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bb) Strafrechtliche Verantwortlichkeit von Leitungszuständigen
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„Wegen eines Fahrlässigkeitsdeliktes (fahrlässige Körperverletzung, fahrlässige Tötung) kann zunächst einmal jeder zur Verantwortung gezogen werden, der mitursächlich für die Herbeiführung eines Erfolgs ist, soweit sorgfaltswidriges (unerlaubtes) Verhalten den Erfolg verursacht hat“.[22] Demgemäß ist die Frage aufzuwerfen, wie es um die strafrechtliche Verantwortlichkeit von Klinikträgern bzw. ihren Organwaltern (z.B. Geschäftsführern) steht, die etwa unter Hinweis auf „fehlende finanzielle Mittel“[23] keine quantitativ und/oder qualitativ gebotene Personalaufstockung, Herstellung adäquater räumlicher Kapazitäten oder Vorhaltung erforderlichen Equipments genehmigen, weshalb auf ihnen nachgeordneten Organisationsebenen bzw. in der Linie im Rahmen möglicher Infrastruktur „behelfsmäßig“ bzw. „den Mangel verwaltend“ gearbeitet werden „muss“. Insofern ist rechtspraktisch in der Tat zu konstatieren, dass in der Spitze Führungsverantwortliche von Kliniken von strafrechtlicher Verfolgung – schon im Sinne dahingehender Ermittlungen – regelmäßig ausgenommen sind.[24] So besteht für die genannten Leitungsverantwortlichen zwar grundsätzlich die „Pflicht zur Vermeidung organisationsbedingter Sorgfaltspflichtverletzungen“, woraus eine „(Neben-)Täterschaft“ im Hinblick auf die Tatbestände der §§ 222 und 229 StGB resultieren kann,[25] doch bleibt dieser Aspekt bei strafrechtlichen Ermittlungen fast durchgängig außer Betracht.
Dieser Befund findet sichtbaren Ausdruck in folgendem Vermerk einer Staatsanwaltschaft:
„Die von dem Beistand des Sohnes der Verstorbenen erhobenen Vorwürfe sind nicht geeignet, das Verfahren gegen den Leiter der Klinik auszudehnen. Dass beide Beschuldigten über 12 Stunden im Dienst waren, ist im Krankenhausbetrieb alltägliche Routine. Das Personal erlebt diese langen Schichten regelmäßig, so dass es daran gewöhnt ist. Der Klinikleiter hat von den Beschuldigten nur das im Krankenhaus Vertretbare verlangt. Eine Mitschuld ist nicht ersichtlich, so dass das Ermittlungsverfahren nicht zu erweitern ist.“ [26]
Verfahrensgegenständlich war der Vorwurf fahrlässiger Tötung infolge der Transfusion von Fremdblut mit inkompatibler Blutgruppe ohne vorgängige Verträglichkeitsprüfung durch eine Anästhesiefachschwester auf Anordnung der Anästhesistin im Rahmen eines nächtlichen Notfalleingriffs.
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Vor diesem rechtspraktischen Hintergrund gestaltet sich ein Urteil des Amtsgerichts Köln vom 16.5.2012[27] unter verschiedenen Aspekten außerordentlich bemerkenswert:
Infolge der Transfusion einer Blutkonserve mit inkompatibler Blutgruppe verstarb der Patient trotz einer Blutaustauschtransfusion und intensivmedizinischer Maßnahmen. Die Blutkonserve war von einer Assistenzärztin, die nach ihrer Approbation erst 8 1/2 Monate im Klinikum angestellt war, vorgenommen worden. Zum Zeitpunkt der Transfusion hatte sie in der Klinik eine 63-Stunden-Woche mit anschließendem mehr als 12-stündigem ununterbrochenem Notdienst hinter sich, wobei sie aktuell mehrere Maßnahmen für verschiedene Patienten gleichzeitig zu überwachen hatte. Dabei entging ihr die Verwechslung, da durch das Labor zwei Blutkonserven für zwei verschiedene Patienten gleichzeitig ausgehändigt worden waren. Die Konserven selbst ermangelten einer Blutgruppenkennzeichnung. Diese ergab sich vielmehr aus dem Begleitdokument, dass in unübersichtlicher Art und Weise mit einer Vielzahl von Daten gestaltet war.
Die Angeklagte räumte den ihr angelasteten Sachverhalt ein, wobei sich das Gericht in der Hauptverhandlung davon Überzeugung verschaffen konnte, dass sie das Geschehen aufs Schwerste beeindruckt hat, worunter sie auch nach wie vor litt. Der vernommene Sachverständige bezeichnete erhebliche strukturelle Mängel in der Krankenhausorganisation, „die fast zwangsläufig zu einem Versagen der Angeklagten führen mussten“ (Dienstplangestaltung, Übermüdung, gemäß Ausbildungsstand inadäquate Aufgabenzuweisung, insbesondere mangelnde Schulung zur Durchführung einer Bluttransfusion; insofern hatte sich die Klinikverwaltung am Tag nach den Vorkommnissen von der Angeklagten die inhaltlich unzutreffende Erklärung unterschreiben lassen, dass sie eine entsprechende Fortbildung erhalten habe).
Im Ergebnis urteilte das Schöffengericht, dass die Angeklagte einer fahrlässigen Tötung schuldig sei. Allerdings sah es von einer Bestrafung ab, was nach § 60 StGB möglich ist, „wenn die Folgen der Tat, die den Täter getroffen haben, so schwer sind, dass die Verhängung einer Strafe offensichtlich verfehlt wäre“ (sofern der Täter für die Tat nicht eine Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr verwirkt hat). Dafür war u.a. maßgeblich, dass sich die persönliche Vorwerfbarkeit des Versagens der Angeklagten „am untersten Rand des Denkbaren“ halte und sie „durch die Struktur ihres Dienstes in eine Situation gebracht [worden war], in der sie dank ihres allgemeinen Erschöpfungszustandes kaum noch in der Lage war, ihre Verantwortlichkeit angemessen wahrzunehmen“. Nicht zuletzt angesichts ihrer psychischen Belastungen, die in der Entscheidung näher ausgeführt sind, sei eine Anwendung von § 60 StGB geboten.[28]
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Die Entscheidung des Amtsgerichts Köln verdient in ihrer Konsequenz Beachtung: Einerseits erfolgte auf der Grundlage der in Deutschland geltenden Rechtslage potentieller Strafbarkeit ärztlichen Agierens[29] ein Schuldspruch, dem andererseits auf der Rechtsfolgenseite durch das Absehen von Strafe unter Anwendung von § 60 StGB die Schärfe genommen wurde.[30]