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22. März. Staatsbibliothek

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10.00 Uhr. Der Graf hatte mit Udo vereinbart, dass er sich zunächst einmal in der Staatsbibliothek umschauen würde, ob es denn dort überhaupt relevante Informationen für sie abzugreifen gäbe.

Deshalb war er mit Bus und Straßenbahn in Richtung Universität gefahren und hatte dann nur noch einen überschaubaren Fußweg zur Staatsbibliothek gehabt.

Er stand vor dem beeindruckenden Ziegelgebäude, das die Staatsbibliothek beherbergte und rauchte die fürs erste (so für zwei Stunden dachte er sich) letzte Zigarette.

An der Treppe vor dem Haupteingang grüßten ihn vier große Steinfiguren, die von einigen gebildeten Münchnern als "Die vier Heiligen Dreikönige" bezeichnet wurden: Thukydides, Homer, Aristoteles und Hippokrates. In ihrer Gesamtheit verweisen die vier auf die Vielfalt der Wissenschaften, deren Literatur die Königliche Hof- und Staatsbibliothek zu sammeln bestimmt war.

Er stand nicht alleine vor der Treppe, außer ihm standen viele junge Leute, kaum welche rauchten (bis auf ein paar junge Frauen), einige tranken das Getränk, das angeblich Flüüügel verleihen sollte und die meisten quatschten einfach nur. Fast jeder hielt einen Laptop unter dem Arm.

Der Graf nahm einen letzten langen Zug, schaute dem Rauch aus seinem Mund einen Moment hinterher und trat dann die Zigarette mit dem Fuß aus und nahm schließlich dann die Außentreppe in Angriff.

Er trat durch eine kleine Tür in den Vorraum der beeindruckenden Innentreppe, die zum Lesesaal hinauf führte. Diese Treppe hatte König Ludwig I. (der Großvater von Ludwig II. oder „mad Ludwig“) einst nur zur Nutzung einzig durch sich selbst vorgesehen – ein ziemliches Privileg, fand der Graf und ging die Treppe entsprechend würdevoll und langsam hinauf, um den königlichen Aufstieg zu genießen.

Ein paar junge Leute liefen mit ihren iPad oder Laptop unter dem Arm schnell an ihm vorbei – das war offenbar ein Privileg der Jugend, in Räumen wie diesen nicht staunen zu müssen

Der Graf wunderte sich ein bisschen über die vielen jungen Leute, denn als er die Staatsbibliothek das letzte Mal benutzt hatte, das muss so 1985 oder 86 gewesen sein, da hatte die Staatsbibliothek zwar bestimmungsgemäß jedem Bayerischen Bürger offen gestanden, aber dezidiert NICHT den Studenten! Die Zeiten ändern sich.

Im Eingangsbereich zum Lesesaal war ein Sicherheits- und Kontrollposten eingerichtet worden, die Besucher mussten sich einzeln durch ein Drehkreuz zwängen – Fotoapparate waren nicht erlaubt, Handys mit ihren eingebauten Kameras dagegen schon.

Als der Graf den Zerberus am Eingangsdrehtor neugierig fragte, warum denn Kameras verboten seien, die Handys aber nicht, zuckte der gelangweilt die Schultern und sagte ihm, dass das Vorschrift sei, und er sich um die Gründe nicht scheren würde, wo käme er denn dahin, wenn er die Regeln auch noch hinterfragen würde. Und dahinten sei die Direktion, dort könne er ja nachfragen, wenn es ihn tatsächlich so brennend interessiere...

Nein, das tat es nicht, und der Graf passierte Zerberus, der ihm noch einen skeptischen Blick nachsandte.

Neben ihm hatte ein handgeschriebenes Schild über den Fakt informiert, dass alle Plätze im Lesesaal besetzt seien. Und auch da verkniff sich der Graf die Frage, warum dann noch Leute eingelassen würden... Naja, lesen konnte man schließlich auch im Stehen.

Als er den Lesesaal betrat, staunte er nicht schlecht – sicherlich waren alle Arbeitsplätze belegt – und das waren wahrlich nicht wenige, gefühlt bestimmt achthundert. Allerdings darf man sich nun nicht vorstellen, dass an jedem Platz ein fleißiger Student saß, nein, mehr so wie im „all-inclusive“-Urlaubshotel, wo die Gäste noch vor dem Frühstück Handtücher auslegten, um ihren Platz zu beanspruchen, lagen hier auf jedem zweiten Platz Block und Kugelschreiber – offenbar die Handtücher der jüngsten Akademikergeneration.

