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21. März. Bei Tante Greten

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9.45 Uhr. Gegen viertel vor zehn erschien Udo im Laden, grüßte fröhlich mit „Moin Moin!“, und sah, dass er allein im Laden war. „Hallo“, rief er, „Frau Z.? Keiner da?“

Hinten in der Küche rumorte es eine Zeit lang, dann erschien die strahlende Frau Z., sich die Hände in einem Küchenhandtuch abtrocknend.

Sie mochte Udo und vor allem seinen norddeutschen Dialekt. Manchmal sagte sie „Udo, sagen sie doch mal was, das ist immer so lustig.“. Sie meinte aber nicht „witzig“, sie meinte eher, dass es sich für bayerische Ohren ungewohnt und damit irgendwie etwas lustig anhörte, wenn Udo auf „Hamburger-Hafen-Modus“ umschaltete und dann irgendwelche Döntjes aus seinen Hafen-Jahren zum Besten gab. Die mussten auch nicht wahr sein, wenn es nach Frau Z. ging, sie sollten sich nur „schee“ anhören – und sie waren ja auch nie „wahr“ - oder wenn doch, glaubte sie trotzdem niemand.

„Moin“, sagte Udo jetzt im halben „Hamburg-Modus“, um Frau Z. eine kleine Freunde zu machen, „ham´ sie noch Brötchen?“

Brötchen - das war in München so eine Sache, Brötchen gibt es in Norddeutschland (Udo betonte stets, dass es Brötchen in „Deutschland“ gäbe!), in München gibt es keine Brötchen, da sind das Semmeln.

Also lernte er gleich mal wieder, aber richtig: „Aber Udo, des san‘d doch Semmän!“

„Auch gut, ich nehme drei und eine Brezel.“

„Brezn. So an großen Hunger heut früh? Oder müssen sie eine Dame zum Frühstück bewirten, sie Schlimmer?“, fragte Frau Z.

„Nö“, sagte Udo, „nix da mit die Frunslüüd... Das ist lange her.“

„Nana, sie sind doch ein stattliches Mannsbild, Udo, wirklich, da wird doch scho no was gehn, oder?“

„Hhm“, machte Udo, „ach nö, wissen Sie, das ist so kompliziert mit die Frauen, nee, ich gehe nur zu Tante Greten zum Frühstück, da leckt der Wasserhahn!“

„Müssens mal wieder was reparieren, gell? Na, sie haben schon ein gutes Herz Wenn wir sie hier nicht hätten…“

„Ach“, sagte Udo, „da nicht für! Kann ich jetzt meine Brötchen haben, Tante Greten fällt sonst vor Hunger vom Hocker.“

„Ach Udo, sie aber immer, sie sagen solchene Sachen, die fällt doch nicht vom Hocker, weil, die hat doch gar keinen. Ja, natürlich“, beeilte sich Frau Z. daraufhin, „die Brötchen, oh, mein Gott, jetzt sage ich auch schon Brööötchen statt Semmeln, sie können eine arme Frau aber auch ganz schön durcheinander bringen, Udo“, lachte sie und reichte ihm dann die Tüte. „Brauchens auch an Aufschnitt oder einen Butter?“

„Nö, das wird Tante Greten schon haben, sonst gibt es Marmelade.“

„Ja, Marmelade hat sie gestern gekauft, Kirsche und Johannisbeere und an Butter müsste sie eigentlich auch noch daheim haben...“

„Na, denn kann ja nix schiefgehen“, lachte jetzt Udo, „gut, dass sie so etwas alles wissen.“

„Ach, das ist ja nur, weil sie gestern erst hier war. Sonst wüsste ich das ja nicht, ich bin ja auch nicht neugierig.“ Und als Udo sich schon umdrehen wollte, um zu gehen, sagte sie: „Ich krieg fei noch einen Euro achtzig.“

