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21. März. Am Kiosk in der Leonrodstraße

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12.00 Uhr. Der Kiosk in der Leonrodstraße fast an der Ecke Fasaneriestraße ist ein kleiner Kiosk, völlig unspektakulär!

Wären nicht die großen Reklametafeln der verschiedenen Münchner Zeitungen und die vielen Strahler, die die Schilder in der Dunkelheit weithin sichtbar machten, auf dem Kioskdach gewesen, darunter am größten, buntesten und schrillsten das der mz, hätte man den Kiosk glatt übersehen können – er stand gegenüber den anderen Häusern in der Leonrodstraße ein paar Meter zurückgesetzt gleich neben der ehemaligen Tankstelle schräg gegenüber des Neubaus von AUDI.

Als Sarah mit Hanna um die Ecke bog, sahen sie schon, dass einiges los war an Ernstls Kiosk. Ernstl selber stand vor seinem „Laden“ unter der Markise und unterhielt sich mit drei Männern, die sie schon einige Male dort getroffen hatten, aber deren Namen Sarah und Hanna noch nicht geläufig waren, obwohl sie Stammkunden bei Ernstl waren.

Die beiden Frauen hatten sich den Respekt der Kunden, die keinesfalls Penner aber doch häufig Looser der Gesellschaft waren, erworben, indem sie ab und zu „praktische Lebenshilfe“ gaben – das konnte einfach nur ein guter Rat sein, das konnten im Winter ein paar selbst gestrickte Handschuhe sein oder auch mal ein spendiertes einfaches warmes Essen (mehr gab Ernstl´s Küche eh nicht her).

Hanna hatte bei Ernstl eine Art Sparschwein stehen, das sie ab und zu auffüllte – es war also eher ein kleiner Dukantenscheißer denn ein Sparschwein –, aus dem Ernstl ab und zu „die eine oder andere Mark“ entnahm, um sie unauffällig einem Kunden in Not zuzustecken.

Ernstls hervorstechendste Merkmale waren seine Größe von über zwei Metern und seine krumme und schiefe, auf jeden Fall aber enorm große Nase. Außerdem trug er meistens einen weißen Overall, wie ihn sonst Maler trugen und eine schwarze Wollmütze (ohne Troddel) auf dem großen Kopf. Wenn Ernstl in seinem kleinen Kiosk stand, hatte man als Kunde das Gefühl, dass er entweder eine bis zwei Nummern zu groß war für den Kiosk oder sein Kiosk eine oder zwei Nummern zu klein für seinen Besitzer.

Weil die Handwerker das kleine Verkaufsfenster zwar für seinen kleinen Vorgänger, der gerade einssechzig gemessen haben mochte, in bequemer Höhe eingebaut hatten, hätte Ernstl am besten hinter dem Fenster gekniet – er hatte das auch eine Zeit lang in Erwägung gezogen, den Gedanken dann aber schnell als zu albern verworfen. Und dann hatte er sich an die gebückte Haltung und die Rückenschmerzen gewöhnt. Inzwischen empfand er die Fensterhöhe fast als normal. Auch weil Helga, seine Freundin und Aushilfe, eine sehr kleine Person war…

Ab und zu stand Ernstl vor seinem Kiosk, „um die alten Knochen zu strecken“, wie er sagte. Er reckte und streckte sich dann. Wenn nichts los war, saß er neben seinem Kiosk in einem alten Sessel und las seine heiß geliebten Comics. Im Winter war er nie sehr lange draußen, denn das konnte doch ziemlich kalt werden da draußen auf der zugigen Straße.

Heute war so ein Tag: Strahlend blauer Himmel und knackige Kälte. Deshalb trug er über dem Overall einen riesigen selbst gestrickten Pullover. Den hatte nicht er gestrickt, sondern eine „Vorvorverflossene“. Und die musste Ernstl als noch eindrucksvollere Person im Kopf gehabt haben, als er in Wirklichkeit schon war, oder sie hatte sich wahnsinnig vermessen, denn die Ärmel waren so deutlich zu lang geraten, dass Ernstl die Ärmel ein Stück weit aufgerollt und dann mit einigen groben Stichen etwas zu hoch festgenäht hatte – man sah deutlich, dass Nähen „nicht sein Ding war“.

