Читать книгу Zen und die Kunst des Bügelns - Klaus Bodenstein - Страница 4

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Café Esprit

Benjamin sah auf.

Die Zeitung mit seinem Artikel lag vor ihm auf dem Tisch. Er starrte seit zwei Minuten auf das Blatt, ohne eine Zeile gelesen zu haben. Was lenkte ihn so ab?

Rechts vor ihm saß eine Frau vor einem der Hochtische des Cafés und aß langsam eine Suppe; jeder Löffel eine Erfüllung.

Worauf ihn sein Unbewusstes hinweisen wollte, war nicht die gute Suppe. Die Frau saß konzentriert vor ihrer Mahlzeit, entspannt, mit durchgedrücktem Rücken, sich ihres Körpers kaum bewusst.

Aus ihrer bunten Jacke ragte ein schwerelos wirkender Busen heraus. Benjamin spürte seinen Puls im Magen pochen.

Das war ein Reiz, von dem Benjamin nicht wollte, dass er seine Aufmerksamkeit okkupierte. Er hatte Wichtigeres im Kopf. Solche Signale und Verlockungen hatten ihn nicht wie heute verstört, sondern nachgerade gestört. Lange Zeit hatte Frauen und ihre Reize aus seinem Geist verbannt.

Er hatte große Dinge im Kopf, die seine ganze Aufmerksamkeit erforderten. Stattdessen stachen ihm große Dinger ins Auge.

Er sah zurück auf die Zeitung. Einen Wimpernschlag später erwischte er sich dabei, dass sein Blick schon wieder zu der Frau abgeschweift war.

Benjamin schüttelte den Kopf und sah ersatzweise durchs Fenster in den Garten des Cafés. Einen Moment später vermaß er schon wieder alles mit seinen Blicken.

Die Zeitung half auch nicht. Nach ein paar Mikrosekunden begutachtete er sie erneut, von oben bis unten, die ganze ungewollte Routine. Die Vermessung der weiblichen Welt.

Mein Gott, ich darf da nicht so hinschauen, dachte Benjamin. Das gehörte sich nicht. Er wollte das auch nicht. Er war wegen des Zeitungsartikels über ihn selbst und wegen des guten Kaffees hier. Er wollte in Ruhe lesen.

Er ertappte sich dabei, dass er schon wieder aufsah.

Peinlich. Er konnte da nun wirklich nicht ständig so hinstarren!

Die Bedienung brachte seinen Kaffee und ein Glas Wasser. Sie wechselte ein paar freundliche Worte mit ihm, aber Benjamin war nicht bei der Sache. Nach Small Talk war ihm ohnehin nicht. Die junge Bedienung schwebte davon, Benjamin trank von seinem Cappuccino. Gut. Das hatte ihm gefehlt. Er lehnte sich zurück und sah auf.

Junge, was machst du, dachte er. Sein Puls hatte sich beschleunigt. Wieso brachte ihn diese humane Architektur so durcheinander?

Schon wieder glotzte er zu der Frau hinüber. Diesmal bemühte er sich, den Oberkörper auszublenden.

Die Frau sah gepflegt aus. Ihre oben honigblonden und unten hellblond ausgebleichten Haare hatte sie zu einem kunstvollen Dutt hochgebunden und zwei Essstäbchen überkreuz hindurchgesteckt, aus rotem Lack mit goldenen Mustern. Ihre Augen versteckten sich hinter einer großen Brille mit schmalen, dunklen Rändern. Als die Frau zu einer Serviette griff, sah Benjamin, dass sie hellblau waren.

Sie war groß, knapp eins achtzig, schätzte er. Ihre gemusterte Jacke erinnerte ihn an einen Webteppich.

Benjamin hatte eine Zeit lang in einem CAD-Konstruktions-büro gearbeitet. Er sah die Gitternetzlinien eines Rotationsellipsoids vor sich, der vorn in einen Zylinder auslief. Geometrische und ästhetische Perfektion. Dass diese geometrische Figur seinen Atem so in Anspruch nahm, gefiel Benjamin weniger.

Der Po der Frau wölbte sich sanft über die Ecken des kleinen Hockers, auf dem sie saß. Er steckte in einer Hose aus glänzendem Stoff, die knapp über hohen Schuhen endeten. Damit war sie im Stehen fast so groß wie er, schloss Benjamin.

Er faltete die Zeitung zusammen. Mit Lesen war nichts mehr. Er trank einen Schluck Wasser und griff zu seinem Kaffee.

Die Frau sah in seine Richtung, und Benjamins Blick zuckte zurück zu Kaffee und Zeitung. Gott, er wollte doch auf gar keinen Fall so aufdringlich sein und fremde Frauen anstarren. Das war das Letzte, was er sich unter einem gelungenen Cafébesuch vorstellte. Er sah auf den Tisch und auf das ZEIT-Magazin, das neben dem Göttinger Tageblatt lag.

Trotzdem nahm er wahr, wie sie aufstand und in seine Richtung kam. Sie blieb ein Stück vor ihm stehen, griff sich aber nur eine Zeitung vom Tisch neben ihm. Benjamin rückte mit seinem Stuhl zur Seite, als ob er ihr im Wege säße. Er duckte sich weg wie ein ertappter Schuljunge.