„Oh, Entschuldigung“, entgegnete Udo, „das kommt von das Palavern, nicht?“

„Das...was?“

„Das kommt von dem vielen Gerede“, er gab ihr zwei Euro, „passt schon, der Rest ist für die Wechselkasse!“. Frau Z. legte das Geld in die Kasse, entnahm der sorgfältig zwanzig Cent und warf sie in das Einweckglas auf dem Warmhalteofen für den warmen Leberkäs und fragte dann: „Das war schon eine schöne Trauerfeier gestern, net wahr?“

„Ja, war ganz nett.“

„Nett? Nur nett? Also ich weiß nicht, ich fand sie schön – und die Blumen waren so schön.“

„Ja, obwohl – ein paar von den anderen hätten wohl es wohl lieber klassisch gehabt, so mit einem richtigen Kranz mit Schleife, nicht?“

„Hat es Ihnen denn nicht gefallen? Der Blumenteppich von den Blumenbuben, meine ich.“

„Ich fand´s sehr gut.“

„Na, dann ist ja alles in Ordnung!“

„Den Brief haben sie sehr schön vorgelesen.“

„Ja? Danke, gell! Obwohl – ich musste an mehreren Stellen fast weinen.“

„Das mussten doch alle.“

„Naja, es war aber auch traurig, nicht? Einfach so den Vater von der eigenen Tochter erschießen...“

„Sie fand, sie hätte genügend Gründe.“

„Ja schon, aber es dann auch zu machen, also zu schießen, meine ich. Sie haben ihr scho a bissi g‘holfen, nicht?“

Jetzt wurde Udo aber aufmerksam und sehr vorsichtig: „Wie kommen sie denn darauf?“

„Ich dachte halt, ich hätte so etwas gehört.“

„Was denn?“

„Dass sie sie hingefahren hätten?“

„Unsinn! Wie denn, ich habe doch gar kein Auto, nee, Frau Z., da hat ein unverantwortliches Plappermaul Tüttelkram erzählt, wer denn?“

„Tüt...was?“

„Tüttelkram, Frau Z., Lügengeschichten!“

„Ach so, ja, die Frau Plüschke, die verzählt...“

„Ach so, die Plüschke, die kann`s Maul unter der Perücke mal wieder nicht halten, was? Und der ausgerechnet glauben Sie?

„Nein, natürlich nicht, der doch nicht, aber ich dachte, ich frage mal... bevor es jemand anderer tut, Udo!“

„Sie haben das doch gestern auch selber vorgelesen, dass sie es allein getan hat, ganz alleine.“

„Ja klar, Udo“, sagte Frau Z. bestimmt, „da hams recht, da sehen sie mal, was andere für einen Schmarrn rumerzählen. Na, die soll mir wieder unter die Augen kommen, die Plüschke, die bläde Amsel. Also nun gehns a mal zu, sonst wartet die Tante Greten bis zum Mittag auf ihre Frühstücks-Semmel. Wollen sie nicht noch zwei Eier mitnehmen? Die hat sie nämlich nicht, soviel ich weiß, halt.“

„Gute Idee! Zwei.“

„Weiße oder braune?“

„Ist egal, ach, lieber braune – das sieht mehr nach Heckenkratzer aus...“


Als Udo den Laden mit den Semmeln, der Brezn und zwei braunen Eiern in einer Papiertüte verließ, saß Herr F. auf einer umgedrehten Bierkiste neben der Ladentür, eine Zigarette rauchend, und hatte den Hübnerplatz „optisch voll im Griff“. Er grüßte Udo mit den Worten, dass sein Tag lang, segensreich und erfolgreich sein möge... Udo wünschte ihm dasselbe.

„Ach“, sagte Herr F. von unten herauf und qualmte, „ich habe da einen neuen Rotwein... vom Feinsten sage ich Ihnen, Udo, den müssen sie probieren. Ein Franzose. Super bewertet! Neun Euros die Flasche!“

„Na, dann legen sie mir eine Kiste zurück!“

„Höchstens fünf Flaschen, eine muss ich selber trinken.“

„Na gut“, sagte Udo, „ich schaue heute Nachmittag noch einmal rein. Der Sancerre von letzter Woche war übrigens S-pitze!“, und stolperte dabei gewollt „etwas über den spitzen Stein - von wegen dem Hamburger, den er heute Morgen im Laden gab.