Sein Anblick war in diesem Aufzug, zugegeben, etwas albern… aber da war niemand, der auch nur zu lächeln gewagt hätte.

Denn Ernstl hatte Hände wie Kohlenschaufeln - und wenn er sie zu Fäusten ballte, waren das Fäuste wie Dampfhammer und er wusste sie auch einzusetzen… und dass wussten alle, die ihn auch nur halbwegs kannten.

Seine Nase war in mehreren Rummel-Boxkämpfen, mit denen er sich als junger Mann einige Jahre lang (im wahrsten Sinne) durchs Leben geschlagen hatte, einige Male gebrochen gewesen und auch die Ohren hatten etwas abbekommen – das gab ihm ein gefährliches Aussehen.

Auf Hannas Frage, dass er ja wohl das eine oder andere Mal ordentlich Dresche bezogen haben müsse, so wie seine Nase und seine Ohren aussahen, hatte er geantwortet, normalerweise ja nicht, aber dass da ab und zu schon Jungs aus Boxclubs in den Boxzelten auf den Rummelplätzen aufzutauchen pflegten, die durchaus etwas drauf gehabt hätten, und dann sei es auch schon einmal richtig zur Sache gegangen … Normalerweise, hatte Ernstl erläutert, durften die da gar nicht boxen, aber wenn das Zelt voll war und die Menge johlte und so einer sich meldete – was solltest du da machen? Ab und zu musste der Chef der Menge ja auch etwas bieten, nicht? Und in seiner Gewichtsklasse, Schwergewicht, stecke schon ein ordentliches „Pfund“ dahinter, wenn einer zulangen könne oder aus Zufall träfe…

Die meisten Schläge hätte er natürlich vermeiden können, aber die Dramaturgie so eines Abends im Zelt verlangte eben auch, dass er auch einmal angeschlagen wirkte (oder auch wurde) und wankte, und dafür hätte er den einen oder anderen Schlag eben einstecken müssen – da gewöhnst du dich dran, hatte er der interessierten Hanna erzählt, ist nicht so schlimm.

Und manchmal wollte die rasende Menge im Zelt einfach Blut sehen, und das rinnt eben am schnellsten aus der Nase. Und die besten Kämpfe für das johlende Volk waren immer die Come-back-Kämpfe gewesen, in denen er schon fast am Boden war („aber nicht wirklich, weißt Du! Das musst du in dem Job auch können, so platt auszusehen.“) und dann in der letzten Runde den Kampf gedreht hatte. „Das Dumme war ja“, hatte er erläutert, „ich durfte in solchen Kämpfen, wo es für den Sieg um 50 Mark ging, ja nie richtig zuschlagen. Den anderen k.o. zu schlagen, das war nicht drin! Das waren ja auch meist keine richtigen Boxer, fast immer waren es nur tapsige Schläger, die sich vor den Kumpels oder den Mädchen mal groß tun wollten. Da konnte ich nur ein bisschen stupsen, nicht richtig zuschlagen.“

Aber, hatte er einmal erzählt, da hätte es einen richtigen Fight gegeben, den Kampf seines Lebens! Gut, sein Gesicht zeige heute noch die Spuren der Jahre damals. Aber Hanna hätte mal den anderen sehen sollen, der sähe heute noch ganz anders aus als vorher – denn in dem Kampf, dem einen, dem großen, damals auf dem Dom in St. Pauli gleich neben der Reeperbahn, da wäre es echt zum Showdown gekommen, man o man. Da hätten sie vereinbart, dass die Runden jeweils drei statt der bei Rummelkämpfen üblichen zwei Minuten lang sein sollten, und dass auch nicht nach zwei oder drei Runden Schluss sein sollte, sondern sie hatten sich auf acht Runden geeinigt! Acht Runden, genau „wie bei Europameisterschaften.

