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b) Der Vertrauensgrundsatz als tragendes Leitprinzip zur Abgrenzung der Verantwortlichkeit und Begrenzung der jeweiligen Sorgfaltspflichten

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Aus dem Prinzip der strikten – horizontalen und vertikalen – Arbeitsteilung folgt zugleich – als Kehrseite des Grundsatzes der Eigenverantwortlichkeit –, dass jeder bei der Krankenbehandlung Mitwirkende sich darauf verlassen darf, dass der oder die anderen den ihm bzw. ihnen obliegenden Aufgabenanteil mit den dazu erforderlichen Kenntnissen und der gebotenen Sorgfalt erfüllen. Jeder an der Behandlung des Patienten, gleich in welcher Funktion, Beteiligte darf darauf vertrauen, dass der mitbeteiligte andere seine Aufgabe beherrscht und seine Verantwortung wahrnimmt. „Das Vertrauen darauf, dass der andere seine Pflicht tun werde, ist so lange nicht pflichtwidrig, als weder die für den Vertrauenden maßgebende Erfahrung noch seine besonderen Wissensmöglichkeiten ihm das Vertrauen zu erschüttern brauchen“[70]. Mit den Worten des BGH:

„Jeder Arzt hat denjenigen Gefahren zu begegnen, die in seinem Aufgabengebiet entstehen. Solange keine offensichtlichen Qualifikationsmängel oder Fehlleistungen erkennbar werden, muss er sich aber darauf verlassen dürfen, dass auch der Kollege des anderen Fachgebiets seine Aufgaben mit der gebotenen Sorgfalt erfüllt. Eine gegenseitige Überwachungspflicht besteht insoweit nicht“. [71]

Dies ist der Inhalt des Vertrauensgrundsatzes, des zweiten tragenden Leitprinzips zur Abgrenzung der Verantwortlichkeit und damit zur sachgerechten Begrenzung der jeweiligen Sorgfaltspflichten[72].

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Nur ausnahmsweise dann, wenn der Partner in der konkreten Situation erkennbar seinen Aufgaben nicht gewachsen ist, sich z.B. infolge Trunkenheit, Krankheit, Überforderung oder Erschöpfung in einer Verfassung befindet, die ihm nicht mehr gestattet, seine Aufgaben ordnungsgemäß zu erfüllen, oder wenn aufgrund bestimmter Anhaltspunkte „ernsthafte Zweifel an der Ordnungsgemäßheit der Vorarbeiten des Kollegen erkennbar“ sind, ist der Vertrauensgrundsatz aufgehoben[73]. An die Stelle der grundsätzlichen Eigenverantwortung jedes Beteiligten für seinen Teilbereich tritt dann für den an sich nicht zuständigen Arzt in solchen Ausnahmesituationen die Gesamtverantwortung für das Ganze der zum Wohle des Patienten entfalteten, in verschiedener Hand liegenden ärztlichen Tätigkeit. Denn in derartigen extremen Ausnahmefällen bleibt natürlich jeder Arzt – unabhängig von seiner jeweiligen Fachkompetenz und Aufgabenstellung – aufgrund seiner Verantwortung dem Patienten gegenüber verpflichtet, den diesem aus einer offenkundigen bzw. erkennbaren Fehlleistung seines Kollegen oder des Pflegepersonals drohenden Schaden abzuwenden. Hier endet das berechtigte Vertrauen, und die (eigene) strafrechtliche Pflichtverletzung beginnt. Dabei sind die Anforderungen an die Geltung des Vertrauensschutzes umso höher, je größer das Risiko eines Behandlungsfehlers und die daraus resultierende Gefährdung des Patienten ist.[74]

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Der Vertrauensgrundsatz bedarf ferner dort einer Einschränkung, wo „das besondere Risiko der Heilmaßnahme gerade aus dem Zusammenwirken zweier verschiedener Fachrichtungen und einer Unverträglichkeit der von ihnen verwendeten Methoden oder Instrumente“ folgt. Insoweit gilt bei arbeitsteiliger Krankenbehandlung ein weiteres Grundprinzip: die Koordinierungspflicht.

Beispiel:

Bei einer sog. Schieloperation führte der Anästhesist lege artis eine Ketanest-Narkose durch, bei der der Patient reinen Sauerstoff in hoher Konzentration erhält, während der Augenarzt zur Blutstillung einen Thermokauter einsetzte, mit dem verletzte Gefäße durch Erhitzung verschlossen werden. Beim Kautern kam es zu einer heftigen Flammenentwicklung, durch die das Kind schwere Verbrennungen im Gesicht erlitt.

Der BGH betonte in seiner Entscheidung, der Anästhesist habe den Erfordernissen des operativen Vorgehens Rechnung zu tragen und müsse seinerseits über die Wahl des anästhesiologischen Verfahrens im Benehmen mit dem Operateur entscheiden. Da „das Wohl des Patienten oberstes Gebot und Richtschnur sei“, müsse für die Zusammenarbeit zwischen den beteiligten Ärzten der Grundsatz gelten, dass diese „den spezifischen Gefahren der Arbeitsteilung entgegenwirken müssen und es deshalb bei Beteiligung mehrerer Ärzte einer Koordination der beabsichtigten Maßnahmen bedarf, um zum Schutze des Patienten einer etwaigen Unverträglichkeit verschiedener von den Fachrichtungen eingesetzter Methoden oder Instrumente vorzubeugen“.[75] Aus dem arbeitsteiligen Zusammenwirken folgt also die Verpflichtung zu gegenseitiger Information und Abstimmung, um vermeidbare Risiken für den Patienten auszuschließen, auch „wenn insoweit keine ausdrückliche Vereinbarung“ besteht.[76]

Allerdings stellt einen (zivilrechtlich: groben) Behandlungsfehler von Anästhesist und Chirurg dar, wenn beide zutreffend erkennen, dass bei einem Patienten mit Blutgerinnungsstörung zur Vermeidung eines Blutungsgeschehens bei operativer Behandlung unter Durchführung einer Spinalanästhesie die – operative und anästhesiologische – Indikation zur Gabe eines die Blutungszeit verkürzenden Präparats besteht, jedoch versäumen, koordiniert sicherzustellen, dass dieses Präparat präoperativ verabreicht wird.[77]

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Die vorgenannten Grundsätze der horizontalen Arbeitsteilung finden „nur bei der gleichzeitigen Behandlung durch Ärzte unterschiedlicher Fachrichtungen oder gleicher Fachrichtung mit besonderen Spezialkenntnissen“ Anwendung,[78] nicht aber bei bloß „zeitlicher Nachfolge von Ärzten des gleichen Fachs“. In diesen Fällen „hat der nachfolgende Arzt Diagnose- und Therapiewahl seines ‚Vorgängers‘ eigenverantwortlich zu überprüfen“.[79] Wenn sich also ein Radiologe die von einem anderen Radiologen zuvor gefertigten Röntgenaufnahmen nicht genau ansieht, sondern dessen Diagnose ungeprüft übernimmt, obwohl er eine Bruchlinie auf den Röntgenbildern und damit eine Stauung der Wirbelsäule hätte erkennen können,[80] trifft ihn der Vorwurf eines Behandlungsfehlers.

Arztstrafrecht in der Praxis

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