„Ja, nicht?“, antwortete Herr F. „der ist richtig gut!“, und schmatzte leicht bei der schönen Erinnerung, die der Wein auf seiner Zunge hinterlassen hatte, „ich kriege davon noch ein paar Kisten.“

„Sagen sie mir Bescheid, wenn die da sind!“. Damit verabschiedete sich Udo und trottete zu Tante Greten, die ja nur ein paar Häuser weiter wohnte.

Er klingelte und Tante Greten betätigte nach geraumer Zeit den Summer. Udo lief die Treppen hinauf (also, um ehrlich zu sein, als „hinaufstürmen“, „hinaufrennen“ oder „hinauflaufen“ konnte man es nicht wirklich bezeichnen, aber er beeilte sich zumindest) und kam bei Tante Greten im zweiten Stock etwas atemlos an.

„Na“, fragte Tante Greten, „hast du dich im Laden festgeredet?“

„Bin ich zu spät?“

„Nein, aber ich habe Hunger, sonst frühstücke ich ja früher – es heißt doch nicht umsonst Frühstück“, lachte die alte Dame, die schon vollständig angezogen war: Schuhe, Rock, Pulli und daraus lugte ein Spitzenkragen. Die grauen Haare waren mit der Dauerwelle, der sie ab und zu mit der Brennschere nachhalf, immer adrett. Richtig flott sah sie aus mit ihren achtundachtzig Jahren!

„Was gibt es denn?“, fragte sie neugierig.

„Semmeln oder Brezn habe ich mitgebracht, was willst Du?“

„Hast du Eier mitgebracht? Frau Z. hat dir doch sicher gesagt, dass ich keine im Hause habe?“

„Jawohl! Zwei Stück.“

„Da ist der Eierpiekser und das Wasser habe ich schon aufgesetzt. Machst du das bitte?“

Udo war ohne weiteres in der Lage, nach solchen Vorgaben zwei weich gekochte Eier herbei zu zaubern.

„Ich habe im Wohnzimmer am Fenster gedeckt, da scheint die Sonne so schön rein um diese Zeit“, rief Tante Greten aus dem Zimmer über den Flur, „Kaffee ist auch schon fertig. Du trinkst doch Kaffee? Oder willst du lieber Tee? Tee steht oben rechts im Küchenschrank.“

Tante Greten hatte eine klassische alte Küche mit Gasherd, Küchentisch und Küchenschrank (der mit den zwei Glastürchen und dem Brotfach).

„Kaffee ist okay!“, rief Udo zurück.

„Wie bitte?“, rief Tante Greten, „ich höre in letzter Zeit etwas schlechter, weißt du“, und damit kam sie in die Küche.

„Kaffee ist genau das Richtige für mich“, sagte Udo also noch einmal und schaute sich um, „welcher Hahn tropft denn?“

„Der im Badezimmer, aber jetzt wollen wir erst einmal frühstücken, die Sonne scheint so schön!“

Der Küchenwecker, den Udo eingestellt hatte, klingelte, um anzuzeigen, dass die Eier weich sein müssten. Udo stellte also das Gas unter dem Topf aus und schreckte die Eier fachkundig unter kaltem Wasser ab.

„Perfekt!“, lobte ihn Tante Greten.

„Gelernt ist gelernt!“, meinte Udo nur und stellte die Eier in die Eierbecher aus Bakelit. „Echte Antiquitäten!“, bewunderte er die.