Er sah kurz auf. Ihr Busen schwebte direkt vor ihm, von der weißen Bluse fest umspannt, das Dekolleté reckte sich ihm aus der Jacke entgegen. Er nahm die weiße Bluse wahr, die sich am Rand leicht bauschte; was für ein schön verpacktes Geschenk, dachte er.

Als sie zu ihrem Tisch zurückging, wehte ihr Duft zu ihm hinüber, als ob er sich von ihr gelöst und in seine Richtung weitergewabert wäre. Sein Puls beschleunigte sich erneut.

Was war nur mit ihm los?

Schon wieder ertappte er sich dabei, wie er durch das Café hin zu ihrem Ausschnitt spähte. Sie schaute zurück, ihm war, als ob ihre hellblauen Augen einen milde kritischen Lichtstrahl auf ihn würfen. Sie wirkte nicht unfreundlich, eher amüsiert. Benjamin war aufgefallen, dass sonst niemand im Café zu der Frau hinsah; geht das nur mir so, fragte er sich, oder sind die anderen alle satt, befriedigt, versorgt?

Anstatt zurückzulächeln, senkte er nur den Kopf und verfluchte sich dafür. Diese blöde Schüchternheit, diese Feigheit. Schlimm.

Benjamin sah zurück auf seine Zeitung, nahm aber immer noch keine Zeile wahr.

Er ging an der Frau vorbei zur Herrentoilette, ohne sie auch nur ein einziges Mal anzuschauen. Er brauchte eine Auszeit von dieser Verwirrung; außerdem meldete sich der Kaffee.

Als er zurückkam, stand die Frau gerade an der Theke und bezahlte. Benjamin setzte sich zurück an seinen Tisch, sie ging an ihm vorbei. Er sah sie kaum, doch auch mit gesenktem Kopf nahm er ihre Duftspur wahr. Als sie fast bei der Tür war, wagte er noch einen Blick.

Mein Gott, was für eine schöne Frau, dachte er. Ob sie auch klug war? Oder war sie so naiv und sorglos wie die vielen gut aussehenden jungen Frauen, die er in seinen früheren Jahren kennengelernt hatte, die entspannten Schönen, die es im Leben so leicht hatten?

Benjamin nahm einen tiefen Zug aus seiner Tasse, er hatte einen trockenen Mund bekommen.

Das hatte ihn ganz schön aufgewühlt. Er verstand nicht, was in ihm vorging.

Wie konnte ihn der schöne Busen einer hübschen Frau so aus der Fassung bringen? Er wollte frei davon sein, frei, befreit, ohne Druck und Sorgen, nicht länger so stark triebgesteuert; aller Fesseln und Ketten entledigt.

Auf der anderen Seite fühlte sich diese Aufregung gar nicht so schlecht an.

Das ist doch schön, dachte Benjamin, wie die Lust einem das Blut heiß durch den Körper pumpte. Wie sie machtvoll die Organe füllte.

Macht. Vielleicht kam dieses Wort von Machen, es machen, Liebe machen, Kinder machen. Macht. Gewalt über etwas, über andere. Kontrolle. All das, aber zum Preis des Verlustes von Macht und Kontrolle über den eigenen freien Geist, der ihm so wichtig war.

Benjamin beruhigte sich langsam wieder.

Gott, hatte ihm das zugesetzt. Er war froh, dass der Anfall vorüber war.

Der Körper verlangt nach seinem Recht. Sollte er sich dem unterwerfen, oder tat er besser daran, sich weiter zu beherrschen? Das klang falsch. Wenn er seine Triebe beherrschen musste, war das etwas Negatives. Er wollte sie ruhen lassen, und sie sollten ihn in Ruhe lassen, weil es etwas viel Größeres gab als dieses Programm, das ihm sein Leben diktieren wollte.

Für Sinnlichkeit war auch später noch genug Zeit. Er hatte eine wichtigere Mission im Leben.

Benjamin atmete tief aus und lehnte sich erstaunt zurück, als ihm ein weiterer Gedanke durch den Kopf schoss.

Hatte er gerade vor seiner bereits kontrolliert geglaubten Triebhaftigkeit kapituliert? Hatte sie ihn wieder im Griff?

Er sollte wieder mehr unter Leute gehen, statt zu grübeln und zu forschen, das hatte ihm sein Bruder Alexander geraten. Nicht zuletzt deswegen ging er wieder in Cafés und an andere öffentliche Plätze, wo man Leute treffen konnte, in Bars, auf den Markt, in die Kunstläden und zu den Vernissagen und Konzerten, die es in Göttingen gab. Zen fühlte, wie er innerlich schwankte. Hatte ihn die Lust wieder im Griff? Ein Seufzer entrang sich seinem halb geöffneten Mund. Opferte er gerade seine Spiritualität auf dem Altar des Sinnlichen?

Zunächst musste er sich wieder beruhigen. Benjamin bestellte sich einen weiteren Kaffee und einen Grappa. Auch das war wieder neu: der Alkohol. Ein Jahr lang hatte er keinen angerührt; nun schmeckte er ihm wieder und wärmte ihm die aufgewühlte Brust.

Benjamin klappte die ZEIT auf und blätterte darin herum.

