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Prora. „Sandkiste“

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15. Juli 2019. An diesem schönen Morgen – blauer Himmel, Schäfchenwolken, ganz leichter Wind, Luft 24°C, Wasser 19°C5 – kamen die ersten Touristen gegen elf Uhr fast zeitgleich mit Mandy.

Da Mandy richtig gut drauf war, schien ihre Nacht mit dem Triathleten, der zu Kalles Erstaunen immer noch in Mandys Bett zu nächtigen pflegte oder durfte, mindestens befriedigend verlaufen zu sein, wahrscheinlich besser!

Kalle war gegen 11.00 Uhr eingetroffen und hatte die ersten zwei oder drei Kaffees intus. Also ging es ihm auch schon gut, als er durch das Fenster neben der Kaffeemaschine, die er gerade bediente– mehr aus dem Augenwinkel – vier Leute bemerkte, die sich am Spülsaum des Strandes befanden und zur noch ca. 100 Meter entfernten „Sandkiste“ blickten und dann mit den Fingern in seine Richtung zeigten. „Hallo“, fragte er Raúl, „wer kommt da denn?“

Die da kamen, waren zwei Paare, jedenfalls zwei Männer und zwei Frauen. Offenbar diskutierten sie, ob sie die „Sandkiste“ besuchen sollten. Nach einem weiteren Blick von Kalle schien die Entscheidung bereits positiv ausgefallen zu sein, die vier stapften durch den weißen Sand in seine Richtung. Na gut, Gäste! Das würde Mandy erledigen.

Als er wieder durch das Fenster sah, hatten die vier fast die Treppe erreicht, die die zwei Meter zur Terrasse der Bar hinauf führte.

Oha, dachte sich Kalle, der Alte wird Cognac in seinen Kaffee wollen. Er schaute ins Schapp, ja, Branntwein war da, auch genug für drei oder vier Kaffee, die er dem Alten ohne weiteres zutraute. Die junge Frau an seiner Hand wird wohl ein stilles Wasser trinken, sagte Kalle sein Instinkt. Bei dem Gedanken musste sich Kalle leicht schütteln – Wasser war ausschließlich zum Zähneputzen da! Oder zum Grog machen, häufig zum Kaffeekochen, auch für Tee. Na gut, waschen auch. Aber das war es dann auch. Jedenfalls nicht zum Trinken!

Die beiden anderen... Ja, dachte er, erst einen Tee oder Kaffee, aber als nächstes einen Wodka?

Als die vier die Terrasse über die Treppe erreicht hatten, registrierte Kalle, dass die etwas ältere und rothaarige Frau barfuß durch den Sand gegangen war. Sie trug immerhin am Strand einen eng sitzenden knapp knielangen Rock und eine kurze Jacke, was ihre propere Figur mit schlanker Taille und kräftigen Beine sehr schön betonte.

In der Hand schlenkerte sie ein Paar hellblaue Wildleder-Pumps, die sie jetzt mit einer dieser eleganten Bewegungen, zu denen nur bestimmte Frauen im engen Rock befähigt sind, erst auf den einen und dann auf den anderen Fuß streifte, wobei sie mit einem Bein leicht in die Knie ging und das andere leicht anwinkelte. Dabei hielt sie sich mit der jeweils freien Hand an ihrem Begleiter fest. Dann wechselte sie Beine und Hände, um sich den hellblauen Schuh auch auf den anderen Fuß zu streifen. Das Ganze sah für Kalle sehr gekonnt und auch sehr elegant aus. Schicke Frau, dachte er. Interessant! Ob die wohl badet? Dann könnte er sie hinterher aufwärmen. Ach nee, da war ja dieser Typ bei ihr, an dem sie sich festgehalten hatte. Schade.

Der Mann, an dem die Ältere kurz Halt gesucht hatte, schaute sich gerade interessiert um und schien gar nicht zu bemerkt zu haben, dass sie bei ihm Stütze gefunden hatte.

Die Gruppe suchte sich den am weitesten von der Bude und von den anderen Gästen entfernten Strandkorb aus. Kalle war´s egal, schließlich musste Mandy laufen, und der machte das überhaupt nichts aus, seit sie den Triathleten hatte. Training nannte sie das. Und sie brauche das, Kalle nicht.

Die Frau mit den blauen Schuhen schätzte Kalle auf etwa Mitte bis Ende Fünfzig und sehr nett ein. Ihre Haut war sehr hell, so, als ob sie selten in die Sonne gehen würde. Eigentlich sah sie sogar verdammt gut aus! Sie war dieser östliche Typ mit leichter Stupsnase, befand Kalle auf den zweiten, dritten und schließlich hochinteressierten vierten Blick. Sie entsprach absolut seinem Beuteschema!