„Ja“, sagte Tante Greten, „die muss ich mir 1950 gekauft haben oder warte mal, das war wohl eher 55, glaube ich. Die halten ewig, das ist nicht so ein neumodisches Zeug, das gleich kaputt geht. Naja, ich bin eine alte Frau, da muss ich wohl die alten Zeiten besser finden als die neuen, oder?“. Sie fasste Udo am Arm „nun komm, sonst werden die Eier kalt – und ich esse nur selten ein Frühstücksei, ich freue mich schon darauf. Ansonsten habe ich noch zwei Marmeladen.“

„Kirsche und Johannisbeere…“

„Woher weißt du das, Udo?“, fragte Tante Greten, dann lachte sie, „ach so, klar, Frau Z. – die ist lieb, nicht? Die kümmert sich so rührend um uns, ihre Alten. Wenn ich mal ein paar Tage nicht bei ihr im Laden war, dann kommt sie und schaut nach, ob ich noch lebe. Sie hat natürlich immer einen guten anderen Grund reinzuschauen, sie kann ja nicht sagen, sie wollte nur wissen, ob ich noch lebe oder schon tot in der Wohnung vermodere... Nun schau nicht so! Dabei ist ihre Sorge doch berechtigt – in meinem Alter! Nein, ich mag sie und ihren Herrn F., was täten wir hier ohne die? Die müssten mal einen Orden bekommen für das, was die leisten – aber den geben sich die Politiker lieber selber.“

Sie schüttelt den Kopf. „Politiker!“, schimpfte sie noch einmal, „hast du gelesen, dass der Oberbürgermeister sich ein halbes Jahr lang aus seinem Amt hat beurlauben lassen, weil er Wahlkampf gegen den Ministerpräsidenten betreiben will, diesen Herrn Seehofer, den – naja – Wendehals? Also ich weiß nicht, gehört sich das?“

„Und die Eier von der Frau Z, die sind besonders gut“, wechselte sie wieder das Thema, „die hat einen Eiermann, der kommt einmal die Woche, glaube ich, und der hat noch so richtige Hühner, die frei herumlaufen.“

„Heckenkratzer!“, unterbrach Udo sie.

„Genau, so sagt man wohl, Heckenkratzer, die laufen frei rum und picken alles Mögliche auf, nicht so wie die armen Industriehühner... brr, ich habe das neulich im Fernsehen wieder gesehen, grauenhaft, sage ich Dir. Dass die Leute solche Eier überhaupt kaufen... und wenn du die brätst, diese scheußlichen Eier, da ist das Eigelb gar nicht richtig gelb und steht auch nicht so schön fest und hoch über dem Eiweiß“, und dabei schüttelte sie sich „weil, frisch sind die auch nicht, das sieht man am Dotter“.

„Du bist gut informiert, Tante Greten!“, lobte Udo die Eierkundige.

„Du meinst wohl, eine alte Frau interessiert sich nicht mehr? Da in der Ecke“, sie nickte in die Ecke hinter Udo, der sich umdrehte und einen sehr hohen Stapel Zeitschriften sah, „da hast du alle Spiegel-Ausgaben der letzten beiden Jahre... alle gelesen und die Tageszeitung lese ich auch. Und ich mach das Sokudu, ähm, Sodoku. Das hättest du nicht gedacht, was? Nimmst du eine Semmel oder die Brezn zum Ei?“. Nachdem Udo mit den Schultern gezuckt hatte, entschied sie sich für die Brezn.

„Die sind auch von der Frau Z., naja, besser als manche andere. Du hattest wohl keine Lust, zum Bäcker in der Volkartstraße zu gehen?“

„Nee, hatte ich keine Lust zu.“

Dann saßen sie schweigend im Sonnenlicht, verputzten ihr Frühstück und ließen den lieben Gott einen guten Mann sein.

„Bist du nur zum Frühstücken gekommen oder willst du auch arbeiten?“, fragte die alte Dame nach einer geruhsamen Weile. „Eine Zange und einen Schraubenzieher habe ich dir hingelegt, wenn du etwas anderes brauchen solltest, kriegen wir Probleme.“

„Wird schon gehen“, murmelte Udo im Aufstehen,

„Was?“, sagte Tante Greten und hielt sich die Hand hinter ein Ohr, „ich bin eine alte Frau und höre nicht mehr gut. Du musst schon laut und deutlich mit mir reden und zu mir gewandt!“. Sie lachte Udo bei diesen Worten schelmisch an.