Politik interessierte ihn nicht, Wirtschaft noch weniger. Der Sportteil brachte auch nichts Interessantes. Da sprang ihn nichts an, was ihn hätte begeistern können, und auf die Artikel konzentrieren konnte er sich immer noch nicht. Benjamin sah kaum die Überschriften.

Auf der Wissenschaftsseite stand der Artikel über ihn selbst und seine Entdeckungen. Er überflog ihn; der Reporter hatte nicht alles verstanden, dafür war das Foto von ihm gut gelungen, fand er. Dr. Benjamin Zeno Abendschein vor seinen Rindern, war das Bild untertitelt. Er war eindeutig das hübscheste Wesen darauf.

Der leere Hocker, auf dem die Frau ihre Suppe gelöffelt hatte, starrte ihn an. Benjamin war über ein Jahr lang ohne Frauen und ohne Sex ausgekommen. Es hatte ihm nichts ausgemacht, im Gegenteil. Er hatte es genossen, den Kopf frei von irdischen Zwängen zu haben, solange es gedauert hatte. Keine Ablenkungen, keine Störungen, nur Wissenschaft, Natur, Schönheit. Befreiung. Er hatte sich in die lichten Höhen des Geistes emporschrauben können, ungebunden von dumpfen Zwängen.

Im Café lief leise Musik, ein Radiosender aus Göttingen, Radio 21. Gerade lief ein altes Stück von Black Sabbath, das langsam wie ein gelassener Herzschlag begann, bis sich irgendwann das animalistische Dröhnen der Bässe und wenig später ein aufgeregtes Crescendo der Gitarren in den Vordergrund schob. Schließlich gewann das dumpfe Bumm-Bumm der Basstrommeln die Oberhand.

Das Ganze erinnerte ihn an den Ablauf eines gelungenen Aktes.

Der Song wurde von einem langsamen Liebeslied der Beatles abgelöst.

Ging es immer und überall nur darum?

Am Sex und seiner angenehmen Notwendigkeit hatte Benjamin niemals gezweifelt. Als Biologe nicht, und als Mann schon gar nicht. In der Arterhaltung und damit der Weitergabe der Gene bestand der Sinn des Lebens, das sich dabei fortwährend immer besser an seine Umgebung anpasste. Jedenfalls war das in der Welt der sogenannten höheren Lebewesen so; bei Bakterien, mit denen er beruflich zu tun hatte, war das anders, da ging es auch ohne Sex.

Säugetiere brauchten das ein bis zweimal im Jahr, der Mensch rund um die Uhr, wenn man der Musik Glauben schenken mochte. Neben der täglichen Behauptung im Leben, der Sorge fürs eigene Überleben, das in modernen Zeiten immer weniger im Vordergrund stand, war es eine der Hauptsorgen und Beschäftigung der meisten Menschen, guten Sex zu haben.

Wie er als Mann wusste, gab es ohne ihn weniger Sinn und Freude. Der Saft, der durch seinen Körper schoss, war Lebenslust pur.

Auch wenn er schon früher gewusst hatte, wie Hormone und Pheromone und andere griechische Substanzen funktionierten, auf welche Weise sie den jugendlichen Körper für seine Fortpflanzungsbemühungen beschenkten, hatte ihm das früher nie und nimmer den Spaß daran verdorben.

Er hatte mehr als genug davon gehabt, als erfolgreicher Sportler, gut aussehender Jüngling und freizügiger Student. Eines Tages, viele Jahre später, und ganz plötzlich, von einer Stunde auf die andere, hatte er die Nase voll davon gehabt, als sich ihm lichtere Dimensionen eröffnet hatten.

Die beiden ersten Semester in Göttingen hatte er praktisch nur in fremden Betten verbracht. Im zweiten Jahr begann das Studium mehr Raum einzunehmen, und Benjamin – Zen, wie ihn seine Freunde nannten – traf seine weiblichen Bekanntschaften bald mehr als nur einmal.

Aus zweimal wurden ein paar Mal; aus flüchtigen Nächten wurden Freundschaften. Man zog zusammen in eine WG. Noch war nichts verboten oder verpönt, man war ja nicht verlobt. Man traf sich mit anderen entspannten Paaren, man fuhr gemeinsam in den Urlaub. Ehe er sich versah, war Zen fast drei Jahre mit Sandra aus Cuxhaven zusammen, seine Mutter fragte schon, wann sie sich denn verloben wollten. Benjamin hatte nur laut gelacht.

Zen war bekannt in der Stadt. Nur er hieß so, Benjamin hießen viele in seinem Jahrgang. Sein Vater, Altphilologe am Max-Planck-Gymnasium, hatte auf seinem zweiten Namen bestanden, Zeno, kurz für Zenodoros, das Gottesgeschenk. Der Zeus zugehörige, sein Vater hatte ihm viele Nuancen erklärt. In seiner Schulklasse hatte es noch zwei Bens gegeben, aber nur einen Zeno. Daraus wurde Zen, selbst seine Lehrer und Professoren nannten ihn so.

Zen legte die ZEIT zurück auf den Zeitungstisch und zog sein Handy aus der Tasche, hielt aber inne. Die Nachrichten und wissenschaftlichen Reports auf seinen Apps und den sozialen Medien hatte er alle schon frühmorgens im Bett gelesen. Nichts Neues. Daddeln mochte er hier im Café nicht.

