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1978: „Mein Bruder klappt die Noten zu und spielt einfach irgendetwas!“

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Die Töne, die ich dem Klavier entlockte, gefielen mir, aber die Sache machte nur ohne Noten richtig Spaß. So fing ich an, mit den gelernten „Versatzstücken“ aus der Klassik, zum Beispiel der Begleitung durch den sogenannten „Alberti-Bass“, eigene Stücke zu komponieren. Für mich war das die natürlichste Sache der Welt. Aber meine Schwester kommentierte es erstaunt und ehrfürchtig mit den Worten: „Mein Bruder klappt die Noten zu und spielt einfach irgendetwas.“ Auch meine Eltern fanden das besonders, wollten es gerne fördern, wussten aber nicht wie. Eines Tages hatte einer von ihnen eine Musikstudentin als Patientin, die sofort zu dem Thema interviewt wurde. Sie empfahl, mich in die Hände ihres Kommilitonen Michael Töpfer zu geben. Michael studierte im Hauptfach Komposition und gab vielen seiner Kommilitonen Nachhilfe, damit sie die gefürchtete Klausur in Harmonielehre bestanden. Neben Klavierstunden, Akkordeon-Unterricht und Geräteturnen war mit den Stunden bei ihm dann mein vierter Nachmittag in der Woche belegt. Wir trafen uns in seiner kleinen Butze im Buxtehude-Heim am Jerusalemsberg. Und dann ging es meist an den Flügel im obersten Stock der Villa gegenüber. Er hatte für den Raum einen Schlüssel von einem seiner Professoren bekommen.

Für mich wehte hier ein Hauch von musikalischer Weite und Freiheit. Und irgendwo in der Ferne schwebte diffus die verlockende Aussicht, beruflich später etwas mit Musik zu machen. Dahin führte in Michaels Augen natürlich ein Musikstudium. Und so begann er mir sehr ernsthaft die klassische Harmonielehre und die strengen Stimmführungsregeln im „Generalbass-Spiel“ beizubringen. Mit dreizehn Jahren bekam ich so die fundierteste Grundlage, die man als Popmusiker haben kann. Nach dem ernsten Stoff, bei dem ich unter strenger Aufsicht mittelalterliche Kadenzen zu entwickeln hatte, spielte Michael für mich auch schon mal einen Boogie-Woogie. Er hatte es einfach drauf! Und wenn ich ihm dann meine zu Hause neu entdeckten Pop-Kadenzen vorspielte, bezeichnete er die immer als „ganz apart“.

Ich musste bei ihm Kompositionen wie mein „Lampenfieber“ in Noten aufschreiben. Mit der Begründung, dass nur so andere in der Lage wären, sie nachzuspielen. Was bis heute bestimmt kein Mensch je getan hat. Irgendwie war in der klassischen Welt alles erst dann richtig Musik, wenn es auf zwei mal fünf Linien graphisch festgehalten wurde. Michaels eigene kleine Kompositionen wie „Gedanken in der Nacht“ waren neu-romantisch und gefielen mir gut. Er hatte ihnen einen interessanten kleinen Schuss Atonalität zugefügt. Für Laien: Atonalität bedeutet (einfach erklärt) „schräge“ Töne! Für Experten: Ein paar weniger als bei Bela Bartok. Für Laien: Bela Bartok war ein ungarischer Komponist, der als modern galt, weil er viele schräge Töne einsetzte. Da ich gerade erst angefangen hatte „normale“ Akkorde zu lernen, waren Michaels Kompositionen für mich noch zu geheimnisvoll, um ihre Harmonik zu verstehen.

