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Providence, Rhode Island

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Mittwoch, 27. September 2018. Die Stimmung war ausgesprochen mies, als NagaA-CEO Derrick Moscone gegen 10.00 a.m. seinen Platz am Kopf des Besprechungstisches im kleinen, aber prächtigen George P. Mitchell-Tagungsraum eingenommen und das Meeting mit einem Schlag der Schiffsglocke eröffnete, die einmal auf dem berühmten Walfisch-Fänger „Charles W. Morgan“ die Glasen geläutet hatte.

Eigentlich war die Stimmung in der ganzen Firma schon lange vor dem Meeting schlecht gewesen. Und noch „eigentlicher“ war die Stimmung in der ganzen Fracking Industrie seit Jahren desaströs, weil alle unter dem enormen Preisverfall auf dem Heimatmarkt litten.

Natürlich gab es auch Gewinner in diesem von den kleinen Anbietern nicht zu gewinnenden Krieg um Kunden, das waren die großen Firmen ExxonMobil, BHP, Halliburton und einige andere der Energieriesen, die z.B. mit Öl das Geld verdienten, das sie einsetzten, um an kleinen Firmen aufzukaufen, was aufzukaufen war. Denn eines Tages würde der Schweinezyklus vorbei sein, und dann würden die Preise wieder in (un)geahnte Höhen steigen und allein die mitgekauften Schürfrechte der Kleinen würden bares Gold oder Bitcoin, oder wie die Währung dann heißen würde, wert sein.

Die Pracht des Besprechungsraumes passte im Moment ebenso wenig zur Stimmung, wie die draußen herrschenden spätsommerlichen Temperaturen, und die Farbenpracht des Indian Summer.

Keiner der Beteiligten, und das waren alle leitenden Angestellten der NaGaA, hatte eine andere Atmosphäre erwartet. Und alle hatten sie Angst vor diesen Montagmorgen-Treffen der Firmenleitung, denn CEO Derrick Moscone war in der Branche als unberechenbarer Choleriker bekannt!

Die Umsatzzahlen waren im letzten Quartal noch einmal tiefer in den Keller gerutscht, nachdem man zuvor doch schon geglaubt hatte, die Talsohle erreicht zu haben. Hatte man aber offenbar nicht...

Die Kosten blieben trotz aller Sparmaßnahmen auf einem zu hohen Niveau – das wussten sie alle, und die NaGaA hatte wirklich alles versucht: Man hatte Mitarbeiter entlassen, sogar der bis dato kostenlose Kaffee war im 12. und 13. Stock rationiert worden. Letzteres nicht, weil das irgendeine messbare Einsparung brachte, das wussten auch die Verantwortlichen dieser Maßnahme, sie war vorgenommen worden, um auch dem letzten verbliebenen Mitarbeiter den Ernst der Lage zu demonstrieren.

Aber ernst war es nicht nur für die NAGAA, nein, das betraf alle Fracking-Firmen und auch die Zulieferer. Der heimische Markt für Erdgas war zu Dumpingpreisen gesättigt, neue Absatzquellen fast unmöglich zu erschließen und weder mittel- noch langfristig waren neue Abnehmer in Sicht.

„Rich“, sprach Moscone seinen Finanzchef Goldwater mit einer Mine an, die einem Kapitän Ahab angemessen gewesen wäre, nachdem Moby Dick sein Schiff versenkt hatte, „wie sieht es aktuell aus? Und bevor du weit ausholst, du weißt, du neigst dazu, bitte ich dich: Mache es kurz!“