Die Unterschiede mögen sich nicht groß anhören, waren für die Kämpfer aber gewaltig! Er hätte schon gemerkt, als der andere sich ausgezogen und sich im Ring ein wenig warm gemacht hatte, dass da kein Fallobst im Ring gestanden hätte, der hätte was drauf gehabt, das war zu sehen, sportlich sei der gewesen, durchtrainiert und mit guten Muskeln, nicht solche Backpulvermuskeln aus den Muskelbuden von heute!

Die ersten beiden Runden hätten sie sich abgetastet, Du, der andere konnte boxen, wirklich! Ernstl hatte beim Erzählen unbewusst seine Boxposition eingenommen, hatte etwas getänzelt und hatte Hanna dann ein paar Schläge angedeutet. Es hatte fast echt ausgesehen. Jeder hätte einige Treffer gelandet, hatte er erzählt, die echt wehgetan hätten. Und dann hätte es eine richtige Ringschlacht gegeben, da würden die, die dabei waren, heute noch davon schwärmen, das Blut sei bis in die vierte oder fünfte Reihe gespritzt, also ganz bestimmt nicht nur seines, und die Zuhälter hätten gejohlt und die Nutten geschrien vor Begeisterung!

Er hatte geglaubt, sein Gegner sollte ein besonders kräftiger und mutiger Zuhälter vom Kiez sein... Woher hätte er denn wissen sollen, dass die Zuhälter extra einen aus Polen geholt hätten, der wohl sogar ein- oder zweimal um die polnische Meisterschaft geboxt hatte oder so – wegen der Wetten, verstehen Sie?

Naja, zum Schluss hätten beide nur noch gewankt im Ring und gewonnen hatte keiner. Unentschieden, das war klar, auch der Pole hatte das gewusst.

Bloß das Arschloch von Ringrichter, der natürlich wusste, dass da viel Geld auf dem Spiele stand, um nicht zu sagen mehr, sehr viel mehr …, der hatte den Polen zum Sieger erklärt! Man weiß ja nicht, was sie mit dem gemacht hätten, wenn er, Ernstl, gewonnen hätte? Der Ringrichter hätte den anderen einmal bis 16 angezählt, damit der wieder aufstehen konnte und … „Ach“, hatte er dann noch gesagt und dabei abgewinkt, „ist ja eh egal heute! Das ist ja alles so lange her!

Dann hatte er gelacht und gesagt, nach so einem Kampf sähe man eben aus wie er jetzt und abgewinkt – ist doch egal jetzt. Und eine Schönheit sei er vorher auch nicht gerade gewesen...

Aber ganz ehrlich, wenn er den Ringrichter heute erwischen würde, er würde ihm immer noch „die Birne vom Körper hauen“, so schnell könnte der gar nicht auf einen Baum kommen – genau so wie der Peter Müller damals, der hatte ja auch den Ringrichter „umgehauen“.

Als Ernstl sie jetzt sah, freute er sich: „Oh“, rief er, „Leute – hoher Besuch! Hallo Frau Doktor, guten Tag, meine Schöne!“. Mit letzterem begrüßte er Sarah. Dann schaute er wieder Hanna in ihrem Rollstuhl an und bemerkte das Paket auf ihrem Schoß: „Ich sehe, sie haben wieder Literatur mitgebracht! Und gleich so viel… Was ist es denn diesmal?“

Hanna hielt ein kleines Paket (etwas größer als DIN A4 und wohl zwanzig Zentimeter dick) auf ihrem Schoß. Mit den behandschuhten Fingern nestelte sie an dem Band, das das Paket zusammenhielt, bekam es aber nicht auf.

