Wenn Vater zu viele Markstücke für die Kinder erworben hatte, kaufte Mandy vom Vater die nicht verbrauchten Markstücke für 50 Ct. zurück. Ein gutes Geschäft, das Kalle ihr gerne gönnte, den Schlüssel zum Einwurf verwahrte er.

Die Speisekarte der „Sandkiste“ bot natürlich keine überbordend große Auswahl, sie war übersichtlich und bescheiden: Diverse Tee- und Kaffeesorten und -zubereitungsarten und ganz einfache Essen von der Currywurst, für die die „Sandkiste“ allerdings mindestens so berühmt war wie für ihre Strandkörbe, und die 75% der Gäste „mittelscharf“ bestellten, über Toast Hawaii oder diverse Schinken-Ei-Thunfisch-Toasts (sogar venezianisch angehauchte Bacalau-Schnittchen gab es) bis zum guten alten Käseigel für 4 Personen, der vor allem von Älteren gerne mit einer Flasche Wein von der Saale bestellt wurde. Im Sommer war Rotkäppchen-Sekt „lieblich“ vor allem bei Runden, von in der DDR aufgewachsenen Damen, der absolute Renner, der nach schönen Wochenenden auch kurzfristig wieder nachbestellt werden musste.

Bei gutem, windarmen Wetter saß Kalles Papagei „Raúl“ von Touristen und den Möwen bewundert, auf seiner Stange draußen vor der Bude, bei schlechtem Wetter und ab Herbst hatte er seinen Stammplatz am Fenster neben der Theke. Denn der Papagei hatte einerseits schlimmes Rheuma in den Füßen und war dann doch wieder neugierig genug, dass er so lange Krach gemacht hatte, bis er den Platz am Fenster erobert hatte. Das Rheuma war so arg fortgeschritten, dass er sich nur noch selten auf Kalles Schulter setzte, denn er konnte sich dort kaum noch festhalten. Für den täglichen gemeinsamen Strandspaziergang – bei sehr gutem Wetter – hatte sich Kalle für die rechte Schulter, das war Raúl´s Lieblingsschulter, aus einem ledernen Schulterhalfter eine Schulterhülle machen lassen, in deren Schlupflöcher Raúl seine Füße stecken konnte – dann ging es.

War er mit dem bunt gefiederten Vogel unterwegs, glaubten kleinere Kinder häufig, dass sie mit Kalle einen echten Seeräuber getroffen hatten. In diesem Falle setzte er sich mit Raúl auf der Schulter in den Sand und erzählte erfundene Geschichten aus seinem Seeräuberleben in der Karibik. Raúl genoss die Aufmerksamkeit der Kinder und fluchte im richtigen Moment gotteslästerlich auf Spanisch. Manche dieser Geschichten, zum Beispiel die von der Isla de Mona oder von der Isla Monito, waren von der Wirklichkeit gar nicht sooo weit entfernt... Aber das wussten weder die Kinder noch die Eltern, von denen manche ihre Kleinen aus dem Kreis der atemlos zuhörenden Kinder wegholten, weil sie um die seelische Gesundheit ihrer kleinen Racker fürchteten, und weil Kalle manchmal eine nicht-gendergerechte Sprache verwendete und auch vor Igitt-Worten wie Indianer oder Negersklave nicht zurückschreckte. Aber das waren die Mütter und Papas, die zuhause auch nicht erlaubten, dass Kevin oder wie immer er heißen mochte, die brutalen Geschichten vom Käptn Blaubär sehen oder lesen durfte.

Kalle hatte Raúl als schon erwachsenen, aber mit ca. 30 Jahren noch halbwegs jungen Papagei, um 1990 in Gun Bay auf der Insel Grand Cayman bei einem Pokerspiel vom Besitzer des Cayman Parrot Sanctuary gewonnen, bei dem sein Gegner zu hoch gepokert und im falschen Moment „all in“ gerufen hatte. Raúl hatte auf dessen Schulter gesessen, das Debakel miterlebt und wechselte ohne Protest nach dem Spiel die Schulter. Er schien mehr auf Sieger als auf „Looser“ zu s„i“tzen. Raúl konnte auf Spanisch, Englisch und Deutsch fluchen, tat es aber selten. Wenn er deutsch sprach, war sein Lieblingsspruch „Aktunk, Kaventsmann von Steuerbord“.

Nur wenige Gäste der „Sandkiste“ wussten, dass ein Kaventsmann auf hoher See eine riesige Welle von ca. 30 Metern Höhe bedeutete. Raúl hatte das in den Jahren von einem allzu ängstlichen Steuermann gelernt, der das bei jeder dritten Welle von Steuerbord gerufen hatte, als Raúl gemeinsam mit Kalle zur See gefahren war. Da Raúl seekrank wurde, vermutete Kalle, dass der Vogel ganz froh gewesen war, als Kalle die Seefahrt endlich an den Nagel gehängt und sich für beide auf „Landgang“ entschieden hatte.

An der Wand hinter der Theke hingen zwei alte Schwarz-Weiß-Fotos, die mit Heftzwecken im Holz befestigt waren. Eines zeigte einen Hochsee-Bergungsschlepper in schwerer See vor einer weit hinten kaum sichtbaren, im Seegang schief im Wasser liegenden Bohrinsel. Das andere einen Bohrinselversorger, der eine offenbar sehr hohe Welle beinahe senkrecht in der Welle stehend abritt. Diesmal in der Nähe einer Bohrinsel. Licht, Bohrinsel und Schiff ließen auf die Nordsee schließen. Aber der Schluss war falsch, es handelte sich um ein Offshore-Ölfeld in der russischen arktischen See. Kein Wunder, dass der Papagei aus der Karibik schon vor Kälte auf den Schiffen seekrank geworden war.

Kalle schaltete auch heute wie immer als erstes die italienische Kaffeemaschine an, dann stellte er die Tische draußen an ihre Plätze, und schließlich brachte er die Stühle hinaus. Dann nahm er einen Besen und fegte Sand aus den Strandkörben, den der Wind wie in jeder Nacht in ihnen angehäuft hatte. Zuletzt fegte er Sand von den alten Betonplatten und letztlich die Holzbohlen seiner Veranda. Schon weil Mandy sich standhaft weigerte, „den Blödsinn“ zu machen, weil der Sand morgen ja doch wieder da wäre.

Bevor er die „Sandkiste“ schließlich für die ersten Gäste öffnete, schaute er noch einmal durch die unauffällige Klappe im Holzboden der „Sandkiste“, kontrollierte, ob im Keller alles seine Ordnung habe. Wie jeden Tag war auch heute alles pico bello. Damit war die „Sandkiste“ bereit für die ersten Gäste, und er konnte sich in aller Ruhe den ersten Kaffee zubereiten. Und wie immer legte er jeden Morgen die beiden geladenen alten Signalpistolen, die er damals vom Bergungsschlepper hatte mitgehen lassen, zurecht – da lagen sie zwar schon, aber er verrückte sie um wenige Millimeter – den einen Morgen nach links, den nächsten Morgen nach rechts. Und am nächsten Morgen war wieder der erste Morgen, und so weiter. Er glaubte nicht, dass die Signalraketen resp. die Raketchen in ihnen noch funktionierten, und er war nie in die Situation gekommen, sie ausprobieren zu müssen.

Diese Minuten des ersten (und zweiten) Kaffees waren Kalle heilig. Selten, aber es kam vor, trank er morgens auch einen griechischen Bergtee, der einem den Kopf so schön klar machte, wie Kalle betonte.

Pipeline

Подняться наверх