Die andere, die junge schwarzhaarige Frau war ein gutes Stück größer als die Rothaarige mit der Stupsnase und sehr schlank, vielleicht eine Chinesin? Sie trug Sneakers zu einem sicherlich sehr teuren Hosenanzug.

Der alte Mann neben ihr wirkte zwar etwas verlebt, aber gleichzeitig clever und wichtig. Der Marsch durch den Strandsand hatte ihn offenbar angestrengt. Kein Wunder! Vielleicht lag es an seinem Blick, der am besten als irgendwo zwischen Neugierde und Herausforderung liegend zu beschreiben war, dass er diese wichtige und clevere Ausstrahlung hatte. Sein leichter grauer Anzug – nach der Strandwanderung aber wirklich nur ganz leicht derangiert – war bestimmt verdammt teuer gewesen. Die Schuhe, die er im Sand getragen hatte, waren offenbar italienischer Provenienz und ebenfalls gut teuer. Seine Haare waren irgendwie zu lang und verschwitzt, wurden aber sicherlich ab und zu von einem Spitzencoiffeur gestylt. Immerhin: Im Anzug am Strand! Manche Leute haben eben seltsame Marotten, dachte Kalle, so einen hatte er hier lange nicht mehr begrüßen dürfen. Ein Chef, befand Kalle noch ergänzend hinter seinem Fenster, ganz sicher ein Chef. Und zwar von einer großen Firma. Und einer mit einem sehr guten Schneider und mit einem sauteuren, gut gefüllten teuren Weinkeller. Er sah insgesamt eher nach „Sylt“ als nach „Sandkiste“ aus!

Der zweite Mann war nicht einzuschätzen. Doch, so etwas gibt es: Wenn es ein Verbrechen gäbe, kein Zeuge würde sich an ihn erinnern. Kalle kannte diesen Typ Mann. Er strahlte innere Ruhe und Kraft, eine starke Überzeugung und eine gewisse Gefahr aus – man würde ihn als Gegner aber erst wahrnehmen, wenn es bereits zu spät wäre.

Die propere – Kalle hatte sich mit sich selbst auf „proper“ als die am ehesten zutreffende Bezeichnung für sie geeinigt – Rothaarige und der jüngere Mann trugen beide dunkelblaues Tuch, wie es in vielen Handelsmarinen bei großen Reedereien getragen wird. Sie als Uniform-Kostüm, er als Uniform-Anzug. Ja, befand Kalle, das waren Uniformen, allerdings sehr gut geschnittene Uniformen, aber keine militärischen, und fast ohne jeden goldenen Schnickschnack, den die beiden ganz offenbar auch nicht benötigten. Das bisschen Gold, das beide auf dem blauen Tuch trugen, war sehr dezent. Und trotzdem strahlten sie eher „Admiral“ als „Seemann“ aus. Jeder Seemann würde in jeder Marine der Welt sofort tun, was die beiden anordneten – diese Art Typus waren sie! Befehlshaber.

Alle vier nahmen Platz. Wenn für so etwas bereits Messgeräte verfügbar wären, so hätte man wohl festgestellt, dass in diesem Moment in der Nähe von Prora aus dem Nichts ein neues Schwerkraftzentrum entstanden war! Schwerkraft soll die geringste aller Naturkräfte sein, behaupten Physiker, die sich mit ihr beschäftigen. Aber dieses Schwerkraftzentrum war eindrucksvoll. Messbar! Drei umeinander kreisende Schwerkraftpole, die auf einen vierten warteten. Die Chinesin war in diesem System nicht einzuordnen.

Dann trat Mandy zu ihnen, begrüßte sie freundlich und nahm ihre Bestellung auf. Hören konnte Kalle durch das geschlossene Fenster nichts. Sie sprachen noch einen Moment miteinander, in dem Mandy einmal kurz zu seinem Fenster herüberschaute. Dann sah er alle fünf lachen.

Für alle Fälle – er wusste ja nicht, was kommen würde – prüfte er kurz den Keller – alles paletti. Leise schloss er die Bodenklappe, verschloss sie aber nicht. Man wusste nie, fand Kalle, manchmal musste man schnell sein können. Und in unübersichtlichen Situationen – dieses konnte eine werden – war er gerne vorbereitet...