Mit einem Lächeln und den Worten „Darf ich?“, nahm Ernstl ihr das Paket aus den Händen und legte es auf die kleine Platte vor seinem Verkaufsfenster, Tresen nannte er das Stück von jahrelanger Benutzung blank polierte Holz. Er begann an dem Knoten herumzufummeln, bekam ihn aber auch nicht auf. „Verfluchte Scheiße“, murmelte er leise, „wer hat denn diesen verdammten gordischen Knoten geschlungen? Einer vom Fischdampfer?“

Hanna lächelte ihn an: „Ich!“

„Ach so, naja, wird schon gehen, Frau Doktor.“ Er griff in die Tasche seines Overalls und holte ein Taschenmesser heraus, das sich in der riesigen Faust zu verlieren drohte, und ruckzuck war das Band aufgeschnitten. Er wickelte die Bücher aus dem Papier, nahm einen Band hoch, schaute ihn an und begann zu strahlen: „Leute, endlich, ihr glaubt es nicht… „Der Killer“ von Jacamon und Matz – und zwar alle acht Bände, die bisher erschienen sind.“ Er blätterte das zuoberst liegende Buch durch und staunte: „Das ist ja auf Französisch… wie heißt das? „La Tueur“ (er sprach es aus wie la tu-euer). Seit wann lesen sie die in der Originalsprache, Frau Doktor? Sie beeindrucken mich…“. Er blätterte weiter durch das Buch und fand schließlich die Widmung und die Signatur auf der ersten Seite. Er pfiff leise und sagte: „Frau Doktor! Mit Widmung! Was heißt das? Hhm, auch Französisch.“

„Für meinen Freund Ernst“, klärte Sarah ihn auf.

„Sie können Französisch, Sarah?“

„Nicht so gut...aber ich komme durch... durch Frankreich!“, antwortete die bescheiden.

Ernstl schaute Hanna strahlend an: „Wie haben sie das denn wieder geschafft?“

Hanna lächelte nur und sagte nichts.

„Sie waren wieder auf einem Kongress, stimmt´s?“

Er blickte in die Runde der drei Stammgäste, die alle in ihrem Kaffee rührten, von dem ein leichter Weinbrandgeruch aufstieg: „Männer, mit Widmung von Luc Jacamon, das ist der Zeichner!“, erläuterte er sein Wissen etwas auspackend „und von Matz“, ergänzte er in die Runde schauend, „das ist der Storyschreiber. Wisst Ihr, was das unter Freunden wert ist? Man o man, das ist unbezahlbar. Wie sie das immer nur schaffen, Frau Doktor?“

Hanna lächelte ihn an.

Dann erst begriff Ernstl: „Das ist ja mir gewidmet... Ist das für mich?“. Er strahlte Hanna fragend an. Die nickte: „Ja, ist für dich, ein kleines Dankeschön für die vielen schönen Geschichten, die du erzählst, erzählt hast.“

„Mensch, Hanna, danke, ich bin ganz fertig...“ Fast hätte man glauben können, der riesige Mann hätte eine Träne im Augenwinkel, denn er blinzelte ein paar Mal und schnäuzte sich lautstark in ein Taschentuch, das er aus den Tiefen des Overalls gezaubert hatte.

„Können wir irgendwann auch einen Kaffee bekommen?“, fragte Sarah höflich.

„Kaffee… na klar, für sie immer Sarah, mein Mädchen, und natürlich für die Frau Doktor. Kaffee natur oder die Spezialmischung?“ und damit nickte er in Richtung der drei, die inzwischen einen Platz unter dem Wärmepilz seitlich vom Kiosk gefunden hatten, den der Kiosk eigentlich gar nicht haben durfte – „aber wo kein Richter, auch kein Urteil oder so ähnlich“, pflegte Ernstl zu sagen und die Bullen, also die Polizisten, wärmten sich manchmal auch ganz gerne auf, wenn es draußen so richtig kalt war. Und so stand der Wärmestrahler jetzt schon die vierte Wintersaison da.

„Nein, lieber ohne für mich“, sagte Sarah „und Du, Hanna?“

„Für mich mit einem klitzekleinen Schuss „Spezial““, bestellt Hanna und rieb sich die trotz Handschuhen kalt gewordenen Hände.

