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Prora. „Sandkiste“
Оглавление9. Juni 2019. Dass Mandy noch nicht da war, war nicht weiter schlimm, denn die ersten Gäste würden eh nicht vor 11.00 Uhr eintrudeln, die Stammgäste wussten, dass es im Strandcafé frühestens den ersten Tee oder Kaffee für sie gab, wenn die Sonne schon fast den höchsten Punkt ihrer Himmelsbahn erreicht hätte. Die „Sandkiste“ war eben kein Frühstückscafé.
Vor 11.00 Uhr war selten geöffnet, eher sehr selten. Und auch nur dann, wenn Mandy gerade keinen „Kerl“ hatte oder der, den sie hatte, schon ziemlich lange „ihr Kerl“ war. Denn Mandy stand der Sinn nach Abwechslung. Nicht im Job, da war sie Kalle treu, aber im Bett, da war sie keinem wirklich treu. Naja, ihre Sache...
Mit jedem neuen Mann wechselte sie gerne auch Nationalität und Rasse ihrer „Macker“. Es war ihr scheißegal, dass es nach neuesten Genderregeln angeblich gar keine Menschenrassen mehr gab. Für sie war viel wichtiger als die Rasse, dass ihr jeweiliger Lebensabschnittsbegleiter „rassig“ war, gut aussah und nicht an ihr klebte. Das konnte sie nun gar nicht ab!
Und der jeweils Neue sollte schon ziemlich anders aussehen als die zwei oder drei Vorherigen, schon damit sie ihn nicht aus Versehen im falschen Moment mit einem der letzten verflossenen Vornamen ansprach. Sie fand es komisch, dass die Kerle auf so einen faux pas so seltsam reagierten. Mein Gott...!
Wenn es also vorkam, dass es niemanden gab, den sie für ein paar Wochen aufnehmen wollte, konnten erste Gäste auch schon um neun Uhr kommen. Insider und Stammgäste wussten, dass Mandy an diesen Tagen die alte Kommandoflagge „Stander Z“ (was bei der Marine im ersten Weltkrieg bedeutete, dass die Schnellboote angreifen sollten) am Fahnenmast der „Sandkiste“ vorheißte, sobald sie die „Sandkiste“ für Gäste bereit gemacht hatte.
Kalle hatte schon lange aufgegeben, darauf zu hoffen, dass Mandy vor ihm in der „Sandkiste“ wäre, dass die vor dem Wind schützenden Scheiben schon gewienert und in ihre Halterungen gesteckt wären, die Tische und die dazu gehörigen Stühle schon aufgebaut und die Hand voll Strandkörbe schon vom Sand, den der Wind über Nacht in sie verfrachtet hatte, befreit worden wären, und – am wichtigsten für ihn – die große Kaffeemaschine schon warmgelaufen war, denn wenn er ankam, brauchte er schnellstmöglich den ersten (und zweiten) Kaffee des Tages.
Den Kaffee bezog er von befreundeten Kaffeerösterinnen, die nur kleine Mengen und die sehr individuell rösteten. Deshalb hatten seine Kaffees auch keine Namen, sondern fortlaufende Nummern – die konnten sich Touristen am ehesten merken, hatte er gelernt. Und wenn eine Nummer „aus“ war, war sie eben aus und kam auch nicht wieder. Eine Nummer, die einmal „aus“ gewesen war, wurde also nie wieder vergeben. Im Moment waren die Nummern 905 bis 925 zu haben.
Seine Teemischungen stellte er in einem gläsernen Anbau der „Sandkiste“ her – seine Hexenkammer nannte er das Kabuff. Er hatte sich über die letzten Jahre zu einem wahren Meister im Teemischen entwickelt. Seine Tees waren einige der Gründe, warum die Gäste von der ganzen Insel kamen, ein anderer Rügens beste Currywurst und ein dritter die Döntjes, die Kalle ab und zu zum Besten gab.
„He lücht“, sagten Gäste aus Hamburg („er lügt“). Für einen Hamburger ist das ein großes Kompliment, denn für die besten Hamburger Hafenrundfahrt-Führer ist „He lücht“ so etwas wie ein Arbeiter-Adelstitel, den man sich über Jahre mit vielen sehr gut erzählten Geschichten erst einmal sauer verdienen muss.
Die Jungs von den Barkassen waren wirklich gut darin, das waren keine billigen TV-Comedians, die von Witzen unter der Gürtellinie lebten, das waren Schauspieler vom Allerfeinsten, die ihre Geschichten und ihre Rolle selbst erlebt oder mindestens erfunden hatten. Und sie in einem speziellen Singsanggemisch aus Plattdeutsch, hamburgischem Hafenplatt und Hochdeutsch (vom letzten deutlich am wenigsten) erzählten.