Also die Lokalzeitung. Zen steckte das Handy wieder weg.

Im Göttinger Tageblatt las er gern die Kleinanzeigen. Sie zeigten die Welt im Kleinen, die alltägliche menschliche Seite der Stadt. Richtige Menschen, die aber ein kleines, für sie wichtiges Anliegen hatten. Etwas Unverfälschtes. Leute, die etwas brauchten oder loswerden wollten.

Zen fiel auf, wie viel Raum Tiere in den Kleinanzeigen einnahmen, Hunde, Katzen, Meerschweinchen und der gelegentliche Wellensittich. Die Rubrik Tiermarkt war eine der größten in dieser Ausgabe. Ein fett gedrucktes Inserat fiel ihm ins Auge.

Kleine Muschi sucht

neues Herrchen.

Trau dich!

Die Anzeige hob sich durch einen dünnen Rahmen von den anderen Anzeigen ab. Mit Chiffre und Telefonnummer.

Wenig darunter, unter Vermischtes, stand eine weitere Anzeige, mit derselben Telefonnummer, die man bei Interesse anrufen sollte.

ZEN UND DIE KUNST DES BÜGELNS 101

Privater Kurs.

Nur ernst gemeinte Zuschriften!

Zen wurde neugierig. Was war das denn? Durch Bügeln zum Nirwana? Volkshochschul-Satori für Anfänger? Und wieso gab da die gleiche Person zwei so unterschiedliche Anzeigen auf? Denn die angegebene Nummer war bei beiden dieselbe.

Er musste grinsen. Zen. Ich und die Kunst des Bügelns, dachte er. Worum ging es da bloß?

101 sagte ihm was, one on one, zwei Personen mit- oder gegeneinander. Oder etwa aufeinander?

Zen sagte ihm auch etwas. Nicht nur seines Namens wegen hatte er sich mit dieser Spielart des Buddhismus beschäftigt. Erst vor zwei Wochen hatte er ein Buch von einem Eugen Herrigel über Zen und die Kunst des Bogenschießens gelesen. Ein sehr schönes Buch. Und anschließend ein anderes, Zen und die Kunst ein Motorrad zu warten, das ihm nicht so gefallen hatte. Er fuhr Fahrrad und konnte Motorrädern nichts abgewinnen. Aber Bügeln? Hallo?

Bügeln. Das weckte verschiedene Assoziationen. Bügeln wie platt machen. Plätten. Der Vorgang, ein Kleidungsstück zu glätten, die Falten platt zu machen, zu beseitigen. Jemanden platt machen, aber das passte nicht zu Zen.

Jemanden flachlegen. Das passte zu der zweiten Anzeige mit der kleinen Muschi, die ein neues Herrchen suchte, mit der gleichen Handynummer. In dem Zusammenhang hatte er Bügeln auch schon mal gehört. Bügeln, Vögeln. Wenn nicht tatsächlich ein Kätzchen gemeint gewesen war.

Aber Zen?

Zen hatte mit Begierde nichts zu tun, sondern mit der Befreiung davon. Und das Bügeln von Kleidung? War das damit gemeint? Das war die langweiligste von allen Interpretationen. Zen trug seine Sachen immer ungebügelt.

Sein Handy lag vor ihm auf dem Tisch. Er hatte Zeit. Er hatte Lust auf Zen. Er mochte Kätzchen. Ob er Muschis mochte, war ihm noch nicht wieder klar.

Zen zögerte. Etwas widerstrebte ihm bei dem Gedanken, das neue Herrchen einer davon zu werden.

Oder doch? Ging es dabei wirklich um Sex? Vielleicht wollte jemand tatsächlich nur ein kleines Kätzchen abgeben. Wenn er da anrief und es ging um ein Kätzchen und nichts anderes, wohin dann mit dem Tier?

Er konnte es ja Muschi nennen und es nach Belieben kraulen.

Zen dagegen interessierte ihn. Vielleicht war das Bügeln ein Verfahren, eine Philosophie, ein Weg, um selbstbestimmter durchs Leben zu gehen, nicht fremdbestimmt durch den eigenen Körper. Auch wenn es ums Bügeln ging, wobei ihm Bogenschießen lieber gewesen wäre.

Er griff zu seinem Handy.

»Hallo?« Eine Frauenstimme. Angenehm. Tief und samtig. Eine gute Melodie. Erst gehaucht, dann fragend. Aber kein Name. Was nun?

Er war dran mit Sprechen.

»Hallo? Wer ist denn dran?«

»Wen möchtest Du denn sprechen?«

Das fragte sich Zen auch.

»Ja, äh – ich rufe wegen der Kleinanzeige an.«

»Welcher Kleinanzeige?«

»Im Tageblatt. Von heute. Unter Kleinanzeigen.«

»Aha. Und?«

»Na ja – Sie haben doch eine aufgegeben, oder habe ich mich verwählt?« Zen wiederholte die Nummer und schaute zur Sicherheit auf seinem Display nach. Die Nummer stimmte. Er hatte die Frau gesiezt. Gar nicht seine Art.

