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Am Bug
ОглавлениеSommer 1983. Der Bug ist ein langgestreckter, schmaler westlicher Zipfel von Rügen, sehr flach und baumbestanden, der sich parallel zur Insel Hiddensee hinzieht. Im Grunde ist der Bug für Rügen, das, was Kamtschatka für Russland ist – ein kaum besiedeltes Anhängsel, kompassrosenmäßig bloß andersherum. Eben im Westen statt im Osten.
Die Ostsee ist rund um den Bug extrem flach. Die Sonne scheint im Jahrhundertsommer 1983 besonders häufig und intensiv – in der Folge ist das Wasser in diesem Sommer für hiesige Verhältnisse extrem warm und lädt fast täglich zum Bade. Auf dem Bug befindet sich, umgeben von Küstenwald, ein wichtiger Stützpunkt der DDR-Marine für Torpedo- und Raketenschnellboote.
Wie gesagt, Strand und Wasser laden hier zum Baden ein – aber nur wenige Menschen können der freundlichen Einladung an den weißen Sand und in das warme Wasser folgen, denn erstens ist die Insel Rügen nicht dicht besiedelt, und zweitens leben in dem Eck „oben links“ von Rügen nur wenige Menschen: Einige Ruganer – so nennen sich die einheimischen Insulaner – und circa 3.000 DDR-Marine-Soldaten, die in Dranske in der 6. Flottille auf den o.g. Schnellbooten und um sie herum Dienst tun, sowie eine Handvoll russischer Soldaten, die sich irgendwie hierher verloren haben.
Dabei ist die Anwesenheit einer russischen Funktechnik-Einheit so dicht an den Klassenfeinden BRD, Dänemark und Schweden (ist neutral, aber bis auf Pippi Langstrumpf kapitalistisch) und den dicht befahrenen Schiffsrouten der Ostsee ja fast logisch.
Wobei man hier von den Russen im Jahre 1983 kaum etwas wahrnahm. Im Jahrhundertwinter 1978/79 hatten sie der Bevölkerung Rügens in verschiedenster Form geholfen – vom Freiräumen der Straßen vom Schnee mit sibirischen Spezialpanzern, bis hin zum Brotbacken als Strom und Gas ausgefallen und die Vorräte aufgebraucht waren. Berühmt geworden sind die damals spektakulären Transporte von Schwangeren mit Panzern und Hubschraubern in die Krankenhäuser in Stralsund zur Entbindung. Aber wer dachte in diesem heißen Sommer noch an alten Schnee? Niemand.
Einige Kilometer weiter in Richtung Kap Arkona liegen große Campingplätze, die im Sommer dicht belegt sind. Wer hier Urlaub machen kann, ist in der DDR privilegiert: Rügens Traumstrände! Für die DDR-Urlauber ist der Bug wegen der Marinebasis hinter Dranske jedoch Sperrgebiet.
Nicht aber für die jungen Soldaten der Schnellboote, ganz im Gegenteil, sie sind hier ja stationiert. Wie bei jedem Militär der Welt gibt es auch bei der 6. Flottille viel Muße; viel Leerlauf, viel Zeit, in der nichts geschieht, die aber irgendwie rumgebracht werden muss. Bei mehr als 30°C Luft- und 25°C Wassertemperatur sind die jungen Männer der Schnellboot-Flottille häufig mehr im Wasser als auf ihren Raketen- und Torpedoschnellbooten zu finden.
Mädchen gibt es 1983 auf dem Bug natürlich nicht – weder auf den Schnellbooten noch am Strand, bis auf einige Krankenschwestern, aber das sind gestandene Frauen, die sind nichts für die jungen Mariner.
Obwohl, das mit den Mädchen, die es hier nicht gibt, nicht geben kann und nicht geben darf, stimmt zumindest in diesem Moment nicht.
Die jungen Männer ahnen nur nichts von dieser Regelverletzung. Denn EIN junges Mädchen, im Alter von vielleicht 17 Jahren, liegt hinter einem angeschwemmten dicken Baumstamm im Schatten einiger Bäume am Strand auf der Hiddensee zugewandten Seite des Bug.