„Jungs“, sagte Ernstl, „macht mal Platz am Tisch für unsere Frau Doktor hier und die schönste Sarah, die wir je hatten.“ Er baggerte Sarah immer ein bisschen an – aber beide betrieben das als nicht ernst gemeintes Spiel. Und damit schob er Hannas Rollstuhl resolut unter dem Wärmepilz und für Sarah fand sich auch gleich ein Plätzchen, denn die Jungs rückten gerne für so eine schöne Frau zusammen.

Ernstl verschwand in seinem Kiosk, in dem der Kanonenofen bollerte, und kam nach einem Moment mit einem Kaffee für Sarah und einem „Spezial“ für Hanna in den Händen wieder heraus. Er servierte die Kaffees als wären sie in einem Sternelokal: Mit Keks. Wenn er wollte, konnte sich der grobe Mann ohne weiteres sehr fein bewegen, er strahlte dann so etwas wie Grandezza aus, naja fast.

„Hallo“, rief es plötzlich von vorne, „wer ist denn hier der Kioskinhaber?“

„Wer will das wissen?“, fragte Ernstl über die Schulter, denn er bewunderte immer noch die Widmung.

„Wir sind von der mz und machen eine Artikelreihe über Kioske in München, ich bin der Redakteur und das ist mein Fotograf“, sagte der Dicke der beiden. Der als Fotograf bezeichnete, machte mit seiner Canon8 die ersten Fotos.

„Nun mal nicht so schnell mit die jungen Pferde“, sagte Ernstl und trat zu den beiden. „Wer sagt, dass ich das will und wer sagt, dass sie meine Gäste fotografieren dürfen?“

„Naja, das wird ja schließlich eine super Werbung für Ihre Bude hier und ein bisschen human touch brauchen wir auch und mit der Behinderten da im Rollstuhl“, er nickte auf Hanna, „kommt das besonders gut“, sagte der Dicke und nickte dem Fotografen zu, „mach du ein paar Bilder.“ Der Fotograf schoss wieder los, zweifach, denn zum einen lief er ein paar Meter zurück, zum zweiten, um dann weitere Bilder vom Kiosk und den fünf unter dem Wärmepilz zu machen.

„Hör auf mit dem Scheiß, sag ich“, sagte Ernstl, „oder muss ich erst direkt werden? Und „die Behinderte da“, sagst du kein zweites Mal zu unserer Frau Doktor hier, sag´ ich Dir. Und fotografieren tut ihr sie schon gar nicht!“.

Damit richtete er sich zu seiner vollen Größe auf und stellte sich dem Fotografen in den Weg und dem Reporter auf den Fuß. „Schluss jetzt! Also was wollt Ihr?“

„Aua, Du stehst auf meinem Fuß, Du Trottel, komm da runter! Also, erst mal zwei Bier und zweimal Würstchen mit Kartoffelsalat, wenn Du das hast“, bestellte der Dicke.

„Bier ist hier nicht!“, beschied ihm Ernstl, „jedenfalls nicht zum am Kiosk trinken, das könnt ihr höchstens mitnehmen. Kaffee könnt ihr haben und die Würstchen muss ich warm machen, das dauert einen Moment.“

Hanna suchte seinen Blick, als er zur Kiosktür ging und schüttelte leicht den Kopf. Ernstl sah das, kam zu ihr und fragte „Ja?“

„Sei vorsichtig“, flüsterte Hanna, „die legen dich rein… Sei ganz vorsichtig! Ich habe kein gutes Gefühl dabei. Ernstl, schick sie weg, das ist besser, ganz bestimmt!“

„Ach“, entgegnete Ernstl locker, „mit den Schwuchteln werde ich dreimal fertig, bevor die pieps gesagt haben.“

„Nein“, sagte Hanna leise, aber bestimmt, „das glaube ich nicht, schick sie weg, bitte, das wird nichts Gutes…“

„Ein bisschen Reklame täte aber gut“, sagte Ernstl immer noch leise, „bei den Umsätzen“, und damit ging er in den Kiosk.

Der Dicke kam zu ihnen unter den Wärmepilz und grinste sie aus seinem drei Tage nicht rasierten Gesicht an: „Na, ist da noch ein Plätzchen für den lieben Redakteur?“, fragte er schmierig.

