Читать книгу Kunst oder Kekse - Klaus Porath - Страница 14
1971: Singen – „Ich kann es jetzt!“
ОглавлениеMein Vater hat eine sehr klare Vorstellung davon, was im Leben „normal“ ist. Darunter fällt all das, bei dem man keine Angst zu haben braucht, was die Nachbarn denken. Unnormal sind für ihn Extreme jeglicher Art. Sogar mit Milch kann man sich umbringen, wenn man zu viel davon trinkt! Die beste Ernährung ist ausgewogen: Bei gesunder Hausmannskost kommt alles auf den Tisch, von jedem etwas. Der kulturelle Wertekanon meines Vaters ist ähnlich vielseitig und beinhaltet auch auf das Singen. Selbst, wenn es nur einen kleinen Teil von dem ausmacht, was er als „Menschsein“ bezeichnet, gehört es doch unbedingt dazu. Sehr zu seinem Leidwesen diagnostizierte mein Vater bei mir bereits im frühen Alter von ca. sechs Jahren an dieser Stelle eine Lücke. Ich sang nicht!
„Jeder singt irgendwann einmal!“ höre ich ihn heute noch sagen. Das muss er mir also ziemlich oft vorgehalten haben. Von mir gänzlich unbemerkt muss eine Langzeitstudie in Form eines familieninternen „Grossen Lauschangriffs“ auf mein Kinderzimmer stattgefunden haben. Und die kam zu diesem erschreckenden Resultat, das aus heutiger Sicht abstrus erscheint. Da ich persönlich zu diesem Zeitpunkt in meinem Leben nichts vermisste, war ich mir der Schwere meiner Verfehlung nicht bewusst. Ich kann kaum ermessen, wie groß die Erschütterung meines Vaters gewesen sein muss, dass etwas an meinem Menschsein fehlte. Seine Freude darüber, dass ich diese Scharte erfolgreich ausgemerzt habe und heute mit Singen mein Geld verdiene, hält sich komischerweise in engen Grenzen. Hätte ich einen normalen Beruf ergriffen, wäre ich wahrscheinlich nicht enterbt worden. Was sollen die Nachbarn bloß davon halten?
Nur durch den edelsten aller Elternwünsche, dass es das eigene Kind einmal besser haben soll, kann ich mir erklären, warum ich meinen Vater bis heute nicht ein einziges Mal habe singen hören! Ich würde gerne wissen, ob seine Singstimme meiner ähnlich ist. Sein pädagogisches Wissen weist eine ebenso große Lücke auf, wie sie das „Nicht-Singen“ in meine Persönlichkeit gerissen hat. Nämlich, dass Kinder nicht das tun, was man ihnen vorschreibt, sondern das, was man ihnen vorlebt! Aber ich verhielt mich wie die Hummel, die nur deswegen fliegt, weil sie nicht weiß, dass sie nach den Gesetzen der Aerodynamik gar nicht fliegen kann. Ich ignorierte die fehlende Pädagogik (Vormachen – Nachmachen; Papa singt vor – Sohn singt nach) und - sang! Eines Tages und ganz von allein.
Das ereignete sich so: Ich muss etwa sieben oder acht Jahre alt gewesen sein, als ich eines Abends nach dem Einschlafen wieder aufwachte, weil mir alle möglichen Melodien von bekannten Liedern im Kopf herumgingen. Diese Melodien fand ich so schön, dass ich begann ... zu singen! Ich tat das fasziniert eine ganze Weile für mich allein, bis ich mich daran erinnerte, dass meine Eltern genau das bisher so schmerzlich bei mir vermisst hatten. Also stand ich auf und taperte zu ihnen ins Wohnzimmer, um sie von ihrem Kummer zu erlösen. Oder war es purer Egoismus, dass ich endlich als vollwertiger Mensch anerkannt werden wollte?
