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Vogelzug als Lebensform

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Die Theorien zur Entstehung des Vogelzugs sind zahlreich. Peter Berthold, einer der renommiertesten und prominentesten Zugvogelforscher, zitiert in seiner Gesamtübersicht zum Vogelzug (Berthold 2012) acht Kategorien, in denen von Rappole (1995) alle bekannten Ursachen des Vogelzugs zusammengefasst werden:

1. weit zurückliegende Änderungen von Umweltbedingungen, vor allem bewirkt durch frühere Eiszeiten, Meeresspiegelschwankungen oder Kontinentaldrift bei der Entstehung der heutigen Kontinente

2. Klimaänderungen in neuerer Zeit, vor allem nach den letzten Eiszeiten

3. proximate (unmittelbare, aktuell verhaltensregulierende) Faktoren verschiedener Art, vor allem Vorläufer sich anbahnender größerer Umweltänderungen

4. anderswo, in mehr oder weniger großer Entfernung zeitweilig zur Verfügung stehende günstige Ressourcen

5. jahreszeitliche Nutzung von Früchten und Nektar in einer Reihe von Gebieten mit zeitlicher Abfolge im Nahrungsangebot

6. Saisonalität von Ressourcen in Verbindung mit einer interspezifischen (zwischenartlichen) Konkurrenz

7. Saisonalität von Ressourcen in Verbindung

mit intraspezifischer (innerartlicher) Konkurrenz (Dominanzeinflüsse)

8. Zugschwellenhypothese, die postuliert, jeder Organismus habe eine genetisch determinierte (festgelegte) „Zugschwelle“, sodass sich verschlechternde Umweltbedingungen ab einer bestimmten Grenze zum Wegzug führen


36 Mornellregenpfeifer sind Bodenbrüter in der baumlosen Tundra Nordeuropas. Sie profitieren dort von den langen Tagen und dem geringeren Feinddruck.

Die Vogelforscher und Evolutionsbiologen nehmen heute übereinstimmend an, dass der wesentliche Schrittmacher für Vogelwanderungen die Nahrung ist. Die jahreszeitlich bedingte Verknappung von Nahrung, beispielsweise der Rückgang von Insekten in den höheren geografischen Breiten im Winterhalbjahr, veranlasst insektenfressende Arten wie Schwalben oder Mauersegler zum saisonalen Wegzug. Andererseits werden Gebiete aufgesucht, die für das Brutgeschäft besonders günstige Bedingungen bieten. So profitieren Gänse und Schnepfenvögel und andere Vögel in der sommerlichen Tundra mit ihren extremen Tageslängen vom reichen Nahrungsangebot praktisch rund um die Uhr. Zudem ist dort der Feinddruck wegen des Vorhandenseins nur weniger Fressfeinde relativ gering. Solche Anpassungen wirken mittelbar, indem sie einen Selektionsvorteil bieten bei der Weiterentwicklung der Arten durch allmähliche Veränderung der vererbbaren Merkmale einer Population von Generation zu Generation. Den Individuen, die das Wanderverhalten weitervererben, winkt dadurch ein größerer Fortpflanzungserfolg.

Neben den mittelbaren Umweltfaktoren, spielen für den Vogelzug unmittelbare, aktuell das Verhalten regulierende Umwelteinflüsse eine Rolle. Dazu zählen die jahreszeitlichen Änderungen der Tageslichtdauer (Fotoperiode), Wetterfaktoren (Klima) und die Populationsdichte (Abundanz).