Richard Ronald Goldwater schraubte also seinen Mont Blanc Füller, den er in Erwartung der notwendigen Notizen schon aufgeschraubt hatte, sorgfältig wieder zu und legte ihn betont langsam und sorgsam zur Seite. Dann schlug er die Ledermappe zunächst auf, um zu zeigen, dass er gut vorbereitet zum Meeting gekommen war. In der Mappe warteten ca. 25 Folien darauf, verwendet zu werden. Sie hätten locker für einen halbstündigen Fachvortrag gereicht. Außerdem bewahrte er dort die 48 von seiner Assistentin ständig aktualisierten Reservefolien auf, die für den Fall vorgesehen waren, dass der CEO irgendwelche unerwarteten Fragen stellen würde (er neigte dazu). Goldwater war der wahrscheinlich letzte Finanz“mensch“ in ganz Rhode Island, der noch richtige Overheadfolien produzieren ließ. Er traute diesem neumodischen Kram mit Powerpoint-Präsentationen auf dem Laptop nicht, er fand auch, dass sie alle gleich aussahen. Für seine Overhead-Folien hatte er in sehr guten Zeiten von einer Grafik-Agentur für viel Geld einen individuellen Stil entwickeln lassen.

Außerdem hätte er es nie geschafft, seinen Laptop mit dem Beamer zu verbinden. Das zu lernen, war nicht sein Ding, fand er, er war schließlich Head of Finance und nicht irgendein Dutzend-IT-Techniker. Nein, Powerpoint und den ganzen PC-Mist sollten die Jungen nur machen, er jedenfalls nicht.

Inzwischen hatte seine Sekretärin bereits Probleme, diese altmodischen Folien überhaupt noch zu besorgen. Ihm war das egal, das war nicht sein Problem, er war Head of Finance, nicht weniger.

Nach dem Hinweis des CEO, es bitte kurz zu machen, klappte Rich seine Ledermappe mit einem demonstrativen Seufzer und lautem Klappen wieder zu, schaute für einen kurzen Moment gottergeben zum Himmel resp. zur Stuckdecke des Tagungsraumes, seufzte ein zweites Mal tief – das war seine Art, sein totales Nicht-Einverständnis zu zeigen –, holte tief Luft, wartete dann noch einen Moment, um schließlich nur ein Wort zu sagen: „Schlecht.“

Und nach einem Moment des Überlegens, ob er seine Präsentation trotz Moscones Hinweis um ein paar Worte ergänzen sollte, fügte er hinzu: „Und zwar zum Gotterbarmen schlecht.“ Das war´s. Damit war seine Präsentation beendet. Wenn sie es kurz wollten, bitte schön, das hatten sie davon: Fünf Sekunden statt informativer 30 Minuten.

Goldwater war sehr enttäuscht. So viel Arbeit seiner geschrumpften Abteilung für ein einziges Wort: Schlecht, den beschreibenden Rest zählte er nicht mit.

„Schön“, sagte Moscone, „das war die bisher kürzeste Präsentation, die ich von dir je erlebt habe. So kurz hatte ich es zwar nicht gemeint, aber das war also zumindest formal ´mal was Neues... Aber“, und damit wandte er sich an alle anderen, „unser Finanzchef hat es auf den Punkt gebracht. Er ist nur zu vornehm, um „beschissen“ zu sagen, glaube ich“.

Kapitän Ahab lächelte bei der Bemerkung sogar freudlos. Aber so, dass der Wal, hätte er es gesehen, in der See trotz 50 cm Blubber, gefroren hätte.

Dann fragte er: „Rich, wie schlecht, wie beschissen ist die Lage denn nun tatsächlich? Wie lange halten wir noch durch?“. Als er sah, dass Goldwater seine Mappe wieder öffnen wollte, schob er „Rich, bitte wieder ohne Folie...“ nach. Diesmal lächelte er Goldwater dabei um Verzeihung bittend an. Man durfte sich auch als CEO nicht mit dem Finanzchef anlegen, das würde sich im falschen Moment eventuell als großer Fehler erweisen können. Nein, das wäre nicht gut, das wusste auch Moscone.