Vermutlich waren die angeblich fleißig Arbeitenden in der Cafeteria oder in den benachbarten Cafés, dachte sich der Graf, schließlich gehört zum Leben ja nicht nur das Studium der diversen Wissenschaften, sondern auch das des anderen Geschlechts.

Er schaute sich um und fand ein Schild oder Plakat, auf dem in Stichworten vermerkt stand, wo in den unendlichen Regalreihen, seine Interessengebiete versteckt waren. Er suchte seine Stichworte: Rechtsmedizin oder Kriminologie – und fand sie nicht.

Also steuerte er einen der vier oder fünf Beratungsplätze an. Am ersten saß ein auszubildender Bibliothekar (oder wie der sich nennen mochte), der wusste schon mal gar nichts und verwies stumm nur mit Handzeichen mit seinem gefährlich spitzen Bleistift an seinen Kollegen auf dem Nachbarplatz, der einer Studentin intensiv und konzentriert das Suchsystem im Bibliotheks-PC erläuterte. Das schien zu dauern.

Der Graf verstand, das Mädel war eindeutig jünger und vor allem hübscher als er. Also schaute er sich um und fand auf der anderen Seite des Ganges eine weitere Beraterin. Sie sah schon aus der Ferne streng aus. Er erläuterte ihr seine Wünsche. Sie schaute ihn zweifelnd an, nahm sich eine verkleinerte Version des Plakats, das er schon vergeblich durchsucht hatte und meinte dann achselzuckend, dass sie fände, dass da nichts sei – Medizin stände „oben“ und Rechtswissenschaften auch. Der Graf dachte sich, dass das ein toller Service sei, aber da die Benutzung des Lesesaales kostenlos war, war eine bessere Dienstleistung irgendwie auch nicht zu erwarten, fand er. Er ging also die Freitreppe hinauf.

„Leise und langsam gehen“ bedeutete ihm ein weiteres Schild an der Treppe, die Anweisung wurde zumindest dahingehend erläutert, dass sich sonst Lesesaalbenutzer über den ungebührlichen Lärm, den schnelles Gehen verursachen würde, beschweren würden.

„Ganz schön empfindlich, die iPad-Generation“, dachte sich der Graf. Jedenfalls ging er leise und auf Zehenspitzen die Treppe hinauf, die trotzdem ziemlich in Schwingungen geriet und trotz seiner Vorsicht einiges Getöse von sich gab. Seine Beraterin am Fuß der Treppe schaute ihn böse an, und er zog die Schultern hoch und machte ihr sein unschuldigstes Gesicht. Leiser ging einfach nicht. Nicht auf dieser Treppe.

Oben angekommen suchte er zunächst „Medizin“. Seine Beraterin hatte ihm die Auskunft gegeben, dass er die unter „400“ finden würde, was immer das sein mochte. Er fand sie unter „900“, suchte den Fehler aber bei sich. Zwei lange Regalreihen begrenzten einen schmalen Gang, nichts für Leute mit Klaustrophobie. Die Hälfte der Regale war leer – aber nicht, weil die Bücher entnommen waren, sondern weil offenbar tatsächlich jemand „auf Zuwachs“ gebaut hatte!

Endlich, fast ganz am Ende, über Kopfhöhe fand er das Stichwort „Rechtsmedizin“, unter dem sich sechs einsame Bücher fanden. „Hhm“, dachte der Graf, „das scheint es zu sein...“.

Er nahm sich ein großes Lehrbuch und ein kleines Buch „Rechtsmedizin für die Kriminalpolizei“ aus dem Regal, schmökerte noch im Gang ein wenig darin herum und fand beide interessant genug, um sie unter den Arm zu nehmen und sich einen freien Arbeitsplatz zu suchen.