„Zwei Kaffee, türkische Art, ein Kaffee mit Branntwein, obwohl er Cognac gesagt hat, und ein stilles Wasser“, bestellte Mandy keine Minute später bei Kalle, „und du sollst mal bitte rauskommen, die wollen mit dir reden. Das „bitte“ habe ich eingefügt, die haben es vergessen! Es sei wichtig, haben sie gesagt, und sie wüssten sicher, dass du da wärest, du solltest also gar nicht so tun, als ob nicht... Das war der jüngere Mann. Man, ein heißer Typ, ein Macho!

Und dann soll ich noch sagen, alles Weitere würden sie mit dir, und nur mit dir, besprechen – ich solle die Bestellung bringen und dann bitte aufpassen diesmal übrigens mit „bitte“, dass niemand an den Tisch kommt! Kalle, wenn du mich fragst, erstens kennen die dich von irgendwo oder irgendwann, und zweitens nimmst du am besten ein paar Gläser und eine Flasche Wodka mit... Ist schließlich schon fast Mittag! Und drittens wollte ich dir noch sagen, dass du vorsichtig sein solltest, denn a) ist die russische Rote genau der Typ Frau, den ich als deinen Typ bezeichnen würde, wenn du mich fragst und b) ist ihr Freund, der aber garantiert nicht ihr Freund ist, du weißt schon was ich meine, mindestens so gefährlich wie eine alte erfahrene und sehr hinterlistige Klapperschlange mit verdammt großer Trickkiste.

Schlussendlich sagt mir mein Instinkt, dass mit der Rothaarigen und ihrem Begleiter ganz und gar nicht gut Kirschen essen ist, vor allem wenn die nicht wollen.

Da ist schon eine seltsame Stimmung in der Luft. Die ganze Mischpoke ist eine Melange aus Deutschem, das ist der Alte mit Kaffee-Cognac, der hat wohl das Sagen und sich offenbar eine Koreanerin oder so, die mit stillem Wasser, gegriffen, und den beiden Russen – erst ´mal Kaffee.

Die Russen gehören aber, glaube ich, privat jedenfalls nicht zusammen, das sagt mir mein Kellnerinnen-Bauch. Oder habe ich das schon gesagt?

Das war´s, Kalle, ich hoffe, du kannst noch russisch? Und wenn du schon mit denen redest, sorg´ mal bitte dafür, dass die ein ordentliches Trinkgeld geben! Ach ja, und pass auf Raúl auf.“

Russisch! Wenn das alles war, das war kein Problem, denn die Sprache konnte Kalle wie eine zweite Muttersprache, oder fast, er hatte lange kein russisch mehr gesprochen. Spanisch übrigens auch nicht. Aber dazu später mehr.

Kalle blickte noch einmal durch das Fenster, konnte aber nichts Bestimmtes wahrnehmen, was ihn beunruhigte.

Er nahm die noch nicht angebrochene Flasche Hennessy Paradis Extra aus dem Chronometer-Kasten an der Wand hinter der Bar. Die Flasche hatte er vor Jahren auf dem Heimflug von einem Auftrag, der natürlich bar und ohne Rechnung bezahlt worden war, auf dem Pariser Flugplatz Charles de Gaulle für besondere Gelegenheiten für ein, wie er fand, wahres „Schweinegeld“ gekauft.

Er hatte das Gefühl, dass ihn so ein Moment erwarten würde oder könnte, in dem genau diese Flasche angebracht wäre. Außerdem hatte die Russin, deren Freund offenbar gar nicht ihr Freund war, besonders hübsche hellblaue Füße – ausgesprochen süß. Was er von seiner Position aus nicht sehen konnte war, dass ihre Augenfarbe genau mit der Farbe ihrer Pumps übereinstimmte.

Bedenken, dass etwas Unangenehmes passieren könnte, hatte er nicht.

Er nahm also in aller Ruhe ein Tablett, fünf Gläser und die teure Flasche und ging damit zu den neuen Gästen. Im Rausgehen klopfte er leicht an das alte Barometer, das er von dem Hochseeschlepper mitgebracht hatte. Stabil, keine Wetteränderung zu erwarten! Gut so.

Dass es keine Wetteränderung geben würde, sagte das alte Barometer ziemlich verlässlich voraus, ob es Änderungen in Kalles Leben geben würde, konnte kein Barometer der Welt vorhersagen. Barometer sind auf Luftdruck und damit Wetter spezialisiert, wie wir alle wissen.

Als er noch drei oder vier Meter vom Strandkorb entfernt war, drehte die Russin mit den kurzen frech geschnittenen Haaren ihren Kopf in seine Richtung. Ihm haute es in dem Moment fast die Beine weg, als er ihr Gesicht mit den wasserblauen Augen, der leichten Stupsnase und den vielen Sommersprossen auf Nase und Wangen sah.

