Читать книгу Kunst oder Kekse - Klaus Porath - Страница 13
1971: Vertreibung aus dem Paradies – Erinnerungen an Lübeck-Moisling.
ОглавлениеIch erinnere mich noch genau an den Moment und die Worte, die mein Leben radikal verändern sollten. Wir saßen abends zusammen und Opa Paul eröffnete mir: „Am Wochenende kommen Deine Eltern und nehmen
Dich mit nach Lübeck.“ In mir brach eine Welt zusammen. Mir war zwar bewusst, dass meine Eltern und meine Schwester meine Familie waren, aber mein Zuhause war in Celle! Ich bin mir sehr sicher, dass Oma Paula heimlich viel geweint hat. Das kann bei ihrem guten Herzen und ihrer Liebe für mich gar nicht anders gewesen sein.
Konkrete Erinnerungen an den Umzug nach Lübeck habe ich nicht. War ich traumatisiert? Auf jeden Fall hatte ich das Gefühl, dass das ganze ein furchtbarer Irrtum war, der bald bemerkt und rückgängig gemacht werden müsste. Innerlich verweigerte ich mich der neuen Situation und wurde zum „Träumer“. Wäre ich weiter in Celle aufgewachsen, hätte ich mit Sicherheit eine glücklichere Jugend verlebt. Auf der anderen Seite wäre ich wahrscheinlich nie mit dem Klavier in Berührung gekommen. Welch furchtbare Vorstellung! Aber in Celle hätte ich die Musik als neue innere Heimat vielleicht gar nicht gebraucht?
Bevor die Poraths ihren eigenen Reihenbungalow im Musikerviertel in St. Lorenz-Nord bezogen, der dankenswerterweise nicht zufällig neben meiner künftigen Grundschule und nur wenige hundert Meter entfernt von meinem künftigen Gymnasium erbaut wurde, wohnten wir zur Miete in einem Hochhaus in Lübeck-Moisling. Direkt gegenüber befand sich die Gemeinschaftspraxis meiner Eltern. Vormieter war eine gewisse Familie Budde, deren Sohn Sebastian bei meinen Eltern beim Auszug einige skeptische Erkundigungen bezüglich meiner Schwester einzog: „Kann sie denn schon Radfahren? Hat sie denn schon ’nen Freischwimmer?“ Später gingen beide in eine Klasse und haben ab und an zusammen Gitarre gespielt und zweistimmig gesungen.
Mein Weg zum Kindergarten war nur ein Katzensprung. Dort hatte ich ein eigenartiges Ritual entwickelt: Jeden Morgen, wenn wir uns um eine große Kiste herum stellten, um uns daraus ein Spielzeug zu nehmen, summte ich still und heimlich den Anfang von „El Condor Pasa“ von Paul Simon, das sich in Deutschland 1970 für 8 Wochen auf Platz eins der Hitparade hielt. Ich fand diese Melodie wunderschön und geheimnisvoll. Es war das erste Mal, dass Musik mein Herz erreichte. Sie schien meiner Seele etwas Wichtiges zu geben. Vielleicht etwas, das ich seit Celle vermisste?
Das zweite Lied, an das ich mich erinnere, war „Am Tag, als Conny Kramer starb“. Ich hörte zwar „Am Tag, als Conny kam und starb“ heraus, aber das war inhaltlich, ohne, dass ich genau wusste, um was es ging, sehr ähnlich. Ich war tief bewegt von der Dramatik. Heute ist er übrigens einer von nur zwei Songs in meinem Repertoire, von dem ich sowohl den deutschen als auch den englischen Originaltext auswendig kann. Und „El Condor Pasa“ spiele ich immer noch gerne.