„Schon gut“, sagte der diesmal laut und deutlich und zu ihr hin, „ich schaue mal...“

„Brüllen musst du nun auch nicht, ich bin ja nicht taub!“

Udo lachte nur, ging ins Bad und kam nach fünf Minuten wieder ins Wohnzimmer.

„Alles klar“, sagte er, „War ´nen Klacks! Tropft nicht mehr!“

Tante Greten hatte in der Zwischenzeit das Frühstücksgeschirr abgeräumt, jetzt standen da zwei Likörgläser auf dem Tisch.

„Ein Likörchen?“, lächelte sie ihn an, „ist ja noch früh am Morgen, naja, nicht mehr ganz so früh, du hast ja so getrödelt... da kann eine alte Frau schon etwas zur Stärkung gebrauchen... Oder ist Likör nichts für dich, willst du was Stärkeres für den starken Mann? Ich hätte noch einen Doppelkorn, schön kalt.“

„Na denn nehme ich den Korn“, sagte Udo und schaute skeptisch auf die alten Likörgläser, die sich weit nach oben öffneten und die einen Schliff aufwiesen. So etwas sah man nicht mehr oft.

„Korn ist im Kühlfach“, sagte Tante Greten, „und weil ich eine so alte Dame bin...“

„...hol ich mir den selber!“, führte Udo ihren Satz zu Ende. Schmunzelnd kam er zurück und hielt eine Miniflasche in der Hand: „Was soll das denn sein? Soll das einmal eine richtige Flasche werden?“

„Eine Doppelportionsflasche Doppelkorn, gut gekühlt. Ich trinke das Zeug nicht, da muss man sich ja schütteln, brrr, das habe ich nur für dich geholt. Da bin ich extra zum Kiosk gegangen – weil, das mit dem Korn muss Frau Z. ja nicht wissen, finde ich, sonst denkt die noch, ich trinke so etwas.“

„Und weil der Wasserhahn so selten tropft, hast du gedacht, eine erwachsene Flasche wäre Verschwendung.“

„So in etwa“, bestätigte Tante Greten und goss sich einen ordentlichen Likör ein: „Prost, mein Junge!“, sagte sie und nuckelte das Glas langsam, aber ohne es zwischendurch abzusetzen, leer. „Lecker!“, sagte sie abschließend und stellte das Glas weg. „Als ich jung war, haben wir die Gläser noch ausgeschleckt. Gab ja nichts in der schlechten Zeit... Aber in meinem Alter gehört sich das ja nicht mehr, die Zunge so rauszustecken, meine ich! Oder“, fragte sie, „macht es dir nichts aus?“

Als Udo den Kopf schüttelte, nahm sie ihr Glas und leckte es aus, stellte sie es zufrieden wieder auf den Tisch. Dabei sah sie wie ein junges Mädchen aus, das einen frechen Streich ausgeheckt hatte. „So schmeckt es doppelt so gut!“, lächelte sie Udo an. „Schade, dass die schönen Zeiten so schnell vergehen... vergangen sind...“

„Du bist wann geboren?“, fragte Udo, „ich meine, ich will nicht unhöflich sein bei einer Dame...“

„Ach was“, winkte Tante Greten ab, „1920!“

„Dann warst du bei Kriegsausbruch 19 und 26 bei Kriegsende...“

„Ja, die ganze Jugend war vom Krieg versaut und die Jahre davor waren ja auch schon kein Zuckerschlecken.“

Udo deutete auf das Bild eines sehr jungen und sehr gut aussehenden Soldaten in schwarzer Uniform, das auf der Anrichte stand und fragte: „Wenn ich fragen darf, Tante Greten, wer ist das?“

Sie schaute auf das Bild, zuckte mit den Schultern, atmete tief durch und sagte: „Das ist der Hans, mein Mann...“

„Du warst verheiratet? Das wusste ich ja gar nicht.“

„Ja, naja, irgendwie schon...“

Udo schaute sie fragend an, sagte aber nichts. Er wartete, dass sie weitersprach – wenn sie es wollte.