„Wenn wir alles zusammenkratzen, und wenn wir wie blöd sparen, maximal ein Jahr, vielleicht eineinhalb. Kredite werden wir wohl nur bekommen, wenn wir fundiert positive Geschäftsaussichten präsentieren können. Dann natürlich länger. Ich könnte mir vorstellen...“

„Danke, Rich, vielen Dank, das war sehr bildhaft“, unterbrach ihn der CEO, um sich mit diesen Worten demonstrativ freundlich seiner jungen und eloquenten Vertriebschefin zuzuwenden, die ihn daraufhin eher erschreckt ansah. Sie hatte gerade an dieses unglaubliche Ekel von Schwiegermutter gedacht, die ihren Besuch für´s Wochenende angekündigt hatte, und die mindestens ein dreigängiges Menü von ihr für sich und vor allem für ihr Goldsöhnchen erwartete – und die Vertriebschefin war leider keine gute Köchin, nicht einmal eine mäßige.

„Pattie“, hörte sie, „jetzt bitte deine Sicht der Dinge, wie stehen wir im Vergleich mit den Konkurrenten da? Wenn es geht, bitte auch ohne Slides... Sonst ist unser Finanzchef ernsthaft beleidigt, oder Rich?“

Rich blickte ihn nicht einmal an, er haderte noch...

„Der Markt?“, fragte Pattie Bronski rhetorisch zurück, um etwas Zeit zu gewinnen. Aber es gelang ihr schnell, sich zu konzentrieren. Jetzt eben LNG statt Auberginen-Mousse. Sie klappte den Laptop mit dem Rezept für die Mousse wieder zu. Dann eben ohne Slides, das war kein Problem, fand sie, denn schlagfertig war sie: „Man könnte sagen, meine Herren“, und damit wandte sie sich mit einem gewinnenden Lächeln an alle im Raum, „man könnte es so beschreiben: Im Moment gibt es gar keinen Markt mehr!“. Sie machte eine kurze Pause, um die ungeteilte Aufmerksam auch der Letzten zu erreichen. Sie fuhr sich mit einer Hand durch die kurz geschnittenen dunklen Haare, deren genau berechnete Struppigkeit sie einem ausnehmend teuren Künstler von Coiffeur verdankte, und lächelte noch einmal in die Runde, denn das Lächeln stand ihr, das wusste sie auch.

„Aber das wäre natürlich falsch, denn für einige gibt es immer einen Markt, auch wenn der Markt am Boden oder wo auch immer, vielleicht auch im zweiten Keller liegt. Wir sind inzwischen bei Abgabepreisen zwischen 2$ und 3$ pro mmBtu angekommen, ein paar Altverträge zu 7,50$ bestehen noch, aber da drängen die Kunden schon gewaltig. Ich weiss nicht, wie lange wir selbst das Niveau für die letzten Kunden halten können. Ein paar Anfragen von Chemiefirmen liegen uns vor, sogar größere Mengen wurden angefragt, aber auch nur zu unter 3$ pro mmBtu. Ich denke, in Absprache mit unserem Finanzchef, wir müssen das machen, es gibt uns zumindest etwas cash flow.

Das einzige Chart von Pattie, das Ihnen der Autor zumutet:

Der Preisverfall der Gaspreise in $ in den USA 3


In der chemischen Industrie sehe ich mittelfristig ein gewisses Potenzial für uns, aber das ist begrenzt, und das ist Zukunft und nicht das Jetzt, und das hängt natürlich stark vom Preis ab. Ihr wisst, wie groß die Konkurrenz ist!

Im Grunde gönnt im Moment keine Krähe irgendeiner anderen noch ein Auge..., oder so, ich meine nur...“. Sie lächelte wieder in die Runde als ob sie unsicher wäre, was sie absolut nicht war. Aber sie war sich sicher, dass diese Herrenrunde einen Hauch von Unsicherheit bei ihr mehr goutieren würde als zu viel Selbstbewusstsein. Ihre Rhetorik-Kurse waren jeden Dollar wert gewesen, fand sie.

