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Vogelzug – eine Geschichte voller Mythen und Beobachtungen

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Das Verschwinden und Wiederauftauchen von Vogelarten im Rhythmus der Jahreszeiten beflügelte seit alters her die menschliche Fantasie. Noch im 18. Jahrhundert glaubte man, dass Schwalben im Gewässerschlamm überwintern und der dem Sperber ähnlich gefiederte Kuckuck im Herbst zum Sperber mutiert. Selbst einer wie der große schwedische Naturforscher Carl von Linné (1707–1778) hielt noch an der Schwalbentheorie fest, obwohl kaum weniger renommierte Linnésche Zeitgenossen wie der Franzose L. De Buffon oder der Engländer Gilbert White die Schwalben und Mauersegler zu den Zugvögeln rechneten. Wieso aber konnte sich diese Vorstellung einer tiefen Verbindung der Schwalben zum Wasser so lange halten? Weil Rauchschwalben nach der Brutzeit zu Tausenden zum Schlafen in Schilfflächen einfallen und dann nach ihrem Wegzug nicht mehr zu sehen sind, war die Gewässerschlammtheorie durchaus naheliegend. Wenn ein schlecht ernährter Jungvogel einer Spätbrut aus der Kältestarre wieder „zum Leben erwachte“ oder ein vom Schilfhalm gefallener Vogel Fischern in die Netze ging, stützte das die Vorstellung vom Überwintern am Seegrund.

Dabei waren die jahreszeitlichen Wanderungen der Vögel durchaus schon viel länger bekannt. Sie finden bereits im Alten Testament Erwähnung sowie in den Werken griechischer und römischer Schriftsteller wie Homer, Anakreon, Hesiod, Aristophanes, Aristoteles, Plinius und anderen. In seiner Geschichte des Tierreichs setzt sich Aristoteles (384–322 v. Chr.) sehr gründlich mit den Zugvögeln auseinander, indem er drei Gruppen unterscheidet: 1. Vögel, die in andere Breiten wandern, 2. Vögel, die senkrecht wandern, das heißt solche, die „im Winter und bei kaltem Wetter“ von den Bergen in die Ebenen herunterkommen und „im Sommer“ in die Berge zurückkehren, und 3. Vögel, die bei kaltem Winterwetter überwintern, ohne auf Wanderschaft zu gehen. Bis dahin kann man dem alten Aristoteles bis heute durchaus folgen. Dagegen nicht mehr zeitgemäß ist seine Ansicht, dass ein großer Teil der Vögel der Kategorie der Daheimbleibenden angehört und dazu Milan, Storch, Turteltaube, Schwalbe, Lerche und Drossel zählen. Plinius (23 oder 24–79 n. Chr.) wiederum wusste vom Wegzug der Schwalben, nahm aber an, dass sie sich in Vertiefungen der Berge zurückziehen und man sie dort nackt und ohne Federn findet. Aristoteles wie Plinius erwähnen den ihnen vertrauten Kranichzug über Griechenland und Italien. Dagegen war einem Stadtmenschen wie Aristoteles die Verwandlung von Rotschwänzchen über den Winter in Rotkehlchen durchaus plausibel, weil Rotschwänzchen ab Herbst aus dem Stadtbild verschwanden und stattdessen dort Rotkehlchen auftauchten.

Immerhin hatten die Ansichten der antiken Gelehrten zum Vogelzug über 1000 Jahre Bestand – bis der „vogelverrückte“ Stauferkaiser Friedrich II., seiner Zeit eigentlich weit voraus, den Zug der Reiher, Greifvögel, Entenvögel und Kraniche untersuchte und in seinem weltberühmten Handbuch der Falknerei „De arte venandi cum avibus“ niederschrieb. Die Beobachtungen und Deutungen dieses ersten großen Ornithologen haben bis heute Gültigkeit. Für ihn waren schon damals äußere Auswirkungen wie Kälte und Nahrungsmangel die Ursachen für den Vogelzug. Friedrich II. beschreibt auch die Rückkehr der Zugvögel im Frühjahr in ihre Brutheimat, indem sie Nahrung und Wärme folgen, den Vogelflug und sogar, dass bei den in Keilformation fliegenden Kranichen sich die Führungsvögel abwechseln.

Die Ansicht von Aristoteles, dass der Storch in einem Starrezustand vor Ort überwintere, konnte trotzdem erst Ende des 15. Jahrhunderts korrigiert werden. Und dass Milane, Turteltauben, Wachteln und Schwalben Zugvögel sind, beschrieb Pierre Belon 1517 erst aufgrund seiner Erfahrungen anlässlich einer Reise durchs östliche Mittelmeergebiet. Arten wie dem versteckt lebenden, kaum fliegend zu beobachtenden Feuchtwiesenvogel Wachtelkönig sprach man lange seine Fähigkeiten als Zugvogel ab. In England sollte er sich im Winter in Ratten verwandeln, während die Tartaren dem Sibirienforscher Johann Georg Gmelin erklärten, die „Wiesenläufer“ würden von den ziehenden Kranichen auf deren Rücken mitgetragen.