Es handelt sich um Anna Walentina Serowa, die Tochter des Kommandanten der russischen Kompanie, die bei Dranske stationiert ist. Sie verbringt die Sommerferien bei ihrem militärisch gesehen zumindest lokal allgewaltigem Vater. Und was liegt für ein einsames junges Mädchen auf Rügen in einer mehr oder weniger „toten Ecke“ näher, als an den Strand zu gehen.
Anna Walentina trägt ihre roten Haare frech und kurz geschnitten, die Nase ist etwas stubsig, Gesicht und Körper sind mit Tausenden Sommersprossen geflammt, und die Augen sind wasserblau. Sie hat alles, um einmal eine schöne Frau zu werden. Sie ist hübsch gewachsen und hat die typisch helle Haut der echten Rothaarigen, weswegen sie auch versteckt im Schatten liegt.
Neugierig linst sie zu den jungen Soldaten, die sich ein paar zig Meter entfernt mit einem Ball und viel Lachen, Gealbere und großem Juchhei ins Wasser stürzen. Einer von ihnen ist Kalle, der in dieser Geschichte noch eine wichtige Rolle spielen wird.
Einer, der offenbar wirklich nicht Fußball spielen kann, schießt den Ball als Querschläger weit in Annas Richtung ins Wasser. Kalle stürzt mehr als er läuft hinterher, um den Ball zu holen.
Während die Genossen, auf den Ball wartend, im Wasser herumalbern, hat Kalle aus dem anderen Blickwinkel am Strand Anna Walentinas Rotschopf gerade noch hinter angeschwemmtem Holz gesehen, dann hat sich das Mädchen schon wieder hinter ihren Baumstamm geduckt, als ob sie nicht entdeckt werden wollte.
Unauffällig hält Kalle beim Ballspiel immer wieder nach ihr Ausschau, vorsichtig, um die anderen ja nicht auf sie aufmerksam zu machen. Man weiß ja nie... Er mag es kaum glauben, aber sollte sich da wirklich ein Mädchen hier am Strand im Sperrgebiet aufhalten?
Die anderen jungen Männer haben das Mädchen offenbar nicht wahrgenommen, so viel ist klar, sonst hätte es sofort einen mittleren Aufstand gegeben, und zehn junge Soldaten hätten sich bei dem Mädchen versammelt. Ein echtes Mädchen am Bug – unmöglich. Absolut unmöglich. Und doch wieder nicht. Und hübsch scheint sie auch noch zu sein, denkt unser Kalle, der nicht viel von ihr gesehen hat, aber das, was er gesehen hat, vielversprechend findet.
Als die anderen abgekühlt vom übermütigen Toben und müde vom mitgebrachten Schnaps beginnen, sich so langsam wieder auf den Weg in ihre Quartiere zu machen, bummelt Kalle so lange mit seinem Handtuch herum, bis er allein am Strand ist. „Komme gleich“, ruft er den anderen nach, „geht schon mal vor!“
Wenig später schlendert er möglichst unauffällig in die Richtung, in der er das Mädchen gesehen hat. Da war doch eines gewesen, oder? Ist sie noch da? Tatsächlich, da liegt ein Mensch, eindeutig weiblich, eindeutig jung, eindeutig rothaarig, eindeutig hübsch – das ist zu sehen. Sie scheint nicht zu jung zu sein, kein kleines Mädchen mehr, eher schon eine junge Frau, tatsächlich echt rothaarig, hellhäutig, blauäugig, schlank und doch kräftig gebaut und insgesamt einfach hübsch. An ihr ist alles genau so und genau da – wie es für Kalles Vorstellung bei Mädchen sein soll. Kalle ist nun selbst ein flotter Kerl und mit seinen 20 Jahren mit Mädchen keineswegs ganz, aber auch noch nicht sehr erfahren. Natürlich hat er so seine Vorstellungen, wie ein Mädchen, sein Mädchen, aussehen soll. Und die da liegt und liest, sieht einfach nur umwerfend aus.
Als er auf 10 Meter an sie herangetreten ist, klappt sie das russische „Lehrbuch der deutschen Sprache“, in dem sie zu Lesen vorgegeben hat, zu, legt es zur Seite und mustert Kalle offen. Was nicht erstaunt, denn – wie gesagt – Kalle ist ein gut aussehender Kerl: Groß, schlank, muskulös, trainiert...
