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22. März. Am Bahnhof

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18.00 Uhr. Udo und der Graf fuhren am späten Nachmittag mit der Tram 21 von der Heideckstraße zum Hauptbahnhof. Dort stiegen sie aus und schauten sich erst einmal um: Der Bahnhof lag schräg rechts vor ihnen, rund herum um sie pulsierte das Münchner Stadtleben der Hauptverkehrszeit. Viele Pendler strebten aus der Innenstadt und aus den Straßenbahnen zu den Zügen. Der Graf und Udo folgten dem Strom durch den Haupteingang in die große Bahnhofshalle. Rechter Hand waren sechs oder sieben Schalter, an denen Reisende in kurzen Schlangen standen, um Fahrkarten zu kaufen, die Schalter auf der gegenüberliegenden Seite waren für S- und U-Bahnkunden reserviert. Mitten in der Halle warb ein Stand für die Reisebank; was immer die jungen Mitarbeiter dort verkaufen mochten, Udo und den Grafen interessierte es nicht. Am Stand „Ditsch“ erwarteten sie Currywurst á la „Dittsche“ (aus Hamburg), sie wurden enttäuscht, denn es gab dort nur Brot. Da hatte wohl ein cleverer Unternehmer sich den aus Funk und Fernsehen bekannten Namen von Ditsche „fast“ unter den Nagel gerissen – fast, aber nicht ganz... Es fehlte ein „e“.

Sie schauten sich um. Nein, hier stand niemand herum, der aussah, als ob er Pistolen verkaufen würde. Auch in der italienischen Segafredo-Bar sahen sie keinen „Verdächtigen“, keinen Mafioso, weder aus Sizilien noch aus Moskau oder Tirana, nicht einmal jemanden, der auch nur im Entferntesten nach Waffenhändler aussah. Nur junge unschuldig aussehende Männer und Frauen, die im Vorbeigehen einen Espresso oder eine „Latte“ tranken.

Sie setzten sich mit einem Espresso dazu und tranken langsam. Dabei schauten sie sich das Publikum an. Nichts, nada, was ihren Vorstellungen von einem freischaffenden Waffenhändler am Bahnhof entsprach. Nach einer dreiviertel Stunde schauten sich enttäuscht an.

Gehen wir einmal nach oben auf den Balkon“, schlug der Graf vor, „da haben wir einen besseren Überblick, so von oben.“

Sie fuhren mit der Rolltreppe die eine Etage hoch, schauten dort in den „Burger King“, und die „Coffee Fellows“ – aber auch da nur junge Leute, viel zu jung, als dass die beiden ihnen den Waffeneinzelhändler abnehmen wollten. Keine ausgebeulten Jacken oder Mäntel oder auch nur Jacken- oder Manteltaschen. So ein oder zwei Pistolen, die würden ja Volumen und Gewicht haben, das würde man doch sehen, glaubten sie. Und Wechselgeld – ach nein, die würden runde Summen verlangen, die man mit Scheinen bezahlen könnte, oder?

Sie standen schließlich an der Brüstung und schauten hinab in die Gleishalle. Wo es früher ein bisschen dunkel und muffig zugegangen war, glitzerte jetzt eine lichtüberflutete moderne „take away“-Welt.

Alles zum „Awaytaken“, zum Mitnehmen: Das waren keine Bahnhofsbuden von früher mehr, die Udo und der Graf noch im Kopf hatten, als sie mit der Tram hierher gefahren waren. Nein, das war alles Edelstahl, Glas und Licht! Richtig elegante Bahnhofs-Boutiquen!

Lich´ und Luf´ gib´ Saf´ und Kraf´“, dachte Udo insgeheim auf seine Hamburger Art. Ganz rechts die Semmeln am Höflinger-Stand, daneben die Würstchen von Rubenbauer, in der Mitte die belegten Brote von Brioche Dorée. Am zentral in der Gleishalle gelegenen Auskunftsstand der Bundesbahn gab es nichts – außer, dass die auf Auskünfte harrenden Reisenden auf einem roten Teppich stehend die eine oder andere Verspätungserklärung erhielten... Aber die standen auch auf der großen Anzeigetafel direkt über dem Bundesbahnstand.

