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a) Teilbarkeit der Verantwortungsbereiche: Prinzip der Einzel- und Eigenverantwortlichkeit
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Bis Ende der 50er-/Anfang der 60er-Jahre des vorigen Jahrhunderts galt die „klassische“, in der Tradition verwurzelte Auffassung von der Unteilbarkeit ärztlicher Verantwortung für den Patienten. Dementsprechend kam Engisch – bezogen auf das Verhältnis Chirurgie/Anästhesie – zu dem Ergebnis, „ungeachtet der Berechtigung, sich in gewissen Grenzen auf den Narkosefacharzt und sein einwandfreies Funktionieren zu verlassen“, müsse „im Interesse des dem Operateur sich anvertrauenden Patienten die allgemeine Sorgfaltspflicht und Verantwortlichkeit des Chirurgen vor wie während wie nach der Operation bei Bestand“ bleiben und „suprema lex“ sein.[62] Die Verantwortung des Operateurs, heißt es an anderer Stelle, sei
„nach der heute herrschenden rechtlichen Auffassung immer noch eine so allumfassende, dass sie ungeachtet der Geltung des Vertrauensgrundsatzes niemals in irgendeinem Sektor schlechthin entfällt, denn „Teilung“ der Verantwortung würde bedeuten, dass es einen Bereich gibt, um den sich der Chirurg unter gar keinen Umständen zu kümmern hätte, in dem der Anästhesist ausschließlich die Verantwortung trägt. Einen solchen Bereich gibt es aber nicht“. [63]
Judikatur und rechtswissenschaftliches Schrifttum haben sich jedoch – angeführt durch ein Gegengutachten von Weissauer aus dem Jahre 1961 – in eine andere Richtung entwickelt. An die Stelle der Unteilbarkeit der ärztlichen Verantwortung ist „in der modernen Organisationsform eines partnerschaftlichen Zusammenwirkens von wissenschaftlich ausgebildeten Vollspezialisten“[64] und (oder) qualifiziertem ärztlichen und (oder) nichtärztlichen Personal die Teilbarkeit der Verantwortungsbereiche als tragender Grundgedanke getreten. Es gilt das Prinzip der Einzel- und „Eigenverantwortlichkeit jedes der Spezialisten“[65] für alle ihnen jeweils zu eigenständiger Erledigung übertragenen Aufgaben und Tätigkeiten. Mit dem Übergang der fachlichen Zuständigkeit, für die das Weiterbildungsrecht die Grundlage bildet, geht auch die rechtliche Verantwortung über. Die ärztliche Zusammenarbeit ist, wie Weissauer treffend formuliert,[66] ein „Teamwork“, sei es (horizontal) Gleichberechtigter oder (vertikal) in einem Über- bzw. Unterordnungsverhältnis zueinander Stehender. Dessen Grundlage ist einerseits die medizinisch exakt umrissene und nach „Maßgabe von Gebietsbezeichnungen, berufsständischen Vereinbarungen und der konkreten Rollenverteilung“[67] erfolgte Aufgabenzuweisung, andererseits die entsprechende Aufteilung der strafrechtlichen Verantwortung für den jeweiligen Fachbereich bzw. die dem Einzelnen aufgrund seiner Ausbildung oder Funktion zugewiesene Tätigkeit. Dies entspricht dem Grundsatz, dass strafrechtliche Schuld höchstpersönliches, individuelles, eigenes Verschulden voraussetzt und im Rahmen arbeitsteilig organisierter Bereiche daher geprüft werden muss, wer für welchen Vorgang oder welche Maßnahme zu welchem Zeitpunkt zuständig und verantwortlich war. „Jeder Arzt hat grundsätzlich nur den Facharztstandard desjenigen medizinischen Fachbereichs zu gewährleisten, in den die von ihm übernommene Behandlung fällt“.[68] Strafrechtliches Einstehenmüssen für fremdes Verschulden ist unserer Rechtsordnung fremd.