Sie wedelte dabei mit der Hand in der Luft herum, „Naja, wie stehen wir da? Rich hat „beschissen“ nicht gesagt, aber laut Derrick doch wohl gemeint...“.

Sie lächelte „Rich“ direkt an. Lächelte der alte Griesgram etwa zurück? Unglaublich, fand Pattie, sollte sich die unverschämt teure Frisur etwa gelohnt haben? „Es geht uns also wohl so, wie den anderen wohl auch. Denn was man so hört, geht es keinem Gasanbieter von unserer Größe besser. Ich meine, wir verkaufen ja noch, die Mengen sind ja gar nicht so schlecht – aber zu welchen Preisen?“ Sie lächelte jetzt nicht mehr, sie schaute „bedauernd“ in die Runde, dann schüttelte sie leicht den Kopf, runzelte die Stirn. Sie spielte jetzt mit den Kerlen, „sie hatte sie“ – das gefiel ihr.

„Die Preise sind momentan das Problem, nicht die Mengen, aber das muss ich hier ja nicht betonen. Wir verkaufen nur einen chemischen Rohstoff, nichts Spannendes, ich sehe nichts, was unser Produkt von denen der anderen unterscheidet. Und alle drehen an der Preisschraube. Und alle in dieselbe Richtung, nur nach unten.

Ich denke, dass wir uns bald von einigen lokalen Anbietern verabschieden können. Drei kleinere regionale Firmen in Boston mussten sich verabschieden und wir durften als Lieferanten einspringen. Ja, „durften“ ist das richtige Wort. Wir leben nur noch von der Menge, nicht von der Marge.

„Rich“ hat Recht, es sieht besch..., ich meine, es sieht schlecht aus. Ich glaube, dass wir irgendwann keine Chance mehr haben, wenn nicht irgendein Wunder geschieht“.

Damit schloss sie ihren Vortrag und sank wie kraftlos in ihren Stuhl. Den Schluss hatte sie nicht sagen wollen, er hatte sich ihr einfach aus dem Herzen über die Lippen gedrängt. Denn es stimmte ja: Wenn nicht ein Wunder geschah, war das Ende von NaGaA absehbar.

Die anderen Anwesenden schauten sich betroffen an. Ja, Pattie hatte Recht, das wussten sie alle. Aber keiner hätte sich getraut, die Erkenntnis des nahenden Endes ihrer Firma – und nicht nur ihrer Firma – auszusprechen. Nicht vor dem Boss, nicht vor Moscone.

Deshalb warteten sie auf die Explosion, die kommen musste – und die auch kam. Aber anders als erwartet: „Himmeldonnerwetter“, haute der CEO donnernd mit der Faust so auf den Tisch, dass sein Wasserglas ein gutes Stück hochsprang: „Ich kann dieses verdammte ewige unendliche Gejammere der letzten Wochen und Monate nicht mehr hören: Geht nicht, weil..., kann nicht, weil..., habe nicht, weil..., unmöglich, weil..., der Markt ist schuld, weil... die anderen sind schuld, weil... Endlich hat mal jemand den Mut das auszusprechen, was wir alle doch wissen.

Ja, das Geld ist nicht mehr da, wir haben unseren Aktionären sehr viel Geld in den Rachen schmeißen müssen, oder ihr habt es unter anderem für Forschung und viele kleine, aber teure Wünsche unserer Techniker ausgegeben, meine ich mich zu erinnern...

Ja, wir haben seit 1995 zig Millionen in unser Business investiert, Millionen in guter amerikanischer Währung! Wir waren mit die ersten im Fracking-Business, und wir waren verdammt gut darin. Wir haben das Geld geschaufelt.

Und jetzt höre ich nur noch dieses Geseiere. Ich kann den Mist echt nicht mehr ab. Ich weiß selbst, was los ist, ich bin doch nicht blind. Ihr seid da, weil ich jetzt von euch Ideen erwarte! Ich brauche Ideen! Von mir aus brauchen wir auch Ideen... Kennt Ihr das Wort eigentlich? Ist doch kein Fremdwort, oder? Soll ich es ´mal aufschreiben? Idee! I-D-E-E. Eine Idee bedeutet, falls ihr es nicht wisst, die Entwicklung von etwas Neuem. Eine Idee zu haben bedeutet, anders zu denken als sonst immer.