Linker Hand sahen Udo und der Graf die Edelstahlbuden von Vinzenz Murr (Würstchen), Pizza Panini und Dean&David. Allesamt viel zu hell erleuchtet und wohl auch zu zentral, als dass „dunkle Gestalten“ sich da rumtreiben würden.

Du“, fragte Udo, „Graf, sag´ mal, wie stellst du dir denn so einen Heini vor, der hier mit Pistolen dealt?“

Gute Frage“, antwortete der, „weiß ich auch nicht. Vielleicht dunkel, irgendwie zwielichtig, gemein, fies...“

Mit einer Narbe im Gesicht?“

Ja, vielleicht.“

Den gibt es nicht, glaube ich“, sagte Udo, „hier nicht, aber da ist einer, der ist ganz dunkel.“

Wo?“

Da drüben.“ Udo nickte mit dem Kinn in die Richtung, „der Neger da.“

Darf man nicht mehr sagen!“

Was?“

Neger!“

Warum nicht?“

Der Graf zuckte mit den Schultern unter seinem eleganten Mantel, „das ist nicht mehr political correct .“

Sagt wer?“

Irgendwer? Jeder? Die!“

Und was soll man stattdessen sagen?“

Schwarzer?“, schlug der Graf vor.

Und dann ist der Schwarze kein Neger mehr? Bloß weil ich Schwarzer sage?“

Nein, der bleibt ja schwarz!“

Und warum ist Schwarzer jetzt besser als Neger?“

Weil das nicht diskriminiert!“

Was diskriminiert am Wort: Neger?“, wollte Udo wissen.

Vielleicht, weil das so dicht am Wort „nigger“ aus den USA ist?“, gab der Graf zu bedenken.

Aber das habe ich doch gar nicht gesagt - und auf Englisch schon mal gar nicht! Bin ja auch kein Ami... Und schon gar nicht aus den Südstaaten, ich komm´ ja aus Hamburg, das ist ein Nordstaat, wenn überhaupt.“

Nein, hast du nicht, also Nigger gesagt. Und wo ist der Kerl jetzt?“

Welcher?“

Na, der... der Neger“, grinste der Graf.

Du meinst den Schwarzen?“

Ja!“

Weiß nicht, weg!“

Meinst du denn, der hätte eine Pistole gehabt?“, fragte der Graf.

Nö, glaube ich nicht.“

Warum hast du dann damit angefangen?“

Weil du gesagt hast: Dunkel!“

Wenn ich mich richtig erinnere habe ich gesagt: Dunkel, irgendwie zwielichtig, gemein, fies... war er das?“, gab der Graf zu bedenken.

Nö, der hat eher recht nett ausgesehen“, lächelte Udo, „freundlich, eher so ein Onkel Tom Typ.“

Mensch, Udo, hör auf!“, stöhnte der Graf, „Wir sind hier auf einer „ mission “!“

Auf einer was?“

Mission! Wir haben eine Aufgabe!“

Ja, klar, aber siehst du hier einen einzigen, der auch nur in Frage kommen könnte?“, fragte Udo jetzt ernsthaft.

Nee, ehrlich gesagt, nein!“

Gehen wir mal wieder runter und schauen uns unten um?“

Ja“, aber erst einmal brauche ich ein Klo!“

Schon wieder die Prostata?“, fragte Udo. Der Graf nickte.

Sie gingen die Treppe in die Gleishalle hinunter und hielten sich rechts, dort ging es zu dieser supersauberen Klo-Lounge, wo man erst einmal ein Fünfzigcentstück braucht, um den Automaten mit dem Drehkreuz passieren zu können, und wehe, man hat keines... Vor allem „mit Prostata“. Früher war das Klo nicht so schön, aber man „konnte“ jedenfalls, wenn es drängte.