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Ein instruktives Beispiel hierfür ist ein vom OLG Zweibrücken[69] entschiedener Fall:
Im Rahmen eines nicht planmäßigen Geburtsverlaufs scheiterte die zunächst durchgeführte Zangengeburt infolge eines (relativen) Missverhältnisses zwischen Beckenausgang und kindlichem Kopf, so dass ein gewisser Zeitdruck entstand und eine Notschnittentbindung im Operationssaal notwendig wurde.
Als der Gynäkologe den ersten Operationsschnitt setzte, stellte er sogleich fest, dass die Wunde nicht blutete, was auf einen Zusammenbruch des Kreislaufs hindeutete. Auch der Anästhesist bemerkte jetzt, dass die Patientin zyanotisch geworden war, so dass er sie extubierte und über die Maske mit reinem Sauerstoff beatmete. Dennoch gelang es ihm nicht, die Vitalfunktionen der Patientin wiederherzustellen. Auch die Herzdruckmassage blieb erfolglos, so dass kurze Zeit später der Tod der Patientin eintrat, während das Kind gesund geboren wurde.
In Übereinstimmung mit den Gutachtern stellte der Senat fest, „dass bei der Behandlung der Patientin durch den Anästhesisten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zahlreiche Fehler unterlaufen sind“, deren Ursächlichkeit allerdings zweifelhaft war. Dennoch wurde Anklage erhoben, diese aber letztlich nicht zugelassen.
Mit Recht verneinte das OLG Zweibrücken gegenüber dem Gynäkologen den hinreichenden Tatverdacht. Denn ihm könne „unter Berücksichtigung der organisatorischen Trennung der Gynäkologischen und der Anästhesie-Abteilung nicht zum Vorwurf gemacht werden“, dass er „sowohl mit der Zangengeburt als auch mit der Sectio begonnen habe, ohne auf die Hinzuziehung eines anderen Anästhesisten oder wenigstens der Anästhesieschwester zu bestehen“, sondern die Herstellung der Vitalfunktionen dem dafür zuständigen Anästhesisten überlassen hat, den er weder namentlich noch persönlich kannte. Nach dem Grundsatz der strikten Arbeitsteilung betrafen diese Maßnahmen nämlich den anästhesiologischen Fachbereich, und es lagen keine besonderen Umstände vor, die dem Gynäkologen den Schluss hätten nahelegen müssen, dass das Vorgehen des Anästhesisten offensichtlich unrichtig und daher Zweifel an seiner fachlichen Qualifikation geboten waren.
Abgesehen davon ging es für den Gynäkologen in dem Zeitraum, in dem sich der Narkosezwischenfall ereignete, entscheidend darum, das Kind zu entwickeln und dessen Leben zu retten.
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Es lassen sich je nachdem, wer bei der Kooperation im Rahmen der Krankenbehandlung zusammenwirkt, praktisch insbesondere sechs typische Fallkonstellationen bilden:
1. | die interdisziplinäre ärztliche Zusammenarbeit zwischen Fachärzten verschiedener Gebiete als solche; |
2. | die Zusammenarbeit zwischen dem Facharzt für Allgemeinmedizin (Hausarzt) und anderen Fachärzten; |
3. | die Zusammenarbeit zwischen niedergelassenem Arzt und Krankenhausarzt; |
4. | das Zusammenwirken von laufend behandelndem Arzt und Konsiliarius; |
5. | die Teamarbeit im Krankenhaus zwischen Chefarzt und nachgeordneten Ärzten innerhalb einer Abteilung; |
6. | die Zusammenarbeit zwischen Arzt und Pflegepersonal. |
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Die Fallgruppen 1. bis 4. bilden den Bereich der horizontalen Arbeitsteilung, die durch das Prinzip partnerschaftlicher Gleichordnung und damit grundsätzlicher Weisungsfreiheit geprägt ist, während die Fallgruppen 5. und 6. das Gebiet der vertikalen Arbeitsteilung abdecken, die eine hierarchische Struktur aufweist, das heißt, für die Unterordnung und Weisungsgebundenheit der Mitarbeiter gegenüber einer fachlich überlegenen und/oder arbeitsrechtlich vorgesetzten Person typisch ist. Dies impliziert systematisch auch die Problematik der Delegation von Aufgaben.