„Hallo“, sagt er schüchtern, als er endlich vor ihrem Lager steht, das vor allem aus ihrem Handtuch besteht. Das ist der Moment, in dem sich jeder junge Mann fragt, was er eindrucksvoll Intelligentes, Wichtiges und gleichzeitig Witziges sagen könnte. Etwas, was am besten noch nie gesagt wurde, und noch besser, „sie“ auf Anhieb umhaut. Kalle fällt nichts ein, darin unterscheidet er sich nicht von seinen Alterskameraden. Also sagt Kalle einfach nur „hallo“ und hebt grüßend die rechte Hand, mehr kommt da nicht. Und weil das Mädchen fast nackt ist, wissen seine Augen gar nicht, wo sie hinschauen sollen. Sie anstarren geht ja nun gar nicht, das ist dem gut erzogenen Kalle klar, bei dem Anblick wegschauen geht aber fast auch nicht, das ist den Augen klar. Er entscheidet sich für die blauen Augen. Was ihm schwer fällt.
„Gutten Tag“, sagt sie eher bestimmt als schüchtern und lächelt ihn freundlich an. Deutsche ist sie nicht, das hört er schon aus den ersten beiden Worten, aber sie scheint sehr gut deutsch zu sprechen, eigentlich perfekt.
„Wo, oder besser wie, kommst du denn her? Das ist ein Sperrgebiet“, fragt er und zeigt mit einer Zirkelbewegung seines ausgestreckten Zeigefingers der rechten Hand irgendwie um sich herum, um das Sperrgebiet anzudeuten, „hier darf keiner rein! Das ist verboten, weißt du!“
Sie schaut ihn mit diesen verdammt hellblauen Augen über vielen niedlichen Sommersprossen auf der Nase und den Wangen an, denen er nie widerstehen könnte, wenn sie es darauf anlegen würde. Tut sie aber nicht. Sie sagt erst einmal nichts. Kalle glaubt, in diesem Blick zu ertrinken. Nach einem Moment zuckt sie dann doch mit den Achseln und sagt schließlich, „vielleicht, mag sein. Ja, ich weiß. Das gilt aber nicht für mich...“
„Doch“, sagt er, „das gilt für alle. Du solltest sehen, dass du möglichst schnell ungesehen verschwindest, am besten am Strand entlang. Ich könnte dir einen Weg vorbei an der Wache zeigen... Ich meine das nur gut mit dir. Eigentlich müsste ich dich sogar melden, weißt du... Aber dann bekommst du Probleme. Und ich wahrscheinlich auch.“
Nach einem Moment fragt er dann nach: „Wieso soll das nicht für dich gelten? Sperrgebiet gilt für alle. Wer hat dich hier reingelassen? Du bist doch nicht vom Himmel gefallen oder angeschwemmt worden, oder? Und selbst dann...“
„Papas Fahrer...!“, lächelt sie ihn harmlos an. „Nein, nicht vom Himmel und auch nicht angeschwemmt oder angeschwommen, wie heißt das richtig? Nein, ganz bestimmt nicht. Ich habe weder Flügel noch Flossen! Keine Flügel, kein Fliegen, keine Flossen, kein Schwimmen, ist doch logisch, oder?“
Er schaut sie noch einmal genau an: Tatsächlich, keine Flügel und keine Flossen – alles, wie es sein soll!