Als der Graf wieder herauskam sah er erleichtert aus, dann gingen sie durch die Bahnhofshalle, sie passierten den internationalen Zeitschriftenladen, die Ess-&Fress-Glitzerwelt von Gosch Sylt, wo es auch in München die „ganz frischen Fische“ gab... und gingen auf den Seitenausgang der Bahnhofshalle an der Bayerstraße zu.

Rechts lockte die Leuchtreklame vom Starbucks Coffee. Sie schauten hinein: Nur Jungvolk! „Nee“, schüttelte Udo den Kopf, „da sind nur Kids drin, da würde kein Mafiosi, der etwas auf sich hält, je einen Fuß hineinsetzen. Wenn ich Dein „dunkel, irgendwie zwielichtig, gemein, fies“ jetzt korrekt interpretieren darf! Oder darf man Mafiosi jetzt auch schon nicht mehr sagen?“

Doch, doch“, sagte der Graf, „ich glaube schon“, und dabei schaute er skeptisch durch die Scheibe auf das Schild, auf dem die verschieden „flavoured coffees“ angepriesen wurden. „I gitt“, schüttelte er den Kopf, „und selbst wenn..., da kriegen mich keine zehn Pferde hinein!“

Udo stieß den Grafen in die Seite, „schau mal da, ganz links“, sagte er halblaut, „aber gaaanz unauffällig!“

Der Graf schaute und sah ein paar junge Männer vor dem Eingang eines weiteren Schnellrestaurants herumlungern: Es waren sechs offenbar gut durchtrainierte Männer im Alter wohl unter dreißig Jahren. Jeder von ihnen brachte ein „Kampfgewicht“ von sicherlich 100 Kilogramm bei einsneunzig Körpergröße auf die Waage, falls es denn ernsthafte Kämpfer waren.

Sie trugen verschiedene Trainingsanzüge (meist mit den drei Adidas-Streifen) sowie Hoodies oder Strickmützen, die tief ins Gesicht und über die Ohren gezogen waren. Die Jacken spannten allesamt um die Oberkörper, so muskulös waren sie. Sie sahen aus wie durchtrainierte Kopien des Comedians Thorsten Sträter, der sich als Boxer oder „Vollkontaktkämpfer“ verkleidet hatte.

Die Männer dieser Gruppe waren ganz offensichtlich keine Reisenden, die hingen da „nur“ ab. In der Kälte trippelten sie auf den Füßen, die Hände hatten sie in Jacken- oder Hosentaschen.

Die kamen dem, was der Graf und Udo sich vorgestellt hatten, von allen anderen auf dem Bahnhof am nächsten. Gleichzeitig sahen sie so aus, als ob sie im Zweifel gar nicht erst auf eine höfliche Frage warten würden. Die würden gleich zuschlagen und zwar ordentlich. Sie sahen nicht so aus, als ob sie sich beim Kampf an Regeln halten würden, eher wie Straßenkämpfer. Bei denen hätte auch der Ernstl vom Kiosk keine Chance gehabt, glaubten Udo und der Graf.

Als Udo und der Graf sich ihnen langsam näherten und dann das Schnell-Restaurant betraten, hörten sie im Vorbeigehen an der Gruppe, dass die Männer russisch (oder so ähnlich) sprachen.

Ohne sich abzusprechen, waren Udo und der Graf straks an Ihnen vorbei gegangen, nicht etwa direkt auf die Gruppe zu. Das hätten die als Aggression verstehen können. Und dafür waren beide dann doch zu schlau!

Hast du die gemeint?“, fragte Udo, als sie im Restaurant waren.

So in etwa.“

Aber die waren nicht dunkel.“

Aber zwielichtig, gemein und fies...“

Ja, fandest du? Und sehr kräftig!“, war da Bewunderung in Udos Stimme? „Und vor allem, haben die Waffen zu verkaufen?“

Der Graf zuckte mit den Schultern.