7 Dem versteckt in Feuchtwiesen lebenden Wachtelkönig (hier: mit Jungen) traute man kaum das weite Ziehen mit eigenen Flügeln zu, sondern dichtete dem „Wiesenläufer“ das Mitfliegen auf dem Rücken der Kraniche an.

Dem Verschwinden der Vögel – und vor allem ihrem plötzlichen Auftauchen – maß man lange Zeit noch eine zusätzliche Bedeutung als Boten für kritische Ereignisse wie Kriege, Feuersbrünste und Seuchenzüge bei. Wenn plötzlich fremdartige Vögel mit seidigem Gefieder in ganzen Schwärmen auftauchten, sollten sie den Menschen gleich zweifaches Unglück bescheren. Als „Brandstifter“ warfen die Seidenschwänze aus ihren Schnäbeln angeblich Glut über den Häusern ab. Schon Plinius Secundus rätselt im 1. Jahrhundert n. Chr. über den Vogel, der brandstiftend Kohle aus Opferherden oder Altären wegtrage und den man daher folgerichtig als „Brandvogel“ oder „spinturnix“ (Funkenvogel) bezeichnete. Doch mit der brennenden Stadt war der Unglücksgipfel vermeintlich längst noch nicht erreicht. Im Gefolge dieser Fremdlinge, von den Menschen auch „Böhmer“, mittelhochdeutsch „bemlin“ bezeichnet, weil sie aus Böhmen zu kommen schienen, kam angeblich die fürchterlichste aller Krankheiten: die Pest. Der italienische Gelehrte Ulysses Aldrovandi erwähnt in seiner Ornithologie (1599, 1600, 1603) mehrere Fälle, in denen Seidenschwänze in seiner Heimat als Verkünder schwerer Pestepidemien erschienen seien. In Deutschland erinnert Johann Conrad Altinger (1626) in seinem „Bericht von dem Vogelstellen“ an diesen Aberglauben und stellt allerdings die Ansicht vieler Leute infrage, dass, wann immer diese Vögel auftauchen, dies ein besonderes Omen sei. Bei solch schlechtem Ruf verwundert es nicht, dass der Seidenschwanz in Österreich, in der Schweiz und in Schwaben „Pestvogel“, in Bayern „Pestdrossel“, in der Schweiz auch „Sterbevögeli“, „Toten- und Kriegsvogel“ und in Italien „Uccello della guerra“ (Kriegsvogel) genannt wird. Die Pestärzte des 17. Jahrhunderts trugen außer schwarzen Kutten und Hüten auf ihren Gesichtern maskenhafte Schnäbel. Diese sollten wohl dem Prinzip dienen, Gleiches mit Gleichem zu bekämpfen. Nicht nur der Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges fiel 1618 mit einer verbürgten Seidenschwanzinvasion zusammen. Auch im Herbst 1913 tauchten Seidenschwänze nach langer Zeit wieder einmal in der Schweiz auf und sollen damit den Ausbruch des Ersten Weltkrieges angezeigt haben.


8 Die roten Hornplättchen in den Schwingen des Seidenschwanzgefieders deutete die menschliche Fantasie zu Flämmchen um. Die Vögel wurden so zu Brandstiftern erklärt.

Warum aber wird ausgerechnet ein so hübscher Vogel wie der Seidenschwanz zu einem solchen Schreckensboten? Die Erklärung scheint ebenso einfach wie plausibel: Seidenschwänze tauchen bei uns selten und unregelmäßig auf, sind dann aber unübersehbar. Wenn zeitnah mit ihrem Auftauchen Schrecknisse wie Pest, Krieg, Hungersnot oder Feuersbrunst zusammenfallen, sind sie als Verursacher leicht ausgemacht. Zwar wurden andere Vogelarten mit den Farben Rot (Flamme) oder Schwarz (Kohle) im Gefieder auch schon mit Bränden in Verbindung gebracht, von Rotkehlchen über Hausrotschwanz bis Weißstorch, Raben und Schwalben. Über ein Merkmal verfügt der Seidenschwanz allerdings exklusiv: Seine ungewöhnlichen roten Hornplättchen in den Schwingen wurden in der menschlichen Fantasie zu Flämmchen, mit denen der nordische Vogel zündeln konnte. Die auch „Zinzerle“ oder „incendiaria“ (Anzündvogel, Brandstifter) genannten Seidenschwänze kommen aber nicht als Brandstifter oder Verkünder eines bevorstehenden Unheils zu uns. Wenn ihre Beerennahrung fehlt und die Seidenschwanzbestände in der Taiga zu groß sind, unternehmen sie nach der Brutzeit in Trupps und in ganzen Schwärmen ihre invasionsartigen Wanderungen über die Britischen Inseln und Mitteleuropa bis in den Mittelmeerraum, um hier an den beerentragenden Bäumen und Büschen in Gärten, Parks und Friedhöfen satt zu werden. Somit können Seidenschwänze durch ihr Auftauchen bei uns zumindest verkünden, wie es aktuell um ihre Bestandsentwicklung und die Nahrungsgrundlage im fernen Brutgebiet bestellt ist.