Von den ersten drei, auf denen weder Block noch Stift lagen, wurde er von den Platznachbarn mit dem Hinweis verjagt, dass da gleich jemand käme. Der Graf bezweifelte das zwar, wollte dem akademischen Nachwuchs aber auch kein Hindernis in der wissenschaftlichen Arbeit sein. Im Vorbeigehen sah er doch einige Jungakademiker, die sich mit ihren Laptops gerade von der anstrengenden Literaturarbeit entspannten – er sah Spielfilme und Schweinchen Dick-Comics laufen, andere spielten Patiencen oder Videospiele, das ganze Spektrum moderner Elektronik-basierter Entspannungsmedien eben.

Nun gut, sei es drum, er suchte weiter und fand endlich einen Bereich, in dem viele Plätze unbesetzt waren. Doch verdammt, ein Schild belehrte ihn, dass dieser Bereich für wissenschaftliche Mitarbeiter mit Codekarte reserviert war. Entsprechend war da eine verschlossene Tür, für die man offenbar die genannte Codekarte brauchte. Also auch nichts...

Schließlich fand er einen leeren Platz, dessen Nachbar ihn ob der Störung durch das leise Hinsetzen zwar böse ansah, sich dann aber wieder den Abenteuern Bugs Bunnys hingab.

Die Bücher, vor allem das dicke Lehrbuch, erwiesen sich als Volltreffer. Er fand auf Anhieb drei Schussgeräte, an die sie bisher nicht gedacht hatten: Pfeil und Bogen, eine hochmoderne Armbrust und eine Hochleistungszwille!

Da der Graf weder einen Laptop mitgebracht hatte noch einen Block, musste er sich die Informationen einfach merken. Allerdings fand er die Vorstellung, wie Robin Hood mit Pfeil und Bogen durch die Gegend zu schleichen, um sein „Wild“ zu schießen, eher erheiternd als anregend. Andererseits fand er es spannend, dass Rekordversuche mit modernen Hochleistungsbögen eine Schussweite von mehr als 1000 Metern gezeigt hatten.

Auch die moderne Armbrust fand er grundsätzlich interessant, las sich in dem Kapitel etwas fest (Auftreff- und Durchdringungsenergie etc.), entschied sich dann aber dagegen, die Armbrust den anderen als geeignete Waffe zu schildern, da sie ihm zu groß und mit nur jeweils einem Schuss zu unsicher erschien. Sie waren schließlich weder Robin Hood noch Jungfer Marian..., nicht in ihrem Alter!

Eine Hochleistungszwille deuchte ihm deutlich interessanter – vor allem, da sie sich leichter beschaffen lassen würde und Udo eventuell welche bauen könnte. Allerdings musste man damit gut umgehen können und das Zielen erschien ihm schon in der Theorie schwierig.

Er verwarf die Zwille letztlich aber endgültig, weil ihm der Kraftaufwand für seine Freunde doch zu hoch erschien. Aber interessant war das alles allemal...

Bei den Schießgeräten, so wurden die wirklich genannt, gab es eine interessante Einleitung über die verschiedenen Typen von „Schießprügeln“: Revolver und Pistolen als kurzläufige Waffen und Gewehre, Büchsen und Flinten und sonstiges Gerät mit langen Läufen.

Und dann fand er den interessanten Hinweis, dass der Erwerb von Langlaufwaffen viel einfacher sei, als der von Pistolen und Revolvern. Hhm, dachte er, darüber müssen wir nachdenken: Langwaffen. Bisher hatte zumindest er ja immer nur Pistolen und Revolver in Betracht gezogen, zur Not auch sogenannte Derringer, die nur eine Patrone pro Lauf boten und die nach dem Schuss nachgeladen werden mussten. Allerdings wie sollte man mit Langwaffen herumfuchteln? Das erschien ihm schwierig.

Und dann fand er den nächsten interessanten Hinweis, dass nämlich Morde auch mit selbst gebauten Schussapparaten geschahen, und in dem Moment erinnerte er sich an einen Film, den er vor sicher zwanzig Jahren gesehen hatte: „Der Schakal“.

Im „Schakal“ ging es um ein geplantes Attentat der OAS auf Charles de Gaulle, in dem sich der Attentäter extra ein zerlegbares Gewehr von einem Büchsenmacher bauen ließ! Er klappte das Buch langsam zu, und rief sich die Szene in das Gedächtnis zurück. Erstaunlich, was man sich alles merkte. Das Gewehr bestand nur aus einem Lauf und einem einfachen Schloss mit Abzug. Die Patronen hatte der Film-Büchsenmacher auch selber gemacht! Stopp, halt mal, Patronen!