Nicht so schön war, dass ich mir in dieser Zeit einen eigenartigen „Hopsgang“ angewöhnt hatte. Dabei rollte ich bei jedem Schritt den Fuß nicht nur von der Ferse bis zu den Zehen ab, sondern ging, dort angekommen, noch auf die Zehenspitzen hoch. Vielleicht habe ich mit dieser Anstrengung versucht seelischen Druck abzubauen und wollte mich aus der Realität förmlich herauskatapultieren? Meine Mutter konnte mich dadurch beim Blick aus ihrem Praxisfenster schon von weitem auf dem Weg vom Kindergarten nach Hause ausmachen. Ich war ihr peinlich. Mein Vater hatte dagegen eine mittelalterliche Therapie parat: Er gipste mir meine Füße im 90-Grad-Winkel zum Bein ein und sägte den Gips dann zum An- und Ausziehen auf. Diese klobigen Gipsstiefel musste ich jede Nacht tragen, um meine Füße an die anatomisch korrekte Haltung zu gewöhnen. Das half, aber meine Ex-Frau behauptet, mich noch mit einem leicht federnden Gang kennengelernt zu haben.
An die Zeit in Moisling habe ich nicht viele Erinnerungen. Hier habe ich zum ersten Mal einer Frau, die meiner Mutter ähnlich sah und die ich attraktiv fand, die Eingangstür des Wohnblocks aufgehalten. Sie war gerührt, ich war gerührt, und meine Eltern, als ich es ihnen erzählte, wohl auch. Direkt neben unserem Spielplatz lag der alte Judenfriedhof. Gegen seine dicke Mauer schossen wir mit Bällen. Wenn ein Ball darüber wegflog, musste der unglückliche Schütze am Eingang klingeln, um ihn wiederzubekommen. Die Tür öffnete uns dann eine grässlich aussehende alte Frau, die uns für Monster hielt, die absichtlich die Totenruhe störten.
Sie wäre die perfekte Besetzung für die Hexe in „Hänsel und Gretel“ gewesen.
An einem Silvesterabend beehrte uns die ältere Schwester meines Vaters, meine Tante Gisela, Oberstudienrätin für Deutsch und Französisch, mit ihrem Besuch. Sie hat nie geheiratet und bestand bis ins hohe Alter darauf, von ihren Schülern mit „Fräulein“ angeredet zu werden. Als Erstes fiel sie in unserer Küche auf die Knie und schrubbte den Boden. Das machte sie meiner Mutter nicht unbedingt sympathischer. Ich dagegen fand ihre Anweisung für den Verlauf des Abends irritierend. Sie verkündete: „Wir gehen in den neunten Stock, schauen uns das Feuerwerk an, und dann legen wir uns hin.“ Ich fragte sie, warum wir uns im neunten Stock hinlegen sollten und alle lachten. Ich sehe sie noch heute leicht den Kopf schütteln und „Brüdi, Brüdi, du musst noch sehr viel lernen!“ sagen. Eine überflüssige Aussage, denn welches Kind muss das nicht.
Ihr Kosename „Brüdi“ verriet, dass ich eigentlich nur ein Anhängsel, nur der kleine Bruder war, und das war gut beobachtet. Meine Schwester war deutlich besser in die Familie integriert. Sie erweiterte diese Definition für sich innerlich noch auf „kleiner dummer Bruder“, wobei ich mich – durch meinen Rückzug in mich selbst – in einigen Belangen tatsächlich auch nicht besonders klug anstellte. Im Gegensatz zu ihr hatte ich zum Beispiel in Celle nicht gelernt, welche Dinge man zu Hause besser nicht erzählen sollte, um keinen Ärger zu bekommen. Meine Eltern waren einerseits erfreut, dass ich ehrlicher war als meine Schwester, andererseits waren sie in Sorge, dass ich dadurch später im Leben Probleme kriegen würde. Ihr Moralkodex diesbezüglich war eindeutig, wenn auch fragwürdig: Man darf und muss im Leben ab und an lügen, um weiterzukommen. Nur die eigenen Eltern, die belügt man nicht! Ich tue das bis heute nicht, was sie freuen dürfte. Ich lüge meine Kindheit hier nicht schön, wo sie es nicht war.