„Papas Fahrer?“, fragt er ein wenig dümmlich, wie er selbst findet, „Papas Fahrer? Und wer ist Papa? Dass er das bestimmen kann?“
„Oberst Sarow.“
„Kenn´ ich nicht. Ach so, doch, der von den russischen Funktechnikern, dann bist du Russin? Stimmt das, bist du oder ist er bei den russischen Funkern?“
„Ja. Enttäuscht, weil ich eine Russin bin?“
Kalle schüttelt lächelnd und gleichzeitig verneinend den Kopf. „Nein, gar nicht, internationale sozialistische Freundschaft und so, du weißt schon...“, lacht er, „ aber sag´, was treibst du hier?“
„Baden“ antwortet das junge Mädchen, das, ob seiner Nacktheit, kein bisschen scheu erscheint, sehr selbstverständlich, „was sonst? Es ist Sommer“, nun deutet sie mit derselben Zirkelbewegung ihres ausgestreckten Zeigefingers der rechten Hand, wie er sie vorhin benutzt hat, in Richtung Sonne, „die Sonne scheint, keine Wolke am Himmel, es ist heiß, da geht man da, wo ich herkomme, zum Baden. Ihr doch offenbar auch. Moment mal“, sagt sie dann, „ich ziehe mir nur schnell etwas an, das ist..., wie sagt man hier, mehr schicklich? Heißt es wirklich schicklich? Ich meine, das gehört sich doch wohl so, oder?“
„Naja, schicklich ist schon in Ordnung, ist vielleicht etwas altbacken, etwa so altbacken, wie wenn man dich einen Backfisch nennen würde... Sag mal, wieso sprichst du so gut Deutsch?“, will Kalle dann wissen und findet die Idee mit dem Anziehen ausgesprochen schade. Aber sie zieht nur eine Winzigkeit von Häkel-Bikini-Oberteil an, was die Sache für Kalle erträglicher macht.
„Backfisch?“, fragt sie, „was heißt das? Das Wort kenne ich nicht? Bin ich etwa etwas zum Essen?“
„Nein, nicht zum Essen, höchstens zum Anbeißen“, lacht Kalle, „naja, Backfisch, weiß du, ist eine unmodern gewordene Bezeichnung für eine junge Frau von 16 bis 20 oder so... Ungefähr so unmodern wie schicklich, verstehst du?“. Er findet seine Erklärungen irgendwie blöd, sie findet sie nett und ihn auch.
„Mein deutsch ist gutt?“, wechselt sie das Thema, „Mama, sie ist..., sie war Deutsche. Ihr Vater, ein deutscher Raketen-Ingenieur der Nazis, nahm sie nach dem Großen Vaterländischen Krieg mit nach Russland. Er war wohl so etwas wie eine Kriegsbeute... Sonst hätten ihn die Amerikaner nach Amerika verschleppt. Mama wuchs in Russland auf. Dann kam irgendwann mein Papa, sie verliebten sich, sie heirateten – und dann kam ich. Und Papa wollte, dass sie mit mir immer deutsch spricht... Wegen der Kultur und so. Und jetzt besuche ich ihn hier.“
„Darf ich mich ein wenig zu dir setzen?“, will Kalle sehr höflich wissen.
„Warum nicht? Es ist nicht mein Strand, wie sagt ihr Deutschen? Volkseigentum! Und es ist genug Platz da“.
Na, immerhin ist das kein nein. Er setzt sich in den warmen Sand. Es folgen einige Momente des Schweigens. Kalle überlegt, was er als nächstes Sinnvolles sagen könnte. Anna auch.
„Du bist hübsch“, fällt ihm nach einiger Zeit ein, „sehr hübsch...“
„Danke“, sagte sie artig und lacht, „Du hast ja schon viel gesehen...“. Sie lächelt ihn unter einem leichten Rotton, der über ihr Gesicht fliegt, und bei dem nicht klar ist, ob die Sonne an ihm schuld ist oder doch eine gewisse Scheu, ein wenig frech an: „Gehen wir baden? Was soll man hier sonst machen, Fremder. Wie heißt du eigentlich, und was machst du hier?“
Da sie bei den Fragen das Oberteil wieder auszieht, entledigt sich Kalle ebenfalls seiner Badehose. Dann rennen sie um die Wette gemeinsam ins hoch aufspritzende warme Wasser, dessen angenehme Temperatur den beiden im Moment völlig egal ist. Da Kalle höflich ist, lässt er sie den Lauf gewinnen, außerdem ist die Sicht von hinten auf sie nicht nur besser, sondern geradezu atemberaubend, findet er. Außerdem ist ihm die Reaktion seiner Körpermitte peinlich, weshalb er sich sehr schnell ins Wasser wirft. Das Wasser hätte auch nur 15°C haben können, Kalle wäre einer sich ins Eismeer stürzenden Anna gefolgt, vielleicht nicht bis zum Nordpol, aber bis zur Eisgrenze ganz sicher.