Sie blickte ihn einen kurzen – dieses kurz, das zwischen Mann und Frau unendlich lang bedeuten kann – Moment an, ohne ein Wort zu sagen. Dann sagte sie leise und etwas zu heiser für das Wetter: „Guten Tag, Kalle, wir haben uns lange nicht mehr gesehen..., viel zu lange, finde ich. Aber es war auf dieser Welt irgendwie und irgendwo nie die richtige Zeit, nie der richtige Ort... Schön, heute könnte es vielleicht passen, hoffe ich.“

Dann fügte sie ein leises und offenbar sehr privates „vielleicht?“ hinzu.

Kalle schaffte es vor Überraschung gerade noch, das Tablett abzusetzen. So gut wie nichts hatte ihn bei seinen weltweiten Aktivitäten, über die im Rahmen dieser Geschichte noch nichts erzählt wurde, erschüttern können. Kein Nordseesturm mit oder ohne Kaventsmann, kein karibisches Tornadounwetter und kein Verhör durch US Coast Guard oder CIA hatte je seine Standfestigkeit bedrohen können. Ihn nicht. Er war der Kalle mit den eisernen Nerven, ach was, eisern – mit den Nerven wie Stahlseile... Diese Frau aber tat es. Sie war das Erdbeben der Stärke 9+ auf seiner privaten Skala, von der er gedacht hätte, sie würde bei 6 oder 7 enden.

Ihr unerwartetes Erscheinen zog ihm den Boden unter den Füßen weg, wie es keine Schiffsbewegung und kein amerikanischer Agent je gekonnt hatte.

Deshalb musste er erst mehrfach sehr tief Luft holen. „Anna Walentina Serowa! Bist DU das? Wirklich?“.

Kalle kam sich selten dumm vor, als er ihren Namen bestenfalls nur stammeln konnte. Sein Magen war ein einziger Knoten, vielleicht sogar ein Stoppersteg.

Er schaute sie an, lächelte: „Mädchen, du hast dich etwas verändert...“

„Ja“, sagte Anna Walentina Serowa, „aber du auch! Du hast recht, ich habe mich verändert, natürlich habe ich das, ich bin älter geworden. Ab 50 verändern sich alle, vor allem Frauen, glaube ich. Kalle, können wir uns bitte später darüber... Das wird mir jetzt in diesem Rahmen zu privat, bitte. Wir..., wir wollen etwas mit dir besprechen. Beruflich, nicht privat! Privat bitte später!“ Sie holte einmal tief Luft.

„Darf ich dir jetzt bitte erst einmal meine Freunde vorstellen? Bevor ich gar nicht mehr reden kann?“

Sie musste offenbar genauso schlucken wie Kalle. „Das wäre mir nämlich kollossal peinlich...“. Ihre Stimme brach fast.

Mit einer Handbewegung in Richtung des älteren Herren sagte Anna Walentina: „Das ist mein Chef, vielleicht kennst du ihn ja aus dem deutschen Fernsehen, das ist nämlich der Herr Schröder, und das“, sie zeigte auf die junge Asiatin, „ist seine Frau Kim So-yeon“.

Schließlich deutete sie auf den jüngeren Mann neben sich, der aus der Nähe betrachtet aber gar nicht mehr so jung aussah, „und das hier ist mein Kollege Alexei Iwanowitsch Orlow.

Ich bin gekommen, nein, entschuldige bitte, Kalle, wir sind auf die schöne Insel Rügen gekommen, um mit dir zu reden. Wir müssen reden. Es gibt da ein Problem...“

Ihr deutsch war immer noch perfekt mit diesem süßen Akzent, dem er damals schon nicht hatte widerstehen können. Und das Dreier-Schwerkraftzentrum hatte den fehlenden vierten Partner zur Vollständigkeit gefunden! Wer etwas von Menschen verstand, konnte diese Tatsache auch ohne Messgerät greifen.

Herr Schröder hatte sich in der Zwischenzeit der Flasche bemächtigt, die Kalle mitgebracht hatte, ihr Etikett genau studiert und sagte plötzlich in eine aufkommende Stille hinein: „Doch, doch, das ist aber ein sehr schöner Stoff, Herr Kalle... Darf ich Kalle sagen, alle haben mir von ihnen immer nur als dem Kalle Scheller vorgeschwärmt, es würde mir jetzt schwer fallen, sie anders zu nennen – das Alter wissen sie, ich bin ihnen da ja weit voraus.