Fragst du sie“, wollte Udo wissen, „wenn wir da wieder hinausgehen?“

Bin ich blöd?“, fragte der Graf zurück, „meinst du ich will mir ein paar aufs Maul hauen lassen?“

Ich dachte, dafür sind wir hier?“

Dass ich ein paar aufs Maul kriege?“

Nein, natürlich nicht, aber um zu fragen.“

Fragst du sie denn?“, wollte der Graf wissen.

Ich kann kein Wort russisch!“, wollte sich Udo herausreden.

Die können schon deutsch, wenn sie wollen“, glaubte der Graf zu wissen.

Dann können sie mich auch missverstehen... also, ich hole mir keine Klatsche ab.“

Die werden schon nicht gleich zuschlagen.“

Dann kannst du ja fragen“, meinte Udo, „oder?“

Ich schlage vor, wir gehen zum anderen Eingang raus“, war die Erwiderung des Grafen.

Sie gingen durch das Schnellrestaurant. Der Graf war für dieses Etablissement eindeutig zu elegant gekleidet, von den Gästen wurde seine elegante Erscheinung neugierig angestarrt, wahrscheinlich hielten sie ihn für schwul. Allerdings passte sein Partner Udo mit seinem (für Münchner Augen) typischen „Kapitäns-Outfit“ so ganz und gar nicht in dieses Schema. Das mussten „die“ erst einmal verarbeiten.

Das Lokal selber fand der Graf einfach nur scheußlich: Alles war in Dunkelbraun und Ocker gehalten, sogar die Lampen strahlten trübes Licht in Ocker ab, ein paar an den Wänden auch karmesinrotes Licht – die Mischung war... nun ja, gewöhnungsbedürftig , die Sitze bestanden aus einem schlechten Lederimitat mit vielen Löchern, die Tische waren längere Zeit nicht abgeräumt, unter dem einen oder anderem Tisch standen verdächtige Lachen.

An den Wänden wurde für „besten Kaffeegenuss“ im Pappbecher oder für einen „Heißen Erdbeertraum“ für 2,19€ oder für die „leckeren Winterdesserts Caramel&Chocolate“ für 2,49€, geworben.

Nichts wie raus hier“, zischte der Graf, der penibel darauf achtete, dass sein schwarzer Pique-Mantel keinem Tisch zu nahe kam, geschweige denn ihn berührte. Die Flecken hätte er nie wieder entfernen können, befürchtete er. „Puh“, sagte er, als sie draußen waren, „das ist nichts für uns, oder?“

Nee“, bestätigte Udo aus vollem Herzen, „bestimmt nicht. Aber was sagen wir Hanna und Sarah?“

Dass es hier nichts für uns zu holen gibt!“

Und in den Kneipen rund um den Bahnhof?“

Da hängen im Zweifel dieselben Typen rum, wie dahinten vor der anderen Tür!“

Also keine Chance?“

Keine Chance!“, bestätigte der Graf, „also, glaube ich... Komm lass uns gehen, Sarah wartet bestimmt auf Dich.“

Udo schaute ihn an: „Was soll das denn heißen, Sarah wartet auf Dich?“

Nichts“, lächelte der Graf, „aber sie ist eine tolle Frau, die auf Dich steht, glaube ich.“

Ach was“, winkte Udo ab, „die wartet gerade auf mich, was? Man, ich bin Werftarbeiter. Und sie?“

Eine Göttin.“

Eben, die wartet gerade auf mich... Nee, lass die Kirche man schön im Dorf, Graf.“

Ich würde mir an Deiner Stelle etwas Mühe um sie geben, könnte sich lohnen für Dich. Glaub´ mir Udo, sie mag Dich!“

Ach was, Spinnkram“, winkte Udo ab, um nach einer Weile zu fragen: „sag mal, glaubst Du das wirklich?“

Morituri

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