9 Seidenschwänze (Bombycilla garrulus) tauchen im Winter bei uns als Invasionsvögel unregelmäßig und in ganzen Schwärmen auf.

Es war schließlich Olaus Magnus (1490–1557), der zum Ende des Mittelalters viele Beobachtungen zu Zugvögeln, wie Schwarzstörche und Kraniche, aus Schweden niederschreibt. Aus der Neuen Welt kam erstmals die Kunde vom Vogelzug durch Oviedo mit seiner Naturgeschichte der spanischen Gebiete Amerikas (1526–1536) und der Beschreibung des gewaltigen Vogelzugs über Kuba und Panama. Als früher Verhaltensforscher entwickelte Baron Ferdinand Adam von Pernau (1660–1731) bereits 1702 die Vorstellung, dass nicht direkt durch Hunger und Kälte ein Zugvogel zum Aufbruch veranlasst wird, sondern „durch einen verborgenen Zug zur rechten Zeit getrieben werde“, er also einen inneren Instinkt als vorgegebene Verhaltensweise habe. Auch Hermann Samuel Reimarus (1760) und John Legg (1780) stellten weitere Überlegungen zur inneren (endogenen) Kontrolle des Zugverhaltens an, indem sie annahmen, dass sich bei den Vögeln vielfach zu bestimmten Zeiten eine Art vorprogrammiertes „Zugweh“ einstelle oder sie einer „inneren Kenntnis“ folgten.

Doch erst durch die systematischen Beobachtungen ab dem 19. Jahrhundert wurde das Phänomen des Vogelzugs alter Ansichten und Mythen endgültig beraubt. Wobei die Erkenntnisse aus der modernen Zugvogelforschung kaum weniger wunderbar sind. Doch bevor wir uns der weiteren Geschichte der Erforschung des Vogelzugs bis hin zu den neuesten Erkenntnissen widmen, sei noch die Frage geklärt, wodurch sich der Vogelzug vom bloßen Umherfliegen der Vögel zum Stillen ihrer Grundbedürfnisse wie Nahrungssuche, Fortpflanzung und Ruhen unterscheidet. Als Vogelzug werden im engeren Sinn die regelmäßigen Pendelbewegungen der Vögel im Jahresverlauf zwischen ihrem Brutgebiet und dem Ruheziel (Winter- oder Ruhequartier) bezeichnet. Weil diese Wanderungen jährlich stattfinden, spricht man auch von Jahreszug. Wegen der saisonalen Änderungen, die wesentliche Auswirkungen auf die Tiere haben, findet der Wegzug aus dem Brutgebiet bei uns im Herbst statt und wird deshalb auch als Herbstzug bezeichnet. Für die Rückkehr der Vögel im Frühjahr in ihr Brutgebiet, den Heimzug, wird oft auch der Begriff Frühjahrszug gebraucht. Weil Vogelzüge weltweit über das ganze Jahr stattfinden, sind die Begriffe Weg- und Heimzug im Sinne von „weg aus dem Brutgebiet“ und „heim ins Brutgebiet“ unabhängig von Regionen mit ausgeprägten Jahreszeiten universell verwendbar und so für alle Jahreszüge von Vögeln passend.

Auch weniger regelmäßige Wanderungen von Vögeln lassen sich im erweiterten Sinn als Vogelzug verstehen. Dazu zählen Invasionen, Nomadenwanderungen, Ausbreitungsbewegungen, Folge- und Fluchtbewegungen, der Teilzug sowie Dispersionswanderungen, auch Dismigration genannt. Letztere sind Zerstreuungswanderungen ohne feste Richtung vor allem von Jungvögeln über das engere Brutgebiet hinaus. Abmigration (Auswanderung) ist ein Verhalten vor allem bei Enten. Nach der Verpaarung im Ruheziel (Winter- oder Ruhequartier) „ent“führt ein Partner den anderen in ein zum Teil weit entlegenes Brutgebiet. Wobei unter „Ruhe“ im Ruheziel nicht Inaktivität zu verstehen ist. In dieser Phase sind die Vögel vor allem mit der Nahrungssuche und -aufnahme beschäftigt. Es kommt aber auch schon – wie bei den Enten – zu Verhaltensweisen, die bereits zum Fortpflanzungsgeschäft zählen. Letztlich können alle Vogelbewegungen (-wanderungen), die über die täglichen Ortsveränderungen dieser von Haus aus sehr mobilen Tiere hinausgehen, damit auch die Verdriftung, als Vogelzug betrachtet werden. Beispiele für all diese Wanderbewegungen folgen in späteren Kapiteln.


10 Das „Entführen“ des Stockentenweibchens durch den Partner vom Balzgewässer in das oft weiter entfernte Brutgebiet wird als Abmigration (Abwandern) bezeichnet.

Vogelzug

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