Also, das muss ich zugeben, so einen Cognac hätte ich hier am Strand keinesfalls erwartet, nicht einmal in einen Restaurant auf Rügen... Er ist zwar nicht der allerbeste von Hennessy, aber er ist ziemlich nahe dran, und zwar so nahe dran, dass es mich sehr reizen würde, ihn zu probieren... Dafür haben sie ihn doch mitgebracht, vermute ich. Erlauben sie?“

„Klar doch, Herr Schröder, bedienen sie sich.“

„Ach was, was soll´s, wir sind am Strand, das Wetter ist sensationell, wir haben die Gesellschaft wunderschöner Frauen, übrigens, wie heißt eigentlich ihre Kellnerin, Herr Kalle?“, lachte Schröder, um fortzufahren: „Wir öffnen eine unglaubliche Flasche Cognac – ich bin der Ältere, ich darf das sagen: Kalle, für dich bin ich ganz einfach der Gerhard, basta, Kalle!“

Frau Kim So-yeon verzog keine Mine als ihr Mann unverblümt nach Mandy fragte, aber vielleicht lag das daran, dass sie Koreanerin war und denen sieht man ja selten Gefühle im Gesicht an. Oder sie sprach kein deutsch, soll es ja geben. Oder es war ihr egal, soll es ja auch geben. Oder sie wusste, das alte Alpha-Männchen sich in Gesellschaft so geben mussten. Zuhause würde er schon wieder zahm sein. Das war am wahrscheinlichsten.

Anna Walentina machte dagegen ein Gesicht, als ob ihr das Verhalten ihres Chefs peinlich wäre. Dem war das egal, ihm war es jedenfalls nicht peinlich.

„Anna Walentina“, sagte Kalle mit inzwischen wieder fester Stimme, „es ist schön, Dich wiederzusehen, sogar wunderschön nach all den Jahren, aber ihr seid doch nicht wegen meiner Tees gekommen, oder?“

„Auch nicht wegen des Cognacs, obwohl das fast ein Grund gewesen wäre, wenn wir gewusst hätten..., ich darf noch ein Schlückchen, Kalle...?“, warf Gerhard ein.

„Kalle“, fuhr er nachdenklich lächelnd beim Eingießen des teuren Cognacs fort, „nachdem, was ich von dir gehört habe, könntest du problemlos mit den drei Miss Kuba der drei letzten Jahre das schönste Appartement in Havanna bewohnen oder in St. Petersburg oder sogar beim Klassenfeind in Florida am Strand..., nein, da vielleicht besser nicht, aber du verstehst?

Nein, du betreibst ein Strandcafé“, er schaute sich dabei um, als wollte er sagen, „ein popeligen Etwas von Strandcafé in einer wackeligen Bretterbude auf Rügen und dann noch in einer der abseitigsten Ecken Deutschlands...“. Das sagte er aber nicht. Stattdessen fragte er: „Darf ich dich fragen, obwohl du das als indiskret betrachten kannst, aber alte Männer sind so und ich erst recht!“, lachte er, „Warum tust du dir das hier an?“

„Weil...“, zögerte Kalle etwas mit einer Antwort, „ ja das ist verdammt indiskret, Gerhard, und wenn du dich damals dem Bush nicht beim Irak-Krieg verweigert hättest, würde ich dir jetzt auch nicht antworten. Es ist ganz einfach: Weil ich es so will!“

Schröder nickte: „Ja, das verstehe ich! Gefällt mir... Männer, die so denken, gefallen mir. Nein, wir sind nicht wegen Tees oder Cognac gekommen... Obwohl Tee und Kaffee hier wunderbar sein sollen, sagt man an allen Stränden rund um die Ostsee, habe ich mir sagen lassen“.

Alexei Iwanowitsch Orlow übernahm in perfektem Deutsch nahtlos den Gesprächsfaden: „Wir sind also nicht wegen small talk gekommen und auch nicht, weil Anna Walentina sie endlich wiedersehen wollte – obwohl ich unsere Anna Walentina jetzt besser verstehe.

Sie, Kalle, scheinen tatsächlich etwas Besonderes zu sein. Sie haben diese Ausstrahlung wissen sie, die nur bestimmte Männer haben. Männer, die Großes leisten können. Auch rücksichtslose Männer besitzen sie. Männer, die sich durchsetzen wollen oder können oder es einfach tun. Ich kenne nur einige Geschichten ihrer Taten, bei uns daheim sind sie ein Held oder vielleicht auch ein Mythos. Irgendwann müssen sie mir mal die wahren Geschichten erzählen, das wäre schön. Aber ein anderes Mal, bitte.