„Er war der schönste junge Mann in der Straße, ach was, in der Stadt! Ich war damals auch sehr hübsch, musst du wissen... Wir gehörten zusammen... wir waren sehr jung. Er war gute zwanzig, ich war achtzehn als wir uns... verliebten.“

Sie schaute jetzt ins Nichts, holte wohl die Erinnerungen hervor – oder drängte einige zurück. Sie stand auf, nahm das Bild in beide Hände, schaute es lange an, küsste es und hielt es schließlich gegen den Busen gedrückt.

„Er hat sich 1940 freiwillig gemeldet. Zur SS, genauer zur Waffen-SS. Du weißt was das ist oder war? Sie haben ihn mit Kusshand genommen, er war so groß, so blond, so schön – und intelligent war er auch! Er ist nicht mehr zurückgekommen. Er wird wohl gefallen sein.“

Sie hatte Tränen in den Augen. „Ich habe ihn geliebt! Nie wieder habe ich so lieben können.“ Sie schnäuzte sich und tupfte sich die Tränen aus den Augenwinkeln. „Entschuldige bitte!“, sagte sie, „ich habe so lange nicht mehr geweint. Aber es kommt plötzlich alles so hoch... als ob es gestern wäre.“

Sie saß am Frühstückstisch, das Bild hatte sie jetzt vor sich auf den Tisch gestellt. Sie blickte durch die Tränen aus dem Fenster, sah in die Ferne, in eine andere Zeit... Dann begann sie zu erzählen.

„Es war eine sogenannte Ferntrauung. So etwas gab es damals. Man konnte sogar einen gefallenen Soldaten noch heiraten, denk nur mal! Aber meiner hat da noch gelebt, da war es eine Ferntrauung. Ich war auf dem Standesamt – mit weißem Kleid! - und zwei Trauzeugen. Im Standesamt lag auf dem Stuhl, auf dem Hans hätte sitzen sollen, ein Stahlhelm... und bei ihm war das ähnlich, nur dass da natürlich kein Standesbeamter war, sondern seine Vorgesetzten. Ja und dann waren wir verheiratet und haben uns trotzdem nie wiedergesehen! Und eine Hochzeitsnacht hat es also auch nie gegeben für uns. Ich war eine verheiratete Frau geworden und eine Jungfrau geblieben! Udo, das war und ist ein Scheißleben!“, entfuhr es ihr plötzlich – so einen Ausdruck hatte Udo von ihr noch nie gehört - und fuhr leise, fast flüsternd fort: „Ich weiß ja nicht einmal, ob er wirklich tot ist. Ich glaube es aber, ich fühle es... Und er hat sich dann irgendwann nicht mehr gemeldet. Erst kamen die Briefe ganz regelmäßig und dann plötzlich nicht mehr. Da habe ich es schon gewusst. Aber gehofft, gehofft habe ich immer, tue es noch, glaube ich. Als damals die Gefangentransporte aus Russland kamen, die letzten, weißt Du, da habe ich immer auf dem Bahnhof gestanden und nach ihm gesucht. So viele sind da noch gekommen, aber er? Er ist nie heimgekommen!“

Sie machte wieder eine lange Pause. Seufzte. Wischte sich die Tränen aus dem Gesicht.

„Und dann, viele, viele Jahre später, das muss schon in den Sechzigern gewesen sein, kam plötzlich eine Frau und fragte mich, ob ich die Grete sei, und wenn ja, dann habe sie einen Brief für mich, den ihr ihre verstorbene Mutter gegeben hätte, der sie versprechen musste, dass sie unbedingt nach mir suchen sollte, denn da war ein junger Soldat auf dem Treck über das Haff gewesen... Du weißt, wovon ich rede, Udo? Du hast von den Fluchttrecks gehört, die im Winter 1945 vor den anstürmenden Russen der Roten Armee über das zugefrorene Kurische Haff zogen? Die letzten kamen im Februar.“

Udo nickte.