Wenn jemand die beiden jungen Menschen beobachtet hätte, hätte er zugeben müssen, dass jede(r) für sich und sie als Paar schon ein verdammt schönes Bild abgeben würden. Ganz nebenbei bemerkt, ist es nicht erstaunlich, in wie kurzer Zeit die Natur weiß, ob und wie zwei Menschen zusammenpassen? Zufall oder Planung? Gar ein göttlicher Eingriff? Letzteres eher nicht, jedenfalls nicht im sozialistischen Kernland DDR. Planung? Könnte im Sozialismus eher hinkommen. Anna und Kalle denken nicht darüber nach, obwohl das ja doch eine interessante Frage wäre. Und wenn es ein Plan sein sollte, dann ist es einer der wenigen Pläne, die im Sozialismus und im Kapitalismus gleichermaßen funktionieren. Aber wahrscheinlich ist es das mit der Planerfüllung nicht, da das menschliche Element eine wichtige Rolle spielt. Am ehesten kommt sicherlich der Zufall zum Tragen. Vielleicht ein sozialistischer? Egal, die beiden planschen eine ganze Weile im flachen Wasser. Anna kann sogar Handstand, was Kalle hinreißend findet. Aber er findet inzwischen alles hinreißend an Anna Walentina.
Beim Ausdemwasserlaufen stößt Anna Walentina sich einen Fuß an einem im Wasser liegenden, später nicht mehr auffindbaren Stein, so sehr, dass Kalle Anna zu ihrem Lager am Strand tragen muss.
Es ist für den weiteren Verlauf der Geschichte übrigens vollständig egal, ob es sich um den rechten oder linken Fuß handelte, weshalb der Autor auch nicht weiter darauf eingeht.
Da beide nass sind, ist das Tragen und das Getragenwerden eine gleichermaßen angenehm glitschige Angelegenheit, die Anna geradezu zwingt, sich mit beiden Armen um seinen Hals gelegt, eng an ihren „Retter“ zu schmiegen.
In diesem Moment schlägt die Natur zu, weil sie findet, dass die beiden ein gutes Paar abgäben. Die beiden merken davon natürlich nichts, wie das immer so ist. Aber sie bemerken die Auswirkungen des Zuschlagens der Natur.
Die schmerzende Stelle ist für Kalle schwierig zu finden, weil Anna ihn kaum mit Hinweisen, wo es ihr denn nun besonders weh tue, unterstützen kann – zu groß ist der Schmerz, aber beide geben sich größte Mühe. Auftreten kann sie mit dem Fuß natürlich nicht, aber sehr gut sehr niedlich daliegen.
Als die am meisten schmerzende Stelle haben sich nach vielen Versuchen im Rahmen einer Fernwirkung ihre Lippen herausgestellt. Pusten am Zeh hilft etwas, Küssen auf die Lippen deutlich besser.
Das muss etwas mit Fußreflexzonen zu tun haben, anders ist das nicht zu erklären.
Die beiden sind klug genug, sich schnell und wortlos auf die besser wirksame Methode zu einigen, eine Methode, die erfahrungsgemäß durch häufige Wiederholungen noch besser funktioniert. Was beide gut finden.
„Ich bin übrigens Kalle, und ich bin bei den Schnellbooten da drüben...“, flüstert er ihr zwischendurch atemlos zu. Damit ist fürs Erste alles das gesagt, für das man Worte benötigt, finden die beiden und belassen es bei einer wort- aber keinesfalls sprachlosen interkulturellen sozialistischen Kommunikation. Die deutsch-sowjetische Freundschaft erhält in diesen Minuten oder Stunden eine neue Dimension. Vielleicht keine bisher unbekannte Dimension, mindestens aber eine zusätzliche. Eine große Rolle spielen dabei offenbar die Brustknospen der jungen Anna Walentina.
Gut, lassen wir der Natur also ein wenig ihren unbeobachteten Lauf und die beiden für´s Erste allein. Sie wissen, wie das in der Regel weitergeht, deshalb muss man nicht alles haarklein schildern, zu viele Informationen und zu genaue Beschreibungen können einer Sache auch ihren Reiz nehmen.