Aber ich stimme Herrn Schröder zu, es ist schon überraschend, sie in dieser Umgebung zu treffen. Ich hätte auch ein anderes Ambiente erwartet. Um es endlich offen auszusprechen, Kalle, heute kommen wir wegen der Pipeline.“

Anna und Gerhard nickten zustimmend, als Orlow fortfuhr: „Sie ahnen es natürlich, wenn Russen von Gazprom nach Vorpommern kommen, geht es vermutlich um NorthStream. Verstehen sie unseren überraschenden Besuch bitte nicht als Überfall, auch wenn es ihnen wie einer scheinen mag, nein, wir bitten sie um ihren Rat. Und wir wollten nicht, dass konkurrierende Interessenten oder Gegner vorher von unserem Besuch erfahren. Deshalb die Überraschung.

Natürlich können wir die Erkenntnisse des russischen Geheimdienstes nutzen. Und ganz ehrlich, wir von Gazprom haben unseren eigenen. Wir sind eine reiche Firma, und wir könnten uns jeden Berater kaufen. Jeden! Aber ihre Vita ist es, die uns fasziniert. Wir bitten sie, uns zu helfen. Bitten ist nicht immer unser Ding, wissen sie. Aber sie bitten wir.

Sie sind ein extraordinärer Seemann, sie sind, nein, sie waren ein extraordinärer Agent, sie haben Sachen gemacht, die nur sie fertig gebracht haben. Sie haben ganze Kriege verhindert! Sie waren unbezahlbar, sie waren unser russischer James Bond – aber nicht nur im Film, sie waren real. Verstehen sie jetzt, warum wir sie noch einmal wollen?“

Er machte eine Pause, um ein Schlückchen von seinem Wodka zu nippen.

„Wir haben erfahren, dass die USA Sanktionen gegen die Pipeline und alle am Bau und Betrieb beteiligten Firmen verhängen wollen. Die werden schon ein Schlag werden, das geben wir zu, aber sie werden nicht tödlich sein. Nein, da müssten die anderen mit größeren Geschützen aufwarten... Sie wissen es natürlich nicht, vermute ich, deshalb sage ich es ihnen: Anna Walentina und ich leiten das Sicherheitsbüro, das bei Gazprom für die Ostsee-Pipeline zuständig ist. Für uns arbeiten ca. 200 Mitarbeiter. Topp-Leute allesamt. Wir befürchten, dass da mehr kommen wird als nur Sanktionen, wir befürchten unter anderem physische Angriffe auf das Projekt. Ganz offen gesagt, wir haben Informationen aus den USA, dass es Vorbereitungen für eine Attacke auf die Pipeline gibt.“

„Echt? Ein Angriff auf die Pipeline“, staunte Kalle, „aber das würde doch im Endeffekt Krieg bedeuten...“

„Ja, oder besser nein“, erwiderte Alexei Iwanowitsch Orlow, „ein Angriff würde sicherlich nicht von offizieller Seite, nicht durch das US-Militär geschehen, nein, eher – wie soll ich es formulieren, mein Deutsch wissen sie, es ist doch etwas eingerostet – eher von privater Seite, vielleicht von einer Firma, die Söldner anheuern könnte oder anbietet. So genau ist unsere Quelle nun doch nicht.“

Jetzt griff Gerhard wieder ein: „Unsere Freundin hier“, und damit legte er seine Hand auf den Oberschenkel von Anna Walentina, was der sichtlich unangenehm, Gerhard aber offenbar völlig egal war, „hat dich vor ein paar Tagen ins Spiel gebracht. Du seiest, sagte sie uns, der beste Mann, vielleicht der einzige, der uns helfen könnte. Sie hat natürlich völlig freie Hand in der Auswahl ihrer Mitarbeiter und auch hinsichtlich einer möglichen Zusammenarbeit mit dir, auch finanziell... Weißt du, ich verrate dir ja nichts Neues, da liegen zwei Pipelines mit insgesamt 4 Rohren in der Ostsee, die zusammen einen Anlagenwert von ca. 20 Milliarden Euro haben, das kann man inzwischen sogar googeln. Wenn uns die jemand kaputt macht, fallen Umsätze von mindestens 100 Milliarden Euro pro Jahr aus. Selbst das würde die Firma Gazprom noch nicht umbringen – aber schwer treffen. Aber die Pipeline ist ja kein russisches Staatsprojekt, auch wenn das im Westen immer so dargestellt wird. Zur Hälfte sind westeuropäische Firmen beteiligt.