„Nein“, sagte Hanna, „leider nicht.“

„Doch“, sagte gleichzeitig einer der drei Kaffeetrinker, „ich geh dann mal.“

Schwupps, stand der Reporter zwischen ihnen und sprach Hanna an: „Sie wollen Doktor sein? Was denn für einer? Dann gehören Sie doch gar nicht hierher – oder der Pelz ist aus der Kleiderverteilung vom Roten Kreuz oder vom Laster gefallen?“. Er lachte laut über den Witz, den er gerade gerissen hatte. Hanna sagte nichts.

„Naja“, sagte der Dicke leichthin, „auch mit ´nem Doktortitel steht einem die Welt nicht mehr so weit offen, oder? Und dann behindert im Rollstuhl... Scheiße, was? Sag´ mal, Mädchen, sollen wir eine richtig geile Story über sie machen? Eine Home-Story? Sie haben doch ein Zuhause, oder?“, grinste er sie wieder schmierig an.

„Nein danke“, sagte Hanna bestimmt, „kein Interesse“.

„Vielleicht die gefallene Akademikerin, die durchs Leben rollen muss – Rollstuhl statt Mercedes. Ist Dein Ehemann mit einer Jüngeren durchgebrannt, als Du die Beine nicht mehr richtig aufgekriegt hast? Ja, die Welt ist ungerecht... Man, das wäre doch ´was...!“, leckte er sich die Lippen, „richtig geil! Ich seh´ die Story schon vor mir. Oder „Sex im Rollstuhl“, ich meine, Du siehst ja nicht sooo schlecht aus. Wie alt bist Du? 50plus? Da stehen die Kerle drauf. Und er“ – der Redakteur zeigte auf den Fotografen – „macht richtig geile Fotos, da steht der drauf...“

Hanna schaute durch ihn hindurch, sagte nichts. Durch Handzeichen gab sie Sarah zu verstehen, sich ebenfalls ruhig zu verhalten.

Er nahm ihre Kaffeetasse und schnupperte daran. „Ein Weinbrand am Morgen macht den Tag für Dich leichter was?“, sagte er leichthin und stellte die Tasse wieder ab.

Von der Straße rief ein junger Mann im Hoodie: „Ernstl, hast du kurz Zeit? Ich brauche meine Drogen!“, grinste dabei und wedelte mit einer Zigarettenpackung, die er anschließend zerknüllte und dann gekonnt gezielt in den Papierkorb am Kiosk warf. „Moment! Komme!“, rief Ernstl, „wie immer?“

Kurz darauf schob der Typ mit einer Stange Gitanes unterm Arm wieder ab.

Der Dicke griff derweil nach dem Comic. „Mein Gott, wenn Sie nicht wollen“, sagte er zu Hanna, „da wäre schon ein Hunderter für Sie drin oder bei den Fotos auch zwei“.

Hanna reagierte wieder nicht, was sollte sie auch machen.

„Was ist das denn?“, fragte er, „Comics, finde ich geil, nicht Jens?“, rief er seinem Fotografen zu, der immer noch knipste. Er musste inzwischen zig Fotos geschossen haben. CANON, resp. dem Motor der CANON, sei Dank. Und wahrscheinlich alle perfekt scharf und belichtet, weil auch das die CANON automatisch erledigte. Der Fotograf musste seine CANON nur in die richtige Richtung halten und auf den Auslöser drücken, den Rest erledigte die Kamera.

„Seit wann das denn?“, gab der zurück, „höchstens, weil du doch gar nicht lesen, sondern nur Bilder begucken kannst, vom Schreiben ganz zu schweigen.“

„Blödmann!“, war die harsche Antwort. In dem Moment kam Ernstl mit zwei Tellern mit Würstchen und Kartoffelsalat. „Nimm mal die Bücher hoch“, wies er einen der beiden Kaffeetrinker an, „damit da keine Flecken drauf kommen!“, und zu dem Reporter sagte er: „Von mir selbst angemacht – ein Rezept meiner Großmutter, ganz besonders lecker und die Würstchen sind die besten in München, mein Wort drauf. Brauchen sie Senf?““

Einer der beiden verbliebenen Kaffeetrinker beeilte sich der Anweisung Folge zu leisten und sagte erklärend zum Reporter, dass die Bücher wahnsinnig teuer seien, schon wegen der Autogramme, aber auch sonst, geradezu unbezahlbar seien die.