Die frühere Annahme, dass der Vogelzug den Eiszeiten oder der Kontinentalverschiebung seine Entstehung verdankt, wird heute durch die Vorstellung abgelöst, dass der Vogelzug sehr viel älter ist, nämlich fast so alt wie die Vögel selbst. Danach soll er sich bereits unter den Vögeln entwickelt haben, die ursprünglich in den Tropen oder unter subtropischen Bedingungen lebten. Durch Mutation (Verhaltenssprung) seien mehrfach und unabhängig voneinander aus Standvögeln Zugvögel geworden. Die neueste Theorie zur Entwicklung, Steuerung und Anpassungsfähigkeit des Vogelzugs nimmt an, dass sich der Vogelzug aus dem Teilzug entwickelt hat. Der Teilzug, bei dem ein Teil einer Population im Brutgebiet bleibt, während ein anderer Teil regelmäßig wegzieht, ist die weitaus häufigste Lebensform heute lebender Vogelarten. Teilzieher kommen auf allen Kontinenten und unter allen Vogelgruppen vor. Auch ist der Teilzug als Lebensform eine ursprüngliche, entwicklungsgeschichtlich sehr alte Lebensweise, die bei allen Wirbeltierklassen und vielen Nichtwirbeltieren und selbst bei Pflanzen vorkommt. Wahrscheinlich haben Vögel die Fähigkeit zum Teilzug bereits als Erbe ihrer Vorfahren mitbekommen. Damit sind sie bereits von Anfang an mit Erbanlagen ausgestattet, die sie sowohl zum Ziehen wie zum Nichtziehen befähigen. Das Verhältnis beider Gentypen zueinander entscheidet, ob ein Individuum eher Stand- oder Zugvogel ist. Der Selektionsdruck durch Umweltfaktoren kann in Teilzieherpopulationen die Anteile von Zug- und Standvögeln innerhalb weniger Generationen stark verschieben. Im Experiment gelang es Forschern aus einer Teilzieherpopulation von Mönchsgrasmücken aus Südfrankreich in nur drei bis sechs Generationen sowohl reine Stand- wie reine Zugvögel zu züchten. Damit ist der Beweis erbracht, dass Vogelpopulationen ihr Zug- oder Standvogelverhalten schnell an neue Umweltbedingungen anpassen. Diese Plastizität kann uns etwas optimistisch stimmen, wenn es um die Frage geht, wie Vögel auf die derzeitige Klimaänderung in Form einer globalen Klimaerwärmung reagieren.


37 Kreuzungsexperimente unter Mönchsgrasmücken aus unterschiedlichen Populationen zeigen, dass sich das Zugverhalten innerhalb weniger Generationen züchterisch rasch verändern lässt. Womit bewiesen ist, dass sich die Vögel in ihrem Zugverhalten unter geänderten Umweltbedingungen (wie dem Klimawandel) rasch anpassen können.

Eine weitere verblüffende Erkenntnis der Forscher ist, dass im Extremfall Vögel vom Typ „Teilzieher“ so stark in eine Richtung selektiert werden können, dass ihre Populationen äußerlich (phänotypisch) entweder als reine Zugvögel oder aber als reine Standvögel erscheinen. Trotzdem „schlummern“ in ihnen noch Gene für die andere Verhaltensweise (im Genom oder mindestens im Genpool). Das zeigt, dass der potenzielle (genotypische) Teilzug ein quantitativ wirksames genetisches Merkmal ist.


38 Großtrappen (Otis tarda). Die europäischen Brutvögel dieses ursprünglichen Steppenvogels leben in kleinen, isolierten Populationen in ausgedehnten, offenen Kulturlandschaften. Nach der Brutzeit schließen sich die Weibchen mit ihrem Nachwuchs oft zu Trupps zusammen. Die weit größeren, bis 18 kg schweren Männchen zählen zu den schwersten flugfähigen Vögeln der Welt. Die europäischen Populationen der Großtrappe ziehen nicht, sondern wechseln manchmal nur in nahe gelegene Wintereinstandsgebiete. Allerdings kann es in extremen Wintern zu sogenannten „Winterfluchten“ kommen. Dann tauchen Großtrappen weiter westlich und weitab von ihren Verbreitungsgebieten auf. Schon manch einer dieser „Winterflüchtigen“ wurde von Jägern geschossen, weil sie das Tier mit einer Gans verwechselten.

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