Jeder neu gelernte Akkord war eine Entdeckung! Mehr noch, er war eine Offenbarung! Vor mir lag eine unendliche musikalische Weite. Ich weiß noch, wie ich unter Michaels Anleitung zum ersten Mal A-Dur spielte. A-Moll kannte ich bereits. Er ermutigte mich, den Mittelfinger vom C aufs Cis zu verschieben. Ein kleiner Schritt für die Menschheit, ein großer für mich auf dem Weg zum Musiker. Einmal fehlten mir bei einer kleinen Komposition noch die letzten Takte und Michael komponierte für mich aus dem Stegreif ein Ende. Es fühlte sich toll an, mit ihm zusammenzuarbeiten und so etwas „unter Kollegen“ zu regeln. Sein Ende des Stücks klang interessanter als der ganze Anfang. Fairerweise wollte ich ihn als Mitkomponist aufführen, was er lachend ausschlug.

Körperlich entwickelten wir uns auseinander. Ich schoss hoch auf und war sehr fit. Zu allen nachmittäglichen Aktivitäten, die quer durch Lübeck verstreut waren, raste ich immer wie angestochen auf dem Fahrrad.

Natürlich hatten wir auch Schulsport. Außerdem hatte mein Vater unserer Familie ein allabendliches Jogging verordnet. Michael fehlte das alles. Er war eher der gemütliche Typ, der die Sitzfläche einer Klavierbank gut ausfüllte. An seinem Äußeren fiel ansonsten auf, dass er nicht jeden Tag zur Shampoo-Flasche griff.

Eine schöne Erinnerung habe ich an die Stunde, als er mir den Unterschied zwischen Dur und Moll erklärte und dabei ins Philosophische abglitt. Er führte einige Beispiele für den Dualismus in der Welt an (warm und kalt, hoch und tief, u.s.w.) und krönte seine Ausführungen mit dem Satz: „Es gibt Männer, und es gibt Frauen.“ Ich war 14, und das war mir vor Kurzem auch verstärkt aufgefallen. Aber zu ihm schien das in keinster Weise zu passen. Umso erstaunter war ich, als ich herausfand, dass er eine Freundin hatte. Die war sehr nett, wohnte ein paar Zimmer weiter und studierte natürlich auch Musik.

Meine Eltern gaben mir immer 20 Mark für ihn mit. Erst später wurde mir klar, warum er sich direkt nach jeder Stunde mit den Worten: „Ich muss noch schnell etwas besorgen!“ verabschiedete und zum Lebensmittelmarkt gegenüber lief. Bei allem, was uns musikalisch verband, hatte er aber auch die Vorbehalte des klassischen Musikers vor der Pop-Welt. Als ich ihn fragte, ob er den damals angesagten Song „Dschingis Khan“ der gleichnamigen Gruppe kennen würde, gab er zu, diesen schon einmal gehört zu haben. Morgens beim Zähneputzen. Ich verstand den Wink und verschonte ihn mit meiner Pianoversion des Liedes.

Irgendwann luden meine Eltern Michael zum Kaffee zu uns nach Hause ein. Nach einer Weile Smalltalk musste ich das Wohnzimmer verlassen, denn sie wollten seine ehrliche Meinung dazu, ob ich talentiert genug sei, um Musiker zu werden. Nett, wie er war, und da ich ja überdies zu seiner Ernährung beitrug, sagte er Ja. Er meinte, dass ich meine Komposition „Lampenfieber“ durchaus als Aufnahme für ein Kompositionsstudium vorlegen könne. Damit waren meine Eltern beruhigt und sahen in mir den zukünftigen Oberstudienrat mit den Fächern Musik und Erdkunde. Deshalb konnten sie herzlich über unser „Fachchinesisch“ lachen. Ihr Favorit war der „verkürzte Doppeldominant-Septakkord mit tief alterierter Quinte“. Grämen Sie sich nicht, wenn Sie nur Spanisch verstehen: Die wenigsten Musiker wissen, was damit gemeint ist! Wenn Sie mich treffen und es ist ein Klavier in der Nähe, zeige ich Ihnen gerne, welch einfachen Akkord man in der Klassik meint, mit diesem Wortmonstrum beschreiben zu müssen. Ich musste, jung wie ich war, nicht nur durch die Pubertät, sondern auch da durch.


Das Klavier stand im Zimmer meiner Schwester...


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