»Schon«, gab die Samtstimme zu.

Zen überlegte. Auf welche Anzeige sollte er sich melden? »Diese Zen-Geschichte.«

Die Frau am anderen Ende lachte auf, eine Stimme wie silberne Glöckchen. »Ha! Du möchtest bügeln lernen! Echt jetzt?«

Sie glaubte ihm nicht, hörte er aus ihren Worten heraus. Und sie hatte ihn geduzt, wie peinlich, nachdem er sie so steif gesiezt hatte.

»Ich fand das interessant. Wollte wissen, was dahintersteckt. Das reizte mich. Es gibt so ein paar Bücher, die so ähnlich heißen. Zen und die Kunst von etwas. Und was das mit Bügeln zu tun hat. Ausgerechnet. Das klang interessant, fand ich. Und gleichzeitig merkwürdig. Dieser Widerspruch, das hat mich gereizt, mehr zu erfahren.«

Sie sagte nichts.

Er selbst kam sich immer blöder vor. Er redete und redete und sagte nichts.

»Ich heiße übrigens selbst Zen. Na ja, eigentlich Benjamin Zeno, aber alle nennen mich so. Zen. Ein Grund mehr, oder?«

Sie lachte. »Charlotte.«

»Charlotte?« Zen wusste nicht, was er sagen sollte.

»Ja. Das ist mein Name. Charlotte Faber, um genau zu sein.«

Sie kam nicht aus ihrer Reserve.

»Du hast auch noch eine weitere Anzeige aufgegeben, ist mir aufgefallen.« Der Satz war ihm rausgerutscht, ohne Nachdenken und Planung. Zen biss sich auf die Unterlippe.

Er hörte sie am Telefon grinsen. Ein kleiner, dafür typischer Schnaufer. »Aha. Habe ich mir doch gleich gedacht, dass du deshalb anrufst.«

»Wieso das denn?« Zen ärgerte sich, weil er diesen Satz gesagt hatte, und weil sie ihn gleich darauf reduziert hatte. Auf sein vermeintliches Interesse an ihrer kleinen Muschi. Das passte ihm nicht. So einer war er nicht.

Jetzt druckste sie herum.

»Äh – na, eben wegen dieser anderen Anzeige.«

»Nein«, entrüstete er sich.

»Doch.« Sie klang trotzig. Er hörte ihren Gedanken. Männer wollen sowieso nichts anderes. Gib es zu.

Was für eine blödsinnige Konversation, dachte Zen. Das brachte nichts. Vielleicht sollte er einfach auflegen und zurück an seine Arbeit gehen.

»Irgendwie kommen wir so nicht weiter«, sagte die weiche Stimme am anderen Ende. »Also, Zen! Noch mal von vorn. Willst du wissen, was es mit Zen und Bügeln auf sich hat?«

Zen nickte. Das konnte sie übers Telefon nicht sehen. »Ja, genau.«

Deshalb hatte er doch angerufen. Dennoch regte sich Widerwillen in ihm, er wollte nicht zu Unrecht verdächtigt werden.

»Aber ich würde schon gern wissen, warum du so unterschiedliche Anzeigen aufgibst, das hat mich neugierig gemacht. Mein zweiter Grund, weshalb ich anrufe.«

Sie seufzte. »Das wüsste ich inzwischen auch gern. Hör zu. Komm einfach vorbei, übers Telefon lässt es sich nicht so gut reden, finde ich. Wenn du wirklich Interesse hast.«

»Wo wohnst du denn?« Zen freute sich. Das klang schon unkomplizierter. Außerdem war er jetzt zum Du übergegangen.

Sie wohnte in der Theaterstraße, in einem der alten Häuser an der Apotheke. Das war nicht allzu weit vom Café Esprit entfernt. »Okay.«

Zen fand das Ganze skurril, und doch hatte gerade das seinen eigenen Reiz.

»Ich bin in zehn Minuten da. Bis gleich, Charlotte.«

Charlotte

Auf sein Klingeln hin summte der Türdrücker, und Benjamin drückte mit dem Arm gegen die alte, schwere Holztür. Vierter Stock; für dieses Stockwerk war nur eine Klingel vorhanden, mit nur einem Namen: Faber. Sie bewohnte das gesamte Obergeschoss. Wow, dachte er.

Benjamin erschrak, als er oben war und die Glastür vor ihm aufging. Frontal vor ihm stand die Frau aus dem Café, die er vorhin angestarrt hatte. Gut, dass er vom Treppensteigen etwas außer Atem war, dachte er. Sie legte den Kopf zur Seite und grinste. Erwischt. Sie hatte ihm sein Erschrecken angemerkt.

»Charlotte Faber? Wir hatten gerade telefoniert.« Benjamin streckte seine Hand aus. »Benjamin Abendschein. Zen.«

Ihr Grinsen löste sich auf, dafür zog sie die Augenbrauen zusammen. »Warst du das nicht vorhin im Esprit? Du hattest mich ein paar Mal so – angeschaut?« Sie öffnete die Tür weiter und trat zur Seite, um ihn durchzulassen. »Kennen wir uns vielleicht von irgendwoher? Was für ein Zufall. Mir dir hätte ich jetzt nicht gerechnet.«

Sie duzte ihn weiter. Und ich Idiot habe sie vorhin am Telefon gesiezt, dachte er.