Und so ein Erzählkünstler konnte Kalle auch sein, wenn er wollte oder wenn er gut drauf war. Wäre Kalle auf einer Barkasse im Hamburger Hafen tätig gewesen, wäre er sicherlich der beste der Besten gewesen. Kalle hätte auf jeder Ohnesorg-Theaterbühne Ovationsstürme für seine Geschichten eingeheimst. Aber er erzählte seine Döntjes aus der Zeit als Schnellboot-Kapitän in der DDR-Marine und aus seinen Nach-der-Wende-Erlebnissen auf Bergungsschleppern, Bohrinselversorgern und Containerfrachtern eben nur selten, eigentlich viel zu selten, und wenn, dann nur im kleinen Kreis von Leuten. Leuten, die er kannte und denen er vertraute.
Er musste eigentlich auch nicht mehr arbeiten – ein Kapitän eines Bergungsschleppers ist an den Prisen beteiligt. Und er hatte das Glück gehabt, mindestens ein sehr großes Schiff in Seenot auf den Haken genommen und in den sicheren Hafen gebracht zu haben. Das hatte sich sehr gelohnt!
Die „Sandkiste“ und die Teemischerei betrieb er als Hobby. Gehörte man zu zum Kreis der Insider (und es dauerte, bis man sich dazu zählen konnte), durfte man sich glücklich schätzen, denn Kalles Geschichten waren einfach gut, wurden noch besser vorgetragen – und hatten meistens den Vorteil, sogar wahr zu sein!
Außerdem war das Zuhören verbunden mit Rumgetränken und Zigarren aus Kuba, die Raúl – nein, nicht der Papagei, der andere Raúl – in offenbar ewiger Dankbarkeit regelmäßig schicken ließ. Das waren Zigarren, die nicht für den Vertrieb produziert worden waren, sondern nur für die kubanische Regierung, die sie entweder selbst rauchte oder als Gastgeschenke an Staats- und Regierungschefs gab – und eben an Kalle. Da bestand wohl im Sekretariat von Raúl so eine Art „Dauerauftrag“... Jedenfalls kamen in regelmäßigen Abständen wunderschöne handgemachte Kistchen mit noch schöneren Zigarren jeweils mit einer Widmung von Raúl oder Fidel. Die Widmungen betonten „lebenslange Freundschaft“ oder „lebenslange Dankbarkeit“ oder Vergleichbares in der Art.
Irgendwann wurde aus den erstaunlichen Döntjes bei dem einen oder anderen Glas manchmal auch eine ernste, gute und tiefgehende Unterhaltung, die auch schon mal sentimental vor Erinnerungen werden konnte und die bis tief in den frühen Morgen dauern konnte. Die „Sandkiste“ war dann schon lange geschlossen, es sei denn, Mandy hatte noch Lust, den Laden an den anderen Tischen zu schmeißen, und ihre Gäste beschränkten ihre Bestellungen auf Getränke, denn auf Küche hatte sie dann keinen Bock mehr. Oder Mandy hatte einen interessanten Fremden getroffen, der ihr in ihrer Sammlung noch fehlte...
Bei schönem Wetter saß man auch schon mal „nur so“ nachts draußen im Mond- und Sternenschein oder beleuchtet von Windlichtern oder langsam ausbrennenden Fackeln.
Wenn dann weiter hinten die Lampen in den Appartements von Prora ausgegangen waren, saßen Kalle und die letzten Gäste, meist schweigend und den Kopf in den Nacken gelegt, unter dem Sternenhimmel von Rügen – stumm vor Bewunderung darüber, was Natur und Universum für einen bereit hielt. Die einzigen Geräusche waren dann der Wind, der Sand vor sich hertrieb, und die Wellen, die auf den Strand liefen. Das war zum Niederknien schön. Kalle meinte dann manchmal, dass das doch schon erstaunlich sei, dass das dieselben Sterne wie damals in der Karibik seien, bloß ein bisschen von schräg gesehen... Aber das würde eigentlich gar keinen Unterschied machen. Wenn er in solchen Nächten an seine Abenteuer in der Karibik dachte, und die Anwesenden schweigende Freunde waren, dann schlich Kalle noch mal in die „Sandkiste“, öffnete die Kellerluke und holte von unten eine Kiste dieser kostbaren Zigarren und eine Flasche echt kubanischen Rums. Dann bekam jeder eine Zigarre „verpasst“ und ein großes Glas Rum eingeschenkt. „Das ist jetzt Karibik pur“, pflegte Kalle in solchen Momenten zu sagen, dann seufzte er tief und schwieg.
Wer in solchen Momenten doch meinte, reden zu müssen, wurde als Schnackfatt einfach nicht mehr zu den wichtigen Gesprächen resp. zum genauso wichtigen Schweigen zugelassen. Nie wieder! Kalle war erstens Pommer und konnte es sich zweitens ja leisten, sich seine Gäste auszusuchen.