Das mit den beiden währt so lange, bis ein Wagen resp. sein Fahrer auf der anderen Seite des Waldes offenbar ungeduldig geworden ist und mehrfach hupt, was Anna veranlasst, sich ruckartig aus Kalles erfreulich wirksamer lokalen Schmerztherapie zu befreien: „Mein Gott, das ist Papas Fahrer“, seufzt sie, „verdammt, schon so spät? Verschwinde! Ich muss los – leider! Hau ab, Kalle lyubimoy, sonst sucht er mich hier noch. Und das kann ich jetzt gar nicht brauchen. Der kann doch den Mund nicht halten. Morgen gleiche Stelle, gleiche Zeit?“, fragt sie noch, fährt blitzschnell in ein Sommerkleidchen und sich ein paarmal mit einer Hand durch die kurzen Haare, und dann ist sie schon mit ihren paar Badesachen wie ein rotschopfiger Waldgeist mit Sommersprossen, trotz des unglaubliche stark schmerzenden Fußes ohne Hinken zwischen den Kiefern des Bug verschwunden.
Kalle hört kurz darauf noch einmal das ungeduldige Hupen und dann russisches Schimpfen einer ebenso jungen wie bestimmten weiblichen Stimme, die den „Kretin von Fahrer“ offenbar heftig zusammenstaucht, dass sie doch schon lange da sei, er nicht so einen Krach veranstalten solle, das sei schließlich ein Naturschutzgebiet und sie sei doch heimlich hier, sollten die Deutschen sie etwa entdecken? Und nun mal dawai, dawai...
Am nächsten Tag trifft sich das junge Paar am vereinbarten Ort zur vereinbarten Zeit wieder und setzt wegen der spontan wieder einsetzenden Schmerzen die gestern erfolgreich entwickelte Fußreflexzonen-Schmerztherapie dort fort, wo sie gestern abrupt beendet werden musste.
Auch hier können wir uns bald wieder höflich zurückziehen, Sie verpassen zwar viel Redundantes, die beiden aber ganz sicher nicht.
Über den Jahrhundertsommer 1983 werden unbeschreibliche Tage zu unbeschreiblichen Wochen. Zwischendurch können sie sich für unendlich lange Tage nicht treffen, weil die Marine Kalle in – aus seiner Sicht – selten unsinnige Manöver schickt, in denen er seine Fähigkeiten mit Schnellbooten, Raketen, Torpedos und Ähnlichem umzugehen, verbessern soll! Das sind Dinge, die ihm bisher wichtig waren, deren Sinnhaftigkeit ihm im Moment aber völlig verborgen bleibt. Ab und zu spielen er und seine Kameraden mit den Kapitalisten auf westdeutschen, dänischen oder schwedischen Booten marine Räuber und Gendarmen, wobei niemandem klar ist, wer was ist, was aber auch vollkommen egal ist. Spaß haben alle Beteiligten, nur Kalle nicht... Die DDR-Schnellboote „gewinnen“ meist, weil ihre volkseigenen Maschinen zehn Minuten länger als der Hightech-Schrott der Kapitalisten unter Volllast laufen können.
Kalles Gedanken kreisen bei diesen Übungen nicht um Drehzahlen, Motortemperaturen, Torpedos und Vorhaltewinkel, Raketen und westliche Schiffsziele, nicht einmal um Wassertiefen zwischen Schären, sondern vor allem um kurze rote Haare, Sommersprossen an den verrücktesten Stellen, feste kleine Brüste und all diese anderen rätselhaften Dinge, die Mädchen für junge Männer so unwiderstehlich machen – von unglaublich niedlichen Ohrläppchen bis zu unglaublich niedlichen Zehen an ach so süßen Füßen und all den gut riechenden Teilen dazwischen.
Sie wissen, wovon ich rede, ich muss das nicht weiter ausführen.