„Ach nee“, sagte der Angesprochene, „das hätte ich nicht gedacht und schon gar nicht hier… Wie heißen die „Der Killer“? Na, Sie lesen Sachen hier, sind die denn eigentlich erlaubt?“

„Ach“, sagte der Informant arglos, „da drinnen hat der Ernstl noch ganz andere Sachen, ganz hartes und geheimes Zeug, und noch viel teurere…“, und damit schaute er sich stolz um, „und damit tut er richtig geheimnisvoll – die darf nicht jeder sehen! Nicht einmal wir. Die holt er nur raus, wenn die richtigen Leute da sind.“

Hanna schwante Böses und deshalb sagte sie: „Unsinn. Was erzählen sie denn da für einen Blödsinn! Das sind ganz normale Comics, nichts Besonderes, nichts Geheimnisvolles und schon gar nichts Wertvolles.“

Der Informant fühlte sich irgendwie auf den Schlips getreten und widersprach, nein, nein, da wären Sachen dabei, man, die wären so etwas von scharf und geheim... und auch noch richtig wertvolle Schwarten dabei, Erstausgaben und so und mit Sign…, naja Unterschriften halt!

„Tatsächlich?“, fragte der Dicke und lächelte seinen Informanten süffisant an, „naja, da verstehen Frauen ja wohl nichts davon, die sollen lieber nähen und waschen und was Frauen sonst halt so machen“, und fügte mit Blick auf Hanna hinzu, „wenn sie es können, sonst werden die komisch, oder? Und reden von Dingen, von denen sie nichts verstehen. Das kennt man ja.“

Sarah sah inzwischen stinkwütend aus und war drauf und dran, ihm entweder eine zu kleben oder ihm den Kaffeerest ins Gesicht zu kippen – aber der Fotograf hatte das wohl geahnt und schon wieder seine Canon in Schussbereitschaft gehalten, deshalb hatte Sarah sich zurück gehalten.

Ernstl kam mit einer Tüte in der Hand und reichte sie dem Dicken: „Das Bier. Zum Mitnehmen. Und jetzt kriege ich zwölf Euro fünfzig.“

„Das ist doch nicht ihr Ernst“, sagte der Dicke und nahm die Tüte, „dass sie wahrhaftig Geld von uns haben wollen. Wir haben noch nie wo bezahlt, wenn wir so eine Story machen – egal wo, auch nicht in topp Restaurants - und hier am Kiosk, nein, ganz bestimmt nicht! Die anderen haben schnell begriffen, wie das Spiel läuft und wie man viel Reklame bekommt in der mz! Wir machen den Erfolg!“, betonte er zum Schluss, „oder die Bauchlandung... denk mal darüber nach, Lulatsch.“

In diesem Moment kippte Sarah ihm den Kaffee in ihrer Tasse über die Hose.

„Aua, eh, blöde Kuh, was soll die Scheiße?“, schrie der Dicke gleichzeitig, „Das war Absicht, das habe ich gesehen, Scheiße, das ist heiß, das Zeug. Ich bin verbrüht... Du bist mein Zeuge, Jens, die hat mich absichtlich verletzt... Hast Du das drauf?“. Er zeigte auf die Kamera.

„Oh, Entschuldigung“, sagte Sarah, „das tut mir aber leid. Ehrlich“. Sie gönnte dem Dicken ihr schönstes Lächeln, „soll ich das trocken reiben? Ich kann das“. Der Dicke hatte keine Ahnung, wie dicht Sarah damit an der Wahrheit war.