Manchmal saß Kalle auch ca. 50 oder einhundert Meter weiter in Richtung Binz auf ein paar, wenige Dezimeter knapp hinter der Dünenkante aus dem Sand ragenden Mauerresten eines alten Bunkers aus dem zweiten Weltkrieg. Von diesem Bunker wusste niemand mehr – Anwohner gab es hier nicht, die Bauarbeiter der „neuen“ Prora-Apartments hatte der Ort höchstens als Freiluft-Pinkelstelle interessiert, und die, die von ihm gewusst hatten, waren entweder verstorben, dement oder hatten irgendwann in den Westen „wechjemacht“. Er hatte das Bauwerk auf einer (analogen) alten Karte von Prora, die eben nicht im Internet zu finden war, in dem einzigen dichtem Brombeergestrüpp weit und breit entdeckt – und auch das nur, weil er einem schmalen halb verfallenem Gang, der unterhalb der „Sandkiste“ begann, bis an sein Ende gefolgt war.
Der Wind hatte den Zugang außerhalb der „Sandkiste“ mit Sand verweht. Touristen waren eher an der Wasserkante als am Gestrüpp vor den Bauruinen aus der Nazizeit interessiert. So war der Bunkerrest in Vergessenheit geraten. Bis Kalle ihn entdeckt hatte.
Als er sich entschlossen hatte, seine „Sandkiste“ aus den Resten des alten Schuppens wieder aufzubauen, hatte er den Schuppen um einige Hundert Meter verlegt, so dass er durch Zufall genau über dem anderen Zugang zu Stehen kam. Aufgrund seines Lebenswandels der letzten 20 Jahre fand er es immer gut, noch eine Überraschung in petto haben zu können. Die Klappe in den Keller oder Bunker befand sich kaum erkennbar hinter dem Tresen der „Sandkiste“. Mandy hatte nie zu verstehen gegeben, dass sie von dem versteckten Keller wusste, oder dass sie sich für ihn interessierte, und Kalle hatte nie eine Veranlassung gesehen, sie in dieses kleine Geheimnis einzuweihen. Da unten war auch nichts – außer ein paar Regale mit seinem ganz privaten Zigarren-, Wein- und Rumvorrat und Werkzeuge aus der Umbauphase. Na gut, ein paar Waffen hatte er aus seiner „wilden Zeit“ herübergerettet und hier in einer Kiste versteckt. Man wusste ja nie...
Hier am Strand war er ganz allein mit sich und konnte einfach so vor sich hinsinnieren. Er konnte da auch nicht von der „Sandkiste“ aus gesehen werden, weil Kiefern, Krüppelbirken und ein Sandhaufen dazwischen waren. Ab und zu kam er hierher, um die Ausgangsklappe mit einer dünnen Schicht Sand zu tarnen. Wenn er hätte erklären sollen warum, hätte er keine vernünftige Antwort gehabt – außer, „... warum nicht“? Und wie gesagt, man wusste ja nie...
Mandy „konnte“ auch mit den Gästen, auf ihre Art war sie auch sehr gut. Die Gäste mochten sie und ihre Art, mit ihnen umzugehen (witzig, etwas bis ziemlich frech, aber nicht zu frech). Kalle mochte Mandy ja auch. Als Bedienung. „Privat“ war sie ihm zu schlank – nix dran... Sie hatten es vor langer Zeit einmal für eine Nacht miteinander versucht und dann am Morgen nach einem, im peinlichen Schweigen eingenommenen Frühstück gemeinsam verabredet, es doch lieber bei Chef und Oberkellnerin (nicht, dass es untergeordnetes Personal geben würde) zu belassen.
Daran hatten sich beide gehalten, und sie fanden es immer noch gut so. Als Oberkellnerin (mit entsprechender Gehaltserhöhung aber ohne Untergebene!) gab es für ihn nämlich absolut nix an ihr auszusetzen, fand Kalle, und er hatte ihr das auch mehrfach versichert. So waren sie eigentlich recht glücklich miteinander – oder besser parallel zueinander – ohne dass sie etwas Tiefergehendes verband.
Außerdem war das Mädchen absolut ehrlich, hatte Kalle festgestellt, wenn sie die „Sandkiste“ ab und zu alleine „schmeißen“ musste, weil er fort musste. Und das Beste war, fand er, wenn er nicht anwesend war, konnte er sich einhundertprozentig auf sie verlassen. Er war sich absolut sicher, dass sie die „Sandkiste“ dann nie später als 10 Uhr öffnen würde. Und was ihm noch verdammich gut an ihr gefiel: Sie hatte noch nie gefragt, wo er hinfahren würde, oder wo er gewesen wäre, wenn er nach Tagen wieder auftauchte. Und sie hatte eben auch noch nie nach dem Keller unter der „Sandkiste“ gefragt.