Die von Kalle abgeschossenen Übungstorpedos treffen alles, nur kein vorbestimmtes Ziel, lassen unter anderem schwedische Schären-Inselchen erbeben, aber eben nicht seine Soll-Ziele. Fast versenkt er einen dänischen Fischkutter, was ihm gewaltige Flüche auf Dänisch einbringt, die ihn aber nicht weiter berühren, weil die beiden Schiffe Meilen auseinander liegen und sein Dänisch „ausbaufähig“ ist..
Endlich trifft er wieder seine Anna Walentina und alles ist gut. In diesen Momenten hätte dann ein blind von ihm abgeschossener Torpedo ein Zweimarkstück auf dem Mond getroffen, mindestens...
Das zwischen Anna und Kalle ist mehr als eine Jugendliebe und doch noch nicht die ganz große Liebe, aber das wissen die beiden nicht. Selbst Mutter Natur arbeitet noch daran. Für die beiden ist es im Jahrhundertsommer 83 alles, was das Leben Süßes für eine(n) bereithalten kann!
Kalle will nicht mehr ohne seine Anna Walentina sein, Anna Walentina nicht mehr ohne Kalle. Shakespeare hätte ein Stück darüber schreiben können, wäre er nicht viel zu früh gestorben...
Als der Sommer schon Herbst geworden ist, kommt Anna Walentina irgendwann nicht mehr. Nach einem weiteren mehrtägigen Manöver von Kalles Flotille mit denen befreundeter sozialistischer Länder auf der Ostsee ist sie wie vom Erdboden verschwunden, und selbst der russische Fahrer will von nichts etwas wissen. Der Mann kennt das Militär und vor allem seinen Oberst. Bei beiden muss man nicht, darf man nicht alles wissen. Kalle wartet, Kalle sucht, Kalle findet sie nicht, Kalle ist verzweifelt.
Irgendwann nimmt Kalle allen Mut zusammen und erbittet eine private Audienz bei Annas Papa. Das kann eine gute Idee sein oder eine ganz schlechte, je nachdem, wie der Oberst drauf ist...
Der ist sogar erstaunlich gut drauf, sagt, auch in Uniform sei er im Moment Privatmann und bietet Kalle sogar einen Sitzplatz an. Er tut ganz erstaunt, als wisse er von nichts. Sein Augenstern, die liebe Anna, die sei heim nach Wologda, die Sommerferien seien doch schon lange zu Ende, und sie müsse schließlich die Schule fertig machen. Es sei schließlich ihr Abschlussjahr! Wer er denn, bitte schön, sei, Dienstgrad und Einheit? Und was er von seiner kleinen Anna wolle? Ob da etwas am Oberst oder Vater vorbei gelaufen sei, was er wissen sollte? Nein, dann sei es ja gut. Und dann fragt er plötzlich, ob Kalle sich wie ein Gentleman benommen habe, das habe er doch wohl, oder? Über die Konsequenzen eines „oder“ mag Kalle lieber gar nicht erst nachdenken, weshalb er versichert, mehr Gentleman als er könne einer gar nicht gewesen sein. Nein, es sei nur reine Freundschaft, die ihn hierhertreibe, eine seelische Freundschaft mit Anna, sie habe zudem nur ihr deutsch mit ihm und seine Grundkenntnisse im Russischen verbessern wollen.
Dem Gesicht des Herrn Papa ist anzusehen, dass der Oberst von der Natur der Dinge junger Menschen erstens mehr weiß, als er zuzugeben bereit ist, und dass er zweitens Kalle kein Wort bis noch weniger glaubt.
Aber er bleibt nett, heuchelt Verständnis und bietet Kalle zu guter Letzt sogar einen Trostwodka an... Die Anna, die werde sich schon noch bei ihm melden, beruhigt er Kalle, als gute Freundin seiner Seele.
Aber Anna, seine Anna, die liebste Anna ist tatsächlich fort, weit, nein, ganz weit fort... Verlust, Verzweiflung, verrückte Gedanken, sie zu holen – aber das würde Desertion und alles Mögliche bedeuten, an das er gar nicht zu denken wagt, bis hin zum Auftritt vor einem Peloton. Nein, das ist nicht gut. Nicht für ihn und nicht für sie.