„Und da sei ein Soldat gewesen, ein ganz junger, der den Bruder der jungen Frau unter Einsatz seines Lebens gerettet hätte, denn der hätte als Siebzehnjähriger aus dem Treck herausgeholt werden sollen, um noch im Volkssturm zu kämpfen. Dort wäre der vermutlich nur Kanonenfutter für die Rotarmisten gewesen. Der junge SS-Mann habe ihn aber laufen lassen und sogar noch in einem Pferdewagen versteckt, weil er das alles sattgehabt hätte, den unsinnigen Krieg und die unsinnigen Befehle. Und dieser SS-Mann habe ihr, also der Mutter von der jungen Frau, einen Brief für mich mitgegeben. Feldpost gab es da ja längst nicht mehr, und den Brief wollte sie mir jetzt, nach fast 25 Jahren Suche, geben, um das Versprechen ihrer Mutter einzulösen. Und dann hat sie mir den Brief gegeben. Der war schon ganz zerknüllt und das war ja auch kein gutes Papier damals im Krieg und dann noch an der Front. Er war aber noch zu lesen, schwierig... weil da waren Flecken und die Tinte war verschmiert. Aber er war wirklich von Hans und er war für mich. Und er hat geschrieben, dass er jetzt wohl nur noch Stunden zu leben haben würde, aber er könnte nicht einfach fliehen und die Zivilisten ihrem Schicksal überlassen. Er habe seine Ehre und den Eid auf den Führer, und das könne er nicht aufs Spiel setzen, nicht als SS-Mann, hat er geschrieben, und dass er mich immer geliebt hat und immer lieben werde, dass er nie an eine andere auch nur gedacht hatte, und er habe zu viel Schlimmes erlebt in Russland und wohl auch selber gemacht oder machen müssen, denke ich, ist ja letztlich auch egal, man hat ja später viel gehört, was die SS im Osten gemacht hat. Er, mein Hans, werde jetzt nicht weglaufen, hat er geschrieben, damit könne er nicht leben und deshalb würde er sterben. Der Russe sei nur noch ein paar Kilometer entfernt. Er könne sie schon hören! Die ersten russischen Panzer müssten jeden Moment auftauchen. Und dann hat er noch geschrieben, ich solle mich frei fühlen, ich sei ja noch so jung...“

Sie war eine ganze Zeit still, schaute nur aus dem Fenster und dann sagte sie: „In dem Brief hat er sich von mir verabschiedet, weil er noch an dem Tage sterben würde, das wusste er! Das konnte ich klar erkennen und das war sein letztes Lebenszeichen.“

„Mein Gott, Tante Greten, was für eine Geschichte, was für ein Schicksal.“

„Ach, mein Junge, da hat es ja Tausende von gegeben. Ich war beileibe nicht die einzige, die so etwas erlebt hat. Da kann dir jede Kriegerwitwe eine, ihre Geschichte erzählen... Eine schlimmer als die andere!

Und alle haben wir es ausgehalten, aushalten müssen. Aber sei mir nicht böse, bitte, ich möchte jetzt alleine sein... Trink Deinen Kaffee aber ruhig noch aus!“

Udo nahm den letzten Schluck aus seiner Tasse (Tante Greten hatte den Tisch mit den „guten“ Sammeltassen aus der Anrichte gedeckt, die sie ansonsten nur an Feiertagen verwendete), stand dann auf und verabschiedete sich von Tante Greten – er nahm sie in den Arm und sie war wie eine Feder, so leicht. Er spürte sie weinen und hielt sie deshalb noch eine Weile fest. Sie machte sich vorsichtig los von ihm und lächelte mit verweinten Augen zu ihm hoch: „Danke, Udo“, sagte sie.

„Wofür?“, fragte Udo, „das war doch ein Klacks mit dem Wasserhahn!“

„Nein, dafür dass und wie du mir zugehört hast – das hat mir richtig gutgetan. Und dass du nicht abfällig über meinen Hans gesprochen hast, weil er bei der SS war!“

„Weißt Du“, sagte Udo, „früher, als junger Mensch, da hätte ich bestimmt etwas gesagt, da kannte ich nur schwarz oder weiß. Aber inzwischen … inzwischen habe ich einige alte SSler persönlich kennen gelernt. Und weißt du was, die meisten waren alle irgendwie nette alte Männer. Diejenigen, die die Zeit aufgearbeitet haben!“

Sie schaute ihn an, Udo fuhr fort.