Und ich erwarte NEUES, N-E-U-E-S. Eine Idee ist ein Leitbild, ja, schaut nicht so, das kann man googeln! Wir brauchen etwas Neues und wir brauchen ein verdammtes Leitbild! Wir brauchen Orientierung! Himmel Arsch und Zwirn, ihr sitzt hier und verdient verdammt viel Geld, weil ihr die Firma retten sollt.

Ich brauche MÄNNER, und zwar Männer mit Eiern in der Hose, klar, Pattie, von mir aus auch Frauen mit Eiern in der Hose, wenn ihr versteht: Männer und Frauen mit Ideen. Ich erwarte neue Ideen, die bei unseren Konkurrenten nicht gedacht werden. Ihr sollt dieses verdammte Gas verkaufen. Das ist eure Aufgabe, dafür verdient ihr so scheißviel Kohle! Verkaufen sollt ihr, wie auch immer. Das Zeug, das wir da unter großem Aufwand aus der Erde holen, muss weg. Und zwar möglichst viel davon zu möglichst guten Preisen, sonst fliegt uns hier bald alles um die Ohren. Unsere Anleger wollen Dollars sehen. Und glaubt mir, die sind brutal und ihr geht denen glatt am Arsch vorbei!

Jetzt ist der Moment, in dem ihr gefordert seid. Habt ihr das, verdammt noch einmal, verstanden? Was macht eigentlich unsere verpennte Marketing-Abteilung den ganzen Tag? Ich will endlich mal etwas auf den Tisch bekommen... Und zwar bald, von mir aus Montag, den 1. Oktober, dann habt ihr eine ganze Woche Zeit zum Denken. Dankt Gott, dass ich Euch die Zeit lasse. Ich will, dass mindestens einer von euch uns weiterbringt.

Sonst, und da gebe ich Pattie leider Recht, machen wir hier nämlich bald den Laden zu, versteht ihr. Und das bedeutet für euch, dass ihr Euch ´ne Axt kaufen könnt, um in Kanada als Holzfäller das Geld zu verdienen, das ihr braucht, um euren Kindern die teuren Privatschulen, Universitäten und Autos und Euren Ehefrauen die teuren Friseure und ihre hübschen italienischen Zweitwagen zu bezahlen. Nicht zu reden von euren verdammten schnellen AUDIs und Mercedes Benz, auf die ihr so stolz seid, die könnt ihr euch dann nämlich abschminken, das gibt das Holzfäller-Salär nicht mehr her. Pattie, nicht zu vergessen deinen schicken Porsche. Ich weiß, wovon ich rede, ich habe extra in Kanada bei der Waldarbeiter-Gewerkschaft angerufen... Ende der Ansage. Abtreten.“

Die Angesprochenen schauten sich betreten an. Es dauerte einen Moment bis sie begriffen hatten, was da eben passiert war. Moscone hatte ihnen tatsächlich Pistole, Flinte und Schnellfeuergewehr gleichzeitig auf die Brust gesetzt.

Bedröppelt schlichen sie aus dem Raum. Die Zeit lief ab jetzt. Das sah insgesamt nicht gut aus. Es sah auch für jeden von ihnen nicht gut aus. Aber es hatte noch nie so gedrängt.

Moscone war mit den anderen aufgestanden. Er stand wortlos mit am Rücken übereinander geschlagenen Händen am Fenster und blickte auf die John F. Kennedy Plaza hinab. Er nahm nicht wahr, was er dort sah, er schien tief in Gedanken versunken. Pattie war eine der letzten, die den Raum verlassen wollte. Sie ging langsam, die anderen waren geradezu geflohen.