Meine Eltern saßen wie üblich vorm Fernseher, und ich baute mich zwischen ihren beiden Sesseln, zwischen denen es immer einen „Sicherheitsabstand“ gab, auf und verkündete stolz: „Ich kann es jetzt!“ Und dann sang ich los. Ohne Pause. Bis mir nichts mehr einfiel. Ich kannte kein Lied komplett, immer nur die schönsten Zeilen (so wie mein Publikum heute), aber das war mir egal. Wenn ich nicht mehr weiter wusste, begann ich einfach ein neues, tolles Lied. Nicht von Anfang an, sondern ab irgendeiner Stelle, an die ich mich erinnern konnte.
Nach dem geschilderten langen Vorlauf einschließlich der Leidensgeschichte fiel das Feedback meiner Eltern erstaunlich nüchtern aus. Warum? Weil ihnen plötzlich bewusst wurde, wie peinlich es ist, ein kleines Kind zum Singen zu nötigen? Auf keinen Fall! Meine Eltern sind gläubige Menschen. Sie glauben an die genetische Disposition. Sie klopfen sich innerlich auf die Schulter, dass meine Schwester und ich allein wegen ihrer – und damit unserer – guten „Erbmasse“ in allen Belangen des Lebens auf der Gewinnerstraße sind. Einige Eltern feiern zum Beispiel das Abitur ihrer Kinder. Die Freude daran impliziert, dass ein Scheitern des Nachwuchses durchaus im Bereich des Möglichen gelegen hätte. Welch ein erniedrigender Gedanke! Unsere Eltern haben durchweg an uns geglaubt. Meine Schwester und ich haben beide ein Einser-Abitur hingelegt. Und das wurde aus dem geschilderten Grund zum Glück nicht gefeiert, sondern nur abgenickt.
Dass ich dann später trotz der guten Gene aus der bürgerlichen Existenz ausscherte und freiberuflicher Musiker wurde, traf meine Erzeuger darum umso härter. Mutationen werden durch radioaktive Strahlung aufs Erbgut ausgelöst. Sie sind überaus wichtig, da sie der Natur zu einer größeren Artenvielfalt verhelfen! In meinem konkreten Fall ist die Welt dadurch um einen mittelmäßigen Lehrer oder schlechten Architekten ärmer und um einen engagierten Musiker reicher geworden. Ich möchte meine Eltern samt ihrer Gene an dieser Stelle in Schutz nehmen. Sie trifft keine Schuld! Da ich „mutiert“ bin, ohne dass meine Eltern verstrahlt worden sind, muss es noch etwas anderes geben, das unseren Lebensweg bestimmt. Darüber möchte ich mich in diesem Buch gerne ausschweigen, weil sich dazu sehr viel schlauere Menschen seit über 2.000 Jahren den Kopf zerbrechen.
Darum zurück zu jenem schicksalhaften Tag. Hier wurden die Weichen für mein späteres Leben, wenn auch nicht gestellt, so doch zum ersten Mal sichtbar. Zum Glück jedoch nicht für meine Eltern, denn sonst wäre ihre Sorge (unser Filius singt nicht!) nur durch eine noch größere (unser Filius wird Musiker!) abgelöst worden. Ihr Drängeln muss sie nachträglich nicht quälen. Es hat garantiert nichts gebracht oder verschlimmert. Die Musik hat sich bei mir nicht normal verhalten. Sie ist vielleicht einen klitzekleinen Moment später, dafür aber umso extremer in mein Leben getreten. Das konnte keiner ahnen! Ich war damals aufgestanden, um meinen Erzeugern meinen „Lernfortschritt“ auf dem Weg zum „normalen Menschen“ zu demonstrieren. Aber eigentlich hatte ich mich als unnormal geoutet und vor ihnen mein allererstes Konzert gegeben.
Nachtrag: Dieses Kapitel schreit förmlich danach, auf ein aktuelles Einzelschicksal hinzuweisen. Martin Berger, von dem ich noch berichten werde, hat mir gebeichtet, dass er im fernen Helsinki meine CDs im „Giftschrank“ lagern muss. Anhören darf er sie nur, wenn er alleine ist. Denn (auch ohne sie zu kennen!) ist seine Frau sehr bekümmert, was meinen Gesang angeht: „Er hat ja immer noch nicht Singen gelernt.“