„Schluss jetzt. Papperlapapp“, sagte Ernstl jetzt, „das ist mir egal, zahlt ihr jetzt oder wollt ihr ein paar aufs Maul? Scheiß auf Deine Hose, Dicker. Ihr habt die Wahl!“. Er wurde jetzt richtig wütend, seine Meinung über die beiden war vollständig gekippt, und er ballte seine Fäuste und hielt dem Dicken eine davon vor die Nase: „Zahlen!“, sagte er tonlos, „oder...“.

„Du zahlst!“, sagte der Dicke zum Fotografen, „ich habe nicht so viel Geld dabei. Und wenn, ist es nass“.

Der Fotograf zahlte wortlos und die beiden verschwanden ohne ein weiteres Wort.

„Na, was habe ich gesagt, denen haben wir´s aber gegeben!“, strahlte Ernstl Hanna und Sarah an, „Sarah-Mädchen, gut gemacht, eine neue Tasse Kaffee aufs Haus?“

„Ich weiß nicht“, sagte Hanna, „da bin ich mir gar nicht so sicher, Ernstl, wenn das mal nicht ins Auge geht, warte mal lieber die Zeitung von morgen ab.“

„Meinst Du, Hanna? Was soll denn schon passieren. Er hat doch gar nichts erfahren?“

„Na, ich glaube doch“, sagte Hanna, „oder besser, ich befürchte... Sarah, rollen wir?“

„Wartet, Frau Doktor“, rief Ernstl, „ich habe doch auch was für Sie“, und er verschwand im Kiosk, um gleich darauf wieder zu erscheinen: „Ist ja nicht mit Widmung oder so und auch nur auf deutsch und nicht französisch, aber habe ich ganz neu“, und damit reichte er Hanna zwei Bände: „ „Der Incal“ von Jodorowski und Moebius und „Arzak“ von Moebius… Jodorowski ist der, der mit der Verfilmung von „Dune“ von Frank Herbert so grandios gescheitert ist.“

„Ach der?“, sagte Hanna, die das nicht gewusst hatte.

„Ja, habe ich heute erst gekriegt, der Typ vom Comicladen in der Fraunhoferstraße hat sie vorhin vorbeigebracht.“

„Dann haben Sie sie ja noch gar nicht gelesen?“, fragte Hanna.

„Nein, aber das ist ja nicht wichtig, ich habe ja „Der Killer“, da freue ich mich schon drauf, morgen können wir ja wieder tauschen… ist eh nichts los am Kiosk bei dem Wetter!“

Hanna bedankte sich und sagte noch einmal: „Ernstl, wenn das man nicht schief gegangen ist! Aber Danke für die Bücher, ich bringe sie morgen zurück. Nun lass uns man, Sarah. Tschüss, Ernstl“.

Damit schob Sarah Hanna wieder in Richtung Leonrodstraße und dann nach links in die Fasaneriestraße.

Sie passierten den Metallhandel mit Udos Werkstatt, Hanna hatte jetzt keine Lust mehr auf einen weiteren Besuch, obwohl es mit Udo immer sehr nett war. Als sie am Laden vorbeikamen, saß Herr F. auf seiner Bierkiste, rauchte eine Zigarette und hatte ansonsten den Hübnerplatz im Blick. Er winkte ihnen zu: „Möge der Tag ihnen positiv gesinnt nachschleichen“, sagte er.

Die beiden bedankten sich höflich und Sarah sagte, dass sie das irgendwie bezweifeln würde und fragte dann noch, was es morgen zu Mittag gäbe.

„Moment“, sagte Herr F. und erhob sich von seiner Kiste, „ich hole den Wochenplan“, sprach´s, verschwand und kam gleich darauf wieder mit einem Blatt in der Hand. Er hielt es den beiden entgegen und schaute Sarah und Hanna fragend an, wer von den beiden es haben wollte. Hanna griff zu, studierte die Angebote und entschied sich für Lauchgemüse mit Kalbfleisch-Pflanzl. Sarah meinte, sie habe morgen etwas vor und außerdem müsse sie mal wieder auf ihre Figur achten, also, nein danke, nichts für sie.

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