„Pattie“, rief Moscone ihr nach, „hast du noch einen Moment für mich, bitte? Nur auf ein Wort!“

Pattie, die auch ziemlich geknickt aus dem Raum schlich (was aber auch am Besuch der Schwiegermutter und dem von ihr erwarteten 3-Gänge-Menü liegen konnte), drehte sich in der Tür um und kehrte zurück. Sie meinte eben ein „bitte“ gehört zu haben. Konnte das sein, ein „bitte“ von Moscone? Das müsste doch eigentlich ein gutes Zeichen sein, überlegte sie. Was könnte er von ihr wollen?

Sie drehte sich zu ihrem Boss um. „Ja, Derrick?“, fragte sie, „Natürlich. Was gibt es denn noch? War ich zu direkt?“

„Sei so gut und schließe die Tür“, sagte er. Leise genug, dass die anderen im Flur ihn nicht verstehen konnten. Er machte die paar Schritte vom Fenster zurück zum Tisch. Dort war der Globus, der sonst als Staubfänger in seinem Arbeitszimmer stand. Niemand hatte ihn je beachtet, glaubte Pattie. NaGaA war ein national player, da brauchte es eine USA-Karte eher als einen Globus.

Ihr Chef deutete auf den Globus, der von allen völlig unbeachtet sich die ganze Zeit im Raum befunden hatte. Er musste ihn mitgebracht haben. Pattie begriff, dass ein CEO nichts ohne Absicht machen würde.

Moscone stand neben dem Globus und legte eine Hand auf die Kugel, dann versetzte er sie langsam in Drehung. Er sah nicht Pattie sondern versonnen den Globus an, Pattie schien er fast schon wieder vergessen zu haben. Die Auberginen schossen ihr kurz durch den Kopf, sie zwang sich mit einem fast unsichtbaren Kopfschütteln, nicht an sie zu denken.

Moscone hatte Pattie aber nicht vergessen. „Pattie“, sagte er, „du bist die erste hier im Laden, die sich getraut hat, unsere Lage offen anzusprechen – die anderen haben alle nicht genug Eier, weißt du... Nein, nein, du warst nicht zu direkt, überhaupt nicht. Ich weiß schon lange, wie und, vor allem, wohin der Hase läuft, ich bin zu lange im Geschäft. Erst werden wir geschluckt und dann andere und irgendwann ist hier Schluss mit dem Erdgas. Ich bin dir dankbar, dass du das gesagt hast. Es war wichtig und richtig, dass du das ausgesprochen hast, denn vor dir haben die anderen Respekt, vor Rich nicht mehr, weißt du – Rich, der Finanzer ohne PC, ohne Powerpoint, das geht in ihren Augen gar nicht, er ist nur noch eine Lachnummer für sie, wenn er oder ich nicht dabei sind...

Ahnst du, warum ich den Globus mitgebracht habe?“, fragte ihr Boss sie plötzlich direkt. Für dieses Verhalten war er in der Branche bekannt, aber jetzt erschrak Pattie doch etwas. Er schaute weiter auf den sich immer langsamer drehenden Globus.

Pattie zuckte mit den Schultern, ihr Kopf war von dem Meeting und den Auberginen noch wie leer. Und jetzt lobte der Boss sie noch dafür, was sie gesagt hatte. Dass die Firma bald den Bach runtergehen würde? „Nein“, sagte sie dann, „warum?“

„Pattie, nun schau doch mal auf den Globus, was siehst du da?“

Sie wusste nicht, was er meinte. „Die Welt,“ bemerkte sie zaghaft.

„Ja, das auch, Pattie, aber doch noch etwas!“

„Ja?“. Was wollte er nur von ihr?

„Unseren Markt!“

Pattie musterte ihn ratlos. Was meinte der Kerl? Sie hatten doch noch nie auch nur einen einzigen Kubikfuss ins Ausland geliefert.