„Ich weiß nicht, was wäre, wenn es so etwas wie die Nazis und so etwas wie Elitetruppen, das war doch die SS, heute geben würde, ob wir es erkennen, ob wir gefeit wären. Die Zeiten sind so anders... Meine Familie, das waren damals Kommunisten, die waren wirklich gegen Hitler und haben viel riskiert, so bin ich auch erzogen worden. Das ist jetzt fast 70 Jahre her und, wie gesagt, die Menschen, die ich näher kennen gelernt habe, die sind nicht so viel anders als wir heute... Heute gibt’s andere Uniformen.“

Tante Greten nickte und sagte „Ja, Udo, so ist das wohl, ich war damals ja auch dabei, ich war ein deutsches Mädel. Und ich war begeistert, wie so viele. Ich weiß nicht, ob ich mir das heute vorwerfen muss, egal, ob man es musste oder nicht. Zum Widerstand hätte mir der Mut gefehlt. All das Schlimme, was damals passiert ist. Und ist das heute besser, was die Amis machen? Im Irak zum Beispiel, wie sie Vorwände für den Krieg erlogen haben? Aber ich bin ja nur eine alte Frau, interessiert doch keinen, was ich denke! Nun geh aber!“, und damit schob sie ihn aus der Tür.


Als er aus der Haustür trat, traf er Hanna und Sarah, die Hannas Rollstuhl schob.

„Hallo!“, grüße er, „wohin des Weges?“

„Ach, nur zum Kiosk – ich habe ein paar Comic-Bücher für Ernstl, die kennt er noch nicht... und vielleicht hat er ja auch was für mich?“

Sie hielt ihm einen Stoß Bücher hin. „Der Killer7“ las er. „Was ist das?“, fragte er Hanna. „Harte Kost!“, erwiderte die, „über das Innenleben eines Killers. Sollten die anderen von uns vielleicht auch mal lesen, ist interessant! Mir hat´s klasse gefallen – vor allem wenn der Kapitalismus bloßgestellt wird, sehr lesenswert. Und richtig gut gezeichnet.“

„Wenn Ernstl die durch hat, gerne“, sagte Udo.

„Machen wir uns auf den Weg?“, schlug Hanna Sarah vor. Damit packte sie Hannas Rollstuhl und begann zu schieben. Udo schaute ihnen hinterher – insbesondere Sarah. „man“, dachte er bei sich, „tolle Frau...“ Aber er schaute nur fünf oder sechs Schritte nach ihr, dann rief er ihnen nach: „Wartet, Mädels, ich komme mit bis zur Werkstatt, das ist ja ein Weg...“, und damit lief er hinter den Frauen her, die er gleich eingeholt hatte. „Soll ich Hanna schieben?“, lächelte er Sarah an, die so bezaubernd zurücklächelte, dass Udo fast das Herz stehen blieb. „Ach, mein Udo“, sagte sie, „das geht schon, ich bin eine starke Frau“.

An der Fasaneriestraße bogen sie nach rechts ab und Udo war wenige Schritte später am Hof des Metallhandels angekommen. „Besucht mich doch auf dem Rückweg“, lud er sie ein. Hanna schaute skeptisch in den Hof – da war kein Weg, alles lag voller Metallstangen und Rohre, über die man balancieren musste, wollte man Udos Werkstatt erreichen, aber nichts, wo ein Rollstuhl durchgekommen wäre. „Ach“, winkte Udo ab, „Ihr ruft mich und ich trage dich, Hanna, kein Problem!“

„Na, mal sehen“, sagte Hanna, „vielleicht, oder Sarah?“

Sarah nickte: „Interessieren würde mich Deine Werkstatt ja schon einmal wieder“, meinte sie, „ich war lange nicht mehr da, wie gesagt, mal sehen – oder ein anderes Mal. Aber dann sehr gerne.“

Und damit schob sie Hanna weiter. Udo schaute ihnen strahlend nach.

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