Die North Stream 2 AG hat mit ENGIE, OMV, Shell, Uniper und Wintershall Dea Finanzierungsvereinbarungen für das Projekt unterzeichnet.

Das betrifft einerseits das reine Pipeline-Geschäft – aber eine Pipeline ist ja nur ein Rohr. Durch dieses Rohr fließt Gas nach Westeuropa. Klar, es kommt im deutschen Mukran an, aber es wird doch weitestgehend nach Europa weitergeleitet. Mit Gas kann man heizen, das macht man auch, das weiß auch der deutsche Durchschnittsgrüne, und da setzt ja auch die Kritik dieser Menschen an, äh CO2 und so, aber das ist ja nur der für die Öffentlichkeit sichtbare Teil, der größere Teil des Gases wird in der deutschen und europäischen Industrie als Grundstoff weiterverarbeitet. Warum ist denn wohl die DEA als Bayer-Tochter dabei? Bayer sichert sich damit das russische Gas, respektive seinen Anteil daran. Mit den aus dem Gas erzeugten Produkten wird dann weltweit sehr viel Geld verdient. Das sichert viele Arbeitsplätze in der EU. Davon wird leider zu selten geredet.

Aber klar, das Land Russland ist in dem Geschäft ein wichtiger Partner, dem das Gas gehört, das Gazprom nach Europa liefert. Wenn jemand die Pipelines zerstört, müsste Russland natürlich auch als angegriffenes Land reagieren, allein schon, um das Gesicht zu wahren. Meine russischen Freunde sind sehr bestrebt, ihr Gesicht zu wahren, weißt du...

Gas wird seit 50 Jahren aus der Sowjetunion und dann aus Russland bezogen. Du als Kind der DDR wirst dich vermutlich nicht an den Röhren-gegen-Gas-Deal von 1969 erinnern. Damals – es herrschte tiefster Kalter Krieg – lieferte Deutschland Röhren für den Aufbau des russischen Pipeline-Netzes. Bezahlt wurden die Röhren durch russische Gaslieferungen. Damals begann diese Zusammenarbeit – und sie wurde bis heute nicht unterbrochen. Aber diese ersten Pipelines sind inzwischen alt und marode, eher rott als marode, da verschwindet auf dem Weg hierher fast mehr Gas als hier ankommt. Es wird viel Gas gestohlen, aber es verschwindet auch einfach. Diese Pipelines verlaufen über die Ukraine und Polen, beides Länder, die den Russen unfreundlich bis feindlich gegenüberstehen und die sehr teure Durchleitungsgebühren für das Gas verlangen. Und die ständig die Gebühren erhöhen. In beiden Ländern sind die USA vor und hinter den Kulissen sehr aktiv. Glauben sie mir, die wollen den Gastransfer durch die alten Pipelines nur offiziell aufrechterhalten. In Wirklich geht es ihnen darum, den Hahn zudrehen zu können, wenn es ihnen in den Kram passt. Und dann müssen wir Deutsche wohl oder übel US-Fracking-Gas kaufen. Teuer und verdammt dreckig! Darüber reden unsere lieben Grünen nicht. Die North Stream Pipeline passt unseren amerikanischen Freunden überhaupt nicht ins Kalkül. Denn die Pipeline ist die modernste und leistungsfähigste der Welt, sie verliert unterwegs kein Gas und umgeht Polen und die Ukraine.

Für bestimmte Damen und Herren in den USA ist das eine unausgesprochene Kriegserklärung, glauben sie mir. Ich sage nur: America first. Und das unterschreibt jeder US-amerikanische Präsident. Jeder! Ob die nun Trump oder Biden oder in zwei Jahren Harris heißen! Aus deren Sicht müssen die vier Rohre der beiden NorthStream Pipelines weg! Unbedingt. Das ist aus deren Sicht nur Macht- und Ordnungspolitik einer Weltmacht. Und dafür sind denen alle Mittel Recht, ALLE, auch eine Zerstörung, glaube mir.

Seit neuestem reden die Amerikaner von der Pipeline als Putins Waffe, als Angriff auf den freien Westen und von ihrem Gas als sog. „Freiheitsgas“. Das ist, gelinde gesagt, eine Frechheit und eine Ohrfeige für uns und die Russen. Weißt du, ich lasse mich ungern ohrfeigen...

Nein, ich darf eine Zerstörung der Pipelines nicht zulassen, Kalle. Denn das bedeutete Krieg!