„Ja, Pattie, unseren Markt, nennen wir ihn doch einmal ganz einfach den Welt-Markt!“. Wurde er jetzt noch zynisch, fragte Pattie sich?

Doch dann passierte etwas in Patties Kopf, da rasten plötzlich die Gedanken. Das Gehirn war im Bruchteil einer Sekunde aus dem Auberginen-Leerlauf in den Fracking-Turbomodus geschaltet worden: Keine Auberginen mehr! Dafür Fracking – Gas – Markt – Weltmarkt – Kontinente – Länder – Menschen. Alles Menschen, die Energie brauchten. Verbrauchten. Kauften. Bezahlten.

Sie lächelte leise, als sie den CEO ansah: „Ich denke, ich habe dich verstanden! Du willst, dass wir den Weltmarkt...“

„Nein“, schüttelte der CEO den Kopf, „nein, Pattie, nicht den Weltmarkt, dafür sind wir viel zu klein, das ist doch klar! Ich bin doch kein Träumer!

Aber einen kleinen Teil davon: Nämlich Europa, nur das gute alte Europa...!

Und ich möchte, dass du, Pattie, jetzt diesen Globus mitnimmst und uns, für in ein paar Tagen, eine schnuckelige kleine Präsentation vorbereitest, mit der wir die anderen Dummköpfe überraschen. Nimm dir lieber einen Tag mehr Zeit als einen zu wenig. Du wirst das machen. Betonung auf „du“. Denn das wird ausschließlich deine Idee gewesen sein. Das wird besser sein, als wenn ich das mache. Betrachte es als mein Geschenk an deine Karriere oder als Dankeschön für deinen Mut.

Weißt du, ich bin der Boss, von dem erwartet niemand Ideen. Ich muss sie nur dazu bringen, dass wir sie alle gemeinsam abnicken – Mrs. Pattie Bronski, das kann ihr Weg in eine strahlende Zukunft sein.

Mach´ es gut, Pattie, denn das ist deine ganz große Chance, es kann DIE Chance deines Lebens sein. Versau es nicht. Und vergiss das Wochenende, ich werde dich hier brauchen. Schick Mann und Kinder zur Schwiegermutter oder sonst wo hin. Dieses Wochenende gehörst du mir!“

Pattie griff mit zitternden Händen nach dem Globus und trug ihn vorsichtig zur Tür. Oh Gott, wie sollte sie das schaffen? Europa – da würde sie eine Menge googlen müssen! Das würde schwierig werden, aber noch schwieriger würde es sein, ihrem Mann zu erklären, dass er seine Mutter zum Mond schießen oder sonst wo hin schicken könne. Aber sie würde jedenfalls nicht kochen, keine Auberginen braten müssen, nichts! Andererseits war die Idee eigentlich verdammt befreiend und befriedigend, fand sie. Nein, oder besser ja, sie erkannte eine Chance, wenn sie Sie ansprang. Und diese leckte ihr geradezu liebevoll die Nase...

„Ich erwarte ein paar wirklich ungewöhnliche Ideen von dir, Pattie, wahrscheinlich werden es sogar verdammt kreative Ideen sein müssen, wenn du unsere, äh, natürlich deine Idee von unserem neuen Markt in Europa durchsetzen willst. Denn noch wissen weder deine Kollegen noch die Europäer von ihrem Glück! Pattie, wirf alle möglichen Bedenken über Bord, mach dich frei, sei grenzenlos, think big! Think bigger! Darauf wird es ankommen. Und denke daran, dass es nicht nur die NaGaA gibt.“

Damit war sie jetzt dann doch endgültig entlassen.

Sie ging in ihr Büro, stellte Moscones Globus auf ihren Tisch und öffnete Google Earth. Die Welt – auch die virtuelle – erschien ihr plötzlich riesig, und sie schien ihr schwer auf den Schultern zu lasten.

Sie musste an Atlas denken. Und dass der eigentlich ein ziemlich armer Kerl gewesen sein musste.

Pipeline

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