Er schlug den Index des Buches auf und schaute unter Patrone nach – und siehe da, das war ja ganz einfach. Treibmittel war vor allem Schießbaumwolle und die hatte er schon mit vierzehn Jahren zusammen mit seinem Schulfreund Klaus hergestellt, das war ein Klacks gewesen, wenn er sich richtig erinnerte – und was sie mit vierzehn gekonnt hatten, konnte nicht wirklich schwierig sein, oder? Das Buch bot auch einige Schnittzeichnungen durch Patronentypen! Das musste sich Udo, ihr Techniker, mal anschauen!

Er hatte genug gesehen. Er trug die Bücher brav an ihren Standplatz zurück und verließ die Bibliothek. Wieder musste er am Zerberus vorbei, der ihn wieder skeptisch musterte, vermutlich, weil er in der Schlange der Auslass begehrenden der einzige ohne Laptop und, wie ihm auffiel, fast der einzige ohne Wasserflasche war.

Daran mussten sie denken, wenn Udo und er wieder Einlass begehrten: Laptop und Wasserflasche waren hier in der Staatsbibliothek offenbar ein Muss, ohne war man offenbar ein Niemand.

Entlang der Ludwigstraße ging er zur U-Bahn-Station am Odeonsplatz und fuhr mit der U4 zur Theresienhöhe. Dort befand sich sein Lieblings-Saturn-Hansa-Markt mit einer riesigen DVD-Abteilung. Hier wollte er sich den Film „Der Schakal“ und vor allem einen anderen Film, an den er sich erinnerte, nämlich „Der Eiskalte Engel“ mit Alain Delon besorgen.

Im „Eiskalten Engel“ spielt Alain Delon einen (natürlich) eiskalten Profikiller – den brauchte er unbedingt! Irgendwie fühlte er sich ein bisschen wie Alain Delon, der einsamste Killer von allen. Aber auch der beste, auch wenn der am Schluss starb. Das würde er zu vermeiden wissen. Ganz bestimmt.

Der Verkäufer hatte erstens Zeit für ihn und war zweitens recht nett. „Der Schakal“ hatte er schnell gefunden, aber „Der eiskalte Engel?“, sagte er kopfschüttelnd, „Glaube ich nicht...“

„Wie“, fragte der Graf, „das ist doch ein Klassiker, den muss es doch geben?“

Der Verkäufer bat ihn zu einem PC und suchte lange, schließlich sagte er, „Nein, gibt es wirklich nicht, auf französisch hat es ihn mal gegeben, ist aber auch nicht mehr lieferbar. Ich dachte, er sollte auf Blue Ray neu erscheinen, aber da ist bei der Pressung irgendetwas schief gegangen, habe ich gelesen, jedenfalls wurde die ganze Charge vernichtet oder so... Nein, nicht lieferbar!“.

Er schaute den Grafen bedauernd an. Dann sagte er, „mal sehen, vielleicht gibt es eine DVD-Kassette, wo der dabei ist, kommen sie bitte mal mit.“ Er ging durch ein paar Regale, griff sich eine dicke Kassette und las den Inhalt. „Nein“, sagte er schließlich, „da ist er auch nicht dabei“, und dann dachte er einen Moment lang nach und empfahl schließlich, dass der Graf doch mal auf Ebay oder bei Amazon suchen solle, vielleicht habe er da ja Glück mit einer gebrauchten DVD? Und damit wandte er sich entschuldigend lächelnd einem anderen schon unruhig wartenden Kunden zu.

Im Hinausgehen fiel dem Grafen eine sehr rote Filmverpackung auf: „Leon der Profi“. Von dem hatte er neulich gelesen, dass das ein exzellenter Krimi um einen Killer und ein junges Mädchen sei, das zur Killerin ausgebildet werden wollte, weil sie den Mord an ihrem kleinen Bruder rächen wollte. 9,99 Euro las der Graf und nahm die DVD mit. Vielleicht war da ja eine Idee darin, die sie gebrauchen konnten.

Er nahm die U4 zum Hauptbahnhof, stieg dort in die U1 zum Rotkreuzplatz um, um dann die letzte Strecke mit der Straßenbahn bis zur Fasaneriestraße zu fahren.

Morituri

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