Ich will aber keinen Krieg. Ich habe mich als Kanzler damals vehement gegen eine Beteiligung Deutschlands am Irak-Krieg gewehrt, was heute viele Menschen in Deutschland vergessen haben, die denken bei meinem Namen ja nur noch an Hartz IV, naja egal, und ich wehre mich heute genauso vehement gegen einen Gaskrieg zwischen den USA und Russland, auf den die Amerikaner zusteuern, vielleicht zusteuern wollen, um korrekt zu bleiben.

Die Amerikaner waren seit dem Ende des 2. Weltkrieges in der Auseinandersetzung mit der Sowjetunion oder Russland immer der aggressivere Partner. Das wird bei uns nicht so dargestellt, aber es war so, glaube mir. Sie sind es auch jetzt. Man muss sie stoppen, nein, wir müssen ihre Handlanger stoppen. Nicht wegen ein paar Kubikkilometer Gas. Nein, es geht um mehr, eigentlich sogar um alles. Denn einen Krieg, oder diesen Krieg, gewinnt heute am Ende niemand mehr. Das ist meine echte Überzeugung. Und darum mache ich meinen Job. Auch als Sozialdemokrat, was mir in Deutschland ja kein Mensch mehr glaubt, die sehen in mir ja nur den Putin-Freund und seinen Lakaien. Nun, was soll´s. Mir kann es egal sein, denn wahrscheinlich bin ich der am besten bezahlte Sozialdemokrat der Welt“, lachte Gerhard über seine letzte Bemerkung.

„Und wenn du, Kalle, der Allerbeste bist, was ich sofort glaube, weil Anna Walentina das sagt, dann gibt es logischerweise kein Limit für deine Forderung. Keines, verstehst du. Denn wir reden nicht nur um 20 Milliarden Euro für die Pipelines plus ein paar Hundert Milliarden Umsatz pro Jahr für Russland und einige Firmen, wir reden im Endeffekt auch über das Weiterbestehen der Menschheit.

Und dafür ist mir kein Preis zu hoch - außer, du wirst unverschämt. Aber jemand, der mir am Strand von Rügen einen solchen Cognac serviert, der kann einfach nicht unverschämt sein. Nein, das will ich nicht glauben. Wisst ihr was, Kinder, ich habe alles gesagt, was mir Anna Walentina und Alexei Iwanowitsch aufgetragen haben, Kim und ich werden euch jetzt verlassen, Kalle, um deine schöne Insel weiter zu erkunden, und ihr macht den Rest unter euch aus.“

Sprach´s und stand auf. Die brave Kim folgte auf dem Fuße.

Kalle hatte den Erläuterungen wort- und sprachlos zugehört. Junge, das war ein Ding! Aber da er zwei Gehirnhälften hatte, konnte er gleichzeitig das unerwartete Wiedertreffen mit Anna Walentina und die aufregenden Neuigkeiten um die Pipeline verarbeiten.

Auch Alexei Iwanowitsch erhob sich mit den Worten: „Ich denke, sie haben einiges zu überdenken, Kalle, und sie haben sicherlich einiges mit Anna Walentina zu besprechen. Mein Vorschlag lautet, sie beide jetzt allein zu lassen. Wäre ihnen ein Treffen morgen am selben Platz zur selben Zeit recht, dann könnten wir weiterreden?“

„Ja, ja, natürlich, morgen hier um die gleiche Zeit, das passt mir natürlich...“, sagte der immer noch in einer Gehirnhälfte, nämlich der, die sich mit Anna beschäftigte, fassungslose Kalle.

„Du bleibst noch?“, fragte er Anna. Die nickte zustimmend. Die anderen drei erhoben sich gerade aus dem Strandkorb als Mandy zwei Café türkischer Art, einen Kaffee mit Branntwein und ein stilles Wasser servieren wollte. Gerhard winkte freundlich lächelnd ab.

„Wir müssen leider schon...“, sagte er und steckte Mandy einen Hunderteuroschein zu, „leider... Stimmt schon, Fräulein...“. Mandy schaute verdutzt auf den Schein und rechnete schnell das darin enthaltene Trinkgeld aus. Großzügig, in Prozenten sogar enorm – wie gesagt, Mandy ist keinesfalls dumm –, damit hatte sie nun nicht gerechnet. Kalle hatte offenbar genau die richtigen Worte gefunden. „Die können ruhig öfter reinschauen“, befand Mandy für sich, komische Leute zwar, aber das Trinkgeld war okay, das gefiel ihr. Damit brachte sie das Tablett mit den nicht angerührten Heiß- und Kaltgetränken wieder hinein.

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