Benjamin spürte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoss. Seine Ohren fühlten sich wärmer an, das taten sie immer, wenn er errötete.

»Du bist also die Charlotte«, stellte er fest und schaffte es, ihr ins Gesicht zu sehen. »Das hätte ich jetzt auch nicht erwartet.«

Ihr Gesicht hatte er im Café nur von der Seite gesehen, und es war ihm eher unattraktiv erschienen, es hatte flächig gewirkt, konturlos. Nun sah er, wie groß ihre hellblauen Augen unter der dunkel gerahmten Hornbrille waren, und wie sich ihre Lachfältchen bis zu ihren markanten Wangenknochen erstreckten. Sie hatte ein fein ziseliertes Gesicht, das klassisches Antlitz einer nordischen Göttin.

Bis auf eine kleine Delle zwischen den Augen war ihre Nase die Fortsetzung der Linie ihrer glatten und hohen Stirn. Nur dort, wo die Knorpel anfingen, war die Nase vorsichtig nach unten abgewinkelt, was ihr etwas Zupackendes gab. Was ihre hellen Adleraugen erspähten, würde sich dieser Schnabel packen und verschlingen.

Die Haare hatte sie immer noch zum Dutt verschlungen, aus dem eine vorwitzige hellblonde Strähne wie ein Banner keck herauswehte. Vielleicht wirkte ihre Stirn deshalb so hoch, dachte Benjamin.

Er konnte es gerade noch vermeiden, seinen Blick auf ihre Bluse zu senken, hatte aber schon beim Eintreten bemerkt, dass sie ihre bunt gemusterte Jacke abgelegt hatte.

»Ehrlich gesagt, Nein, ich glaube nicht, dass wir uns schon mal begegnet sind«, beantwortete er ihre vorherige Frage, den Blick auf ihr eher kleines rechtes Ohr gerichtet. »Leider nicht. Du hast ja genau in meiner Blickrichtung gesessen, da warst du schwer zu übersehen.« Beinahe hätte er hinzugefügt, und du bist ja nun auch eine echte Augenweide, konnte es aber gerade noch vermeiden.

Er senkte den Blick, und sofort sprang ihm ihr Dekolleté ins Auge, nun aus nächster Nähe. Schnell blickte er wieder zur Seite, ins Zimmer hinein. Gott, er konnte doch nicht schon wieder so auf ihre Brüste glotzen, und dann noch bei ihr zu Haus. Aber dass sich eine makellose und glatte Haut über diese Prachtstücke spannte, war ihm nicht entgangen. Sein Magen zog sich zu einer geballten Faust zusammen, Benjamin spürte, wie ihm das Blut in die Lenden schoss.

Charlotte tat, als ob sie nichts davon bemerkt hätte. Benjamin spürte sich schon wieder erröten. Das zweite Mal in mindestens genau so vielen Jahren.

»Komm erst mal rein und setz dich«, sagte sie und zeigte kurz mit ihrer gespreizten rechten Hand zu einem großen runden Tisch. »Möchtest du einen Tee?«

»Gerne.« Benjamin ging auf den Tisch zu, mechanisch und roboterhaft, nach irgendeinem Halt suchend. Auf dem Weg durchs große und aufgeräumte Zimmer fiel sein Blick auf eine blaue, mit einem verblichenen Palästinensertuch ausgelegte Holzkiste, in der sich etwas regte. Zwei junge Katzen mit kurzem, bläulichen Fell.

Er änderte seine Richtung, jetzt sicherer auftretend, ein Ziel vor den Augen.

»Ist das die Muschi, die ein neues Herrchen sucht?«, fragte er, während er sich auf ein Knie niederließ. Er nahm eines der Kätzchen in die Hand, ein kleines Fellbündel, dessen Pelz im Licht graublau irisierte. Das Kätzchen schlief und streckte sich leicht in seiner Hand, vielleicht drei Wochen alt, dachte Benjamin. Er legte es wieder in die Kiste zurück, ging an den Tisch und setzte sich, nun viel sicherer und etwas weniger von ihrer überwältigenden Weiblichkeit beunruhigt.

Sie hatte also wirklich Kätzchen. Irgendwie erleichterte ihn das. Er atmete tief aus. Kein Seufzer, aber nahe dran. Erleichtert ließ er die angespannten Schultern sacken.

Charlotte kam aus der Küche zurück und stellte zwei rote Teetassen auf den Tisch. »Lass die mal in Ruhe. Und darüber möchte ich jetzt auch nicht sprechen«, sagte sie, während sie die Kiste mit den Kätzchen in ein anderes Zimmer stellte, dessen Tür sie auf dem Rückweg hinter sich zuzog.

»Du bist schließlich wegen des Bügelkurses hier, oder?«

Benjamin sah ihr einige Augenblicke lang nach, während sie in Richtung Küche zurückging. Sie hatte einen elegant schwingenden Gang, bei dem sie es fertigbrachte, ihren Busen kaum in Bewegung zu versetzen. »Na ja, klar, eigentlich schon«, sagte er, aber es klang eher wie eine Frage.