Kalle erkennt: Es ist schließlich sein LEBEN, nicht sein Roman! Im Roman, ja, im Roman hätte er sofort alle Brücken abgebrochen, um sie zu treffen, mit ihr zusammen oder eins zu sein. Vielleicht hätte er – nur im Roman! –sogar sein Schnellboot gekapert, um nach Wologda zu schippern, um sie zu holen. Leider war es aus geografischen Gründen so gut wie unmöglich, mit einem geklauten Schnellboot der DDR-Marine Wologda zu erreichen, naja, ehrlich gesagt, es war nicht nur die Geografie, die dagegen sprach, die wahrscheinlich sogar als letzte...
Gut, dass Kalle das unmögliche Unterfangen seiner Wünsche in einem sehr frühen Stadium abbricht. Unter anderem, weil die DDR-Justiz mit Bootsdieben erfahrungsgemäß nicht sehr sanft umgeht. Aber auch, weil das Leben anderes mit ihm vorhat, aber das weiß er noch nicht.
Irgendwann trifft der erste einer Reihe von Briefen mit einer russischen Briefmarke ein, in dem eine sehr geknickte Anna erklärt, der Papa habe sie gegen ihren Willen heim in die Sowjet-Union nach Wologda zur Mutter geschickt: Um die Schule fertig zu machen und um ein Studium „Internationales Recht und internationale Ökonomie“ zu beginnen und vor allem, um diesen Flegel von deutschem Soldaten zu vergessen, für den sie noch viel zu jung sei, sie sei doch noch ein Kind – und er... ein Deutscher! Natürlich, schrieb sie, sei sie gar nicht mehr zu jung, sie sei eine Frau, das fühle sie, das wisse sie, das wisse er... Und sie würde ihn nie, nie, nie vergessen. Nicht ihn, nicht seine Liebe und nicht..., also gar nichts. Und sie sei sicher, sie würden wieder zusammenkommen, nicht heute, nicht morgen... Aber sie würden es schaffen!
Sie wissen, was in solchen Momenten geschrieben wird, das können wir hier also abkürzen. Wir kommen sowieso darauf zurück.
Aber das mit der Liebe sei ganz sicher. Und überhaupt, das sei alles so hinterhältig und gemein..., typisch Vater eben. Dabei liebe sie ihn, Kalle, doch und alles sei so schwer ohne ihn.
Wologda liegt in Russland, irgendwo im Nirgendwo nordwestlich von Moskau und im anderen Nirgendwo nordöstlich von St. Petersburg – auf dem Globus ist das nicht aus der Welt – für unsere beiden Liebenden hätte allerdings eine(r) auch auf dem Mars leben können. Wologda, das war einfach „aus der Welt“. Wenn die Welt eine Scheibe wäre, hätte es hinter dem Horizont auf dem Rücken einer der Schildkröten gelegen, auf denen die Scheibenwelt ruht. Unerreichbar wie ein Paralleluniversum. Später werden Annas Briefe (die übrigens nie eine Absenderadresse enthalten) seltener, die Inhalte kürzer und nüchterner und irgendwann, da studiert sie schon, ist es – das muss im Winter 1984 sein – der letzte Brief mit einem letzten dicken roten Abschiedskuss auf dem Briefpapier. Dann kommt nichts mehr. Vielleicht, weil Papa in die Heimat versetzt worden ist.
Es dauert lange, bis Kalle die hübsche Anna mit ihren zauberhaften Sommersprossen „überall“ überwunden hat. Erst ist Anna einen Sommer lang eine große Liebe, dann eine schmerzhafte Erfahrung, sie wird zu einer bloßen liebgewonnenen Erinnerung, und schließlich mutiert sie zu einer schönen – immer blasser werdenden – Reminiszenz, die Kalle aber weder loslassen kann noch missen möchte. Manchmal erscheint ihm seine Anna Walentina ganz nahe, und dann scheint sie für Monate vollkommen aus seinem Leben verschwunden zu sein. Nur um irgendwann völlig unerwartet wieder aufzutauchen, um alte Wunden aufzureißen. Manchmal spricht er dann mit ihr, manchmal gibt sie ihm plötzlich (gute) Ratschläge, übrigens nie einen schlechten – ganz verlieren kann und will Kalle seine Anna Walentina nie.
Ich vermute, Sie kennen das.