»Wenn es denn wirklich so etwas Mysteriöses hat wie in deiner Anzeige. Erzähl mir mal, was hat denn Bügeln mit Zen zu tun? Das war der Haken, mit dem du mein Interesse geangelt hast, Charlotte.«

Sie kam aus der Küche zurück und balancierte mit der einen Hand ein Tablett mit einer Kanne Tee, einem Stövchen, einem Zuckertopf und Löffeln, während sie mit der anderen die Küchentür schloss. Benjamin hatte hingesehen und insgeheim gehofft, dass sie die Tür mit einem Schwung ihres Pos schließen würde.

»Ich war mal ein paar Jahre in Japan, aber dazu später. Zieh bitte schon mal dein Hemd aus.«

»Mein HEMD?«, wunderte sich Benjamin.

»Ich tu das kurz in die Maschine und dann in den Trockner. Es muss sowieso gebügelt werden. Gewaschen wohl auch.« Sie zeigte auf einen Kaffeefleck unter der Brusttasche, der Benjamin noch gar nicht aufgefallen war. »Aber dann müsste ich dir was anderes geben.« Sie zupft sich mit Daumen und Zeigefinger am Rand der Unterlippe.

»Oder nee. Lass es an, ich habe selbst noch frisch gewaschene Wäsche da.« Sie grinste fröhlich. »Kannst dein Hemd noch eine Weile auftragen.« Benjamin knöpfte den zweiten Knopf von oben, den er mechanisch geöffnet hatte, wieder zu.

»Zucker?« Sie hob den Zuckertopf in seine Richtung. Benjamin konnte kleine braune Kandiskristalle erkennen und bediente sich. Charlotte goss ihm hellroten Tee ein.

»Charlotte«, Benjamin ließ sich den Namen auf der Zunge zergehen. Onomastik beherrschte er; die Namensforschung war ein sicheres Terrain, das er betreten konnte. Ein Gebiet, in dem er nicht so staksig und unbeholfen umherging wie in ihrer Wohnung, einer fremden Wohnhöhle, angenehm duftend, mit anderen Farben und bunterem Licht, in der er sich trotzdem noch fremd fühlte, bedroht, unsicher.

»Die weibliche Form von Karl, abgeleitet von Karl dem Großen, im Diminutiv«, gab er sein Wissen preis. »Die Anmutige, die Tüchtige. Die Freie. Schöner Name.« Er griff nach seiner Teetasse, sah hinein und trank.

»Und Zeno, das Gottesgeschenk. Habe ich gerade nachgeschaut.« Charlotte grinste ihm direkt ins Gesicht. »Benjamin, der jüngste Sohn Jakobs. War dein Vater Pfarrer, oder was?«

Wow, dachte Benjamin. Sie war auch neugierig auf ihn gewesen. »Nee, Lehrer. Altgriechisch, am Max-Planck-Gymnasium. Aber der jüngste in der Familie bin ich nicht, ich habe eine jüngere Schwester und einen viel älteren Bruder. Und der heißt Alexander Anaxos.«

Benjamin musste selbst lachen. »Vielleicht, weil er so immer ganz vorn im Alphabet auftaucht und als Erster in der Klasse gefragt wird. Alexander Anaxos Abendschein. Mit so einem Namen musst du immer vorbereitet sein und alle Fragen beantworten können.«

»Abendschein ist ein alter Hugenottenname«, wusste Charlotte. »Habe ich auch gleich nachgeschlagen. Dann verbindet uns was, Zen. Deine Familie kam mal aus Frankreich, meine ist frankophil.«

Sie hob ihre dünne Tasse auf, ohne den kleinen Finger abzuspreizen. Gute Erziehung, oder war sie einfach so dezent und anmutig, wie ihre Bewegung wirkte, fragte er sich. Sein Magen entknotete sich langsam wieder, und er nahm einen weiteren Schluck vom Tee.

Charlotte erzählte von sich. »Meine Eltern sind aus Landau bei Karlsruhe, das ist ja schon fast in Frankreich. Mein Vater hat ein gutes französisches Lokal in Kassel, seit über vierzig Jahren, da sind wir vor meiner Geburt hingezogen.« Sie stellte ihre Tasse, die sie vor sich gehalten hatte, wieder ab.

»Das sollte ich später übernehmen, aber ich konnte gerade noch entkommen«, lachte sie. »Jetzt hat er jemanden aus Narbonne dafür eingestellt. Aber versteh mich nicht falsch. Ich bin gerne da, und koche am Wochenende auch mal. Du kannst uns zwar aus Frankreich rauskriegen, aber Frankreich nicht aus uns. Essen tue ich für mein Leben gern. Sieht man ja leider.«

Sie lächelte ihn entschuldigend an. Auf ihren Wangen zeigten sich zwei Grübchen; das linke lag etwas tiefer als das rechte, was sie noch interessanter aussehen ließ.

Benjamin hatte ihr gar nicht richtig zugehört. Ihm war aufgefallen, wie sie von innen heraus strahlte, wie ihre Augen leuchteten. Seine Antwort ließ ein wenig auf sich warten.

»Und was machst du jetzt hier in Göttingen, Charlotte?«, fragte er und griff erneut zu seinem Tee.

Ihr war sein kleiner Aussetzer nicht aufgefallen. »Ich bin am Max-Planck-Institut, als Postdoc. Biophysikalische Chemie.«

»Ach nee.« Jetzt hatte sie Benjamins volle Aufmerksamkeit. »Ich bin auch Biologe, aber in der Goldschmidtstrasse. Mikrobiologie.«

Charlotte lehnte sich erstaunt zurück, und Benjamin nahm aus den Augenwinkeln wahr, wie ihre Bluse dabei auf und ab wogte.

»Und was machst du da genau?« Sie rührte ihren Tee um und strahlte Benjamin so freundlich und unbefangen an, als ob sie ihn schon lange kennte. Sie hatten etwas Gemeinsames entdeckt, eine Verbindung, die das Eis zwischen ihnen zerbröselte und schmolz.

»Tja. Was mache ich da.« Benjamin griff zum Zuckertopf und bugsierte drei Bröckchen Kandis mit seinem Löffel in seine Tasse. Charlotte sah ihm aufmerksam zu.

»Hast Du noch Tee?« Sie schenkte ihm nach und legte den Kopf schief.

Benjamin rührte gedankenverloren um. »Eigentlich bin ich Bakteriologe. Für Extremophile. Du weißt schon, die Arten, die in kochendem Wasser, Schwefelquellen, Vulkanen, Salzsäure oder anderen völlig lebensfeindlichen Umgebungen überleben. Im Weltraum. Faszinierend, weißt du? Wozu das Leben fähig ist. Ich bin jedes Mal wieder überwältigt davon.«

Sie sah ihm direkt in die Augen, ihre Brauen senkten sich um einen Millimeterbruchteil nach unten. Wenn sie rauchen würde, dachte Benjamin, hätte sie jetzt langsam den Rauch ausgepustet. Sie sann über etwas nach.

Er wunderte sich über sich selbst. Im Café hatte er fast zwanghaft auf ihre Oberweite geglotzt; hier sah er nur ihr Gesicht. Gab es eine Art Tabu, wenn man bei jemandem zu Gast war? War das ein konditionierter Akt der Höflichkeit? Oder machte das der persönliche Kontakt? Respekt vor jemandem, den man aus anderen Gründen schätzte? Überstimmte das die laut schreienden Hormone?

Das kritische Absenken der Augenbrauen war ihm dabei nicht entgangen.

»Ich glaube, ich weiß, was du denkst«, sagte er schließlich. »Solche aufwendigen Forschungen müssen ja irgendwie finanziert werden. Ohne Geld keine Forschung, heutzutage. Und wen interessieren schon solche extremen Lebewesen? Das öffnet Tür und Tor zu ungeahnten Möglichkeiten. Mineralienabbau, Raumfahrt, hitzeresistente Getreidearten, damit wir die Erde noch effektiver plündern können. Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt. Vor allem, wenn noch Börsen-Fantasien dazu kommen. Dass man damit Geld machen kann. Extrem viel Geld.«

Dass ich damit Profitgier und Machtinteressen diene, dachte er. Hoffentlich glaubt sie das nicht. Denn das wäre das Letzte, was ich will.

Benjamin trank einen Schluck gegen seinen trockenen Mund.

»Das hat mich aber nie interessiert, im Gegenteil. Ich erforsche die nicht des Geldes wegen. Ich finde Biologie faszinierend. Das Leben. Diese unendliche Vielfalt und den Erfindungsreichtum des Lebens. Was die Natur alles zustande bringt. Diese Eroberung aller Lebensräume, mit den Extremophilen als den Pionieren des Lebens.«

Benjamin kam sich etwas blöd vor. Das klang laut ausgesprochen ganz anders als leise im Kopf.

Sie trank ihren Tee und sagte immer noch nichts. Musterte ihn nur.

»Und du?« Benjamin fühlte, als ob er in einer zu großen Haut steckte.

Ihr Mund öffnete sich leicht, ein Streifen weißer Zähne zwischen zwei vollen Lippen. An den Mundwinkeln bildete sich beim Lächeln zwei kleine, dreieckige Lachfalten, die sie einrahmten wie spitze Klammern.

Ein lächelndes < = >.

Süß. Benjamin war dieser ebenmäßige und volle Mund vorher nicht aufgefallen.

»Ich habe gerade bemerkt, dass ich Dir gern zuhöre, Zen.« Sie stand auf und ging in Richtung Küche. »Wir haben noch knapp eine Stunde, dann muss ich weg. Jetzt wird gebügelt. Aber ich würde mich freuen, wenn wir morgen weiterreden könnten.« Sie blieb im Rahmen der Küchentür stehen und blickte über die Schulter zurück, wobei ihre lose Strähne aus dem Dutt zitternd herausragte wie eine Feder am Speer eines Eingeborenen, der damit gerade seine Beute erlegt hatte. »Ja? Würdest du das auch gut finden, Zen?«

Benjamin nickte. Das fühlte sich gut an, so gefragt zu werden. Es war, als ob die Luft, die ihn einhüllte, ein paar Grad wärmer geworden wäre. Charlotte nickte auch, während sie den Kopf in Richtung Küche wandte. Benjamin hörte sie eine Schranktür öffnen. Er seufzte, trank seinen Tee aus und stand auf.

Zen und die Kunst des Bügelns

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