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I.2 Religion und Kindheit im Wandel – Pluralisierung, Individualisierung, Globalisierung
ОглавлениеWerner H. Ritter/Henrik Simojoki
Wer heute in der Grundschule mit der Aufgabe religiöser Bildung betraut ist, steht, verglichen mit den entsprechenden Voraussetzungen und Gegebenheiten vor vier bis fünf Jahrzehnten, vor einer stark veränderten Situation. Begegnete ein katholischer Dorfbewohner, der im 19. Jahrhundert aus einem konfessionell geschlossenen Milieu in die Stadt zog, dort Protestanten, Juden und vielleicht ein paar Atheisten, so trifft der heutige Nachfahre jenes Dorfbewohners im 20. / 21. Jahrhundert potenziell auf eine viel kompliziertere Gemengelage: »Im Nebenhaus wohnt eine muslimische Familie, eine Verwandte ist Buddhistin geworden, Bekannte üben tägliche Meditation, der Lehrer der Kinder ist dezidierter Atheist und im Fernsehen und im Internet gibt es kaum irgendeine religiöse Tradition der Menschheitsgeschichte, die dort nicht vertreten ist« (BERGER 2000, 812). In diesem Kapitel versuchen wir, den empirisch angezeigten Wandel von Religion besser zu verstehen. Traditionellerweise hat die Religionspädagogik diesen Aspekt vor allem in Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Entwicklungspsychologie thematisiert: Es ging dann um den Wandel von Religion im Zuge der biografischen Entwicklung – ein Aspekt, der im nächsten Kapitel eingehend thematisiert wird (s. I.3). Allerdings greift dieser Zugang, sofern man sich auf ihn beschränkt, in einer Hinsicht zu kurz. Er übersieht, dass die Veränderungen in der Religiosität heutiger Kinder in den viel umfassenderen Gestaltwandel von Religion in der heutigen Gesellschaft eingelagert sind.
In der aktuellen religionssoziologischen Debatte spielen vor allem drei Ansätze zur Deutung dieses Wandels eine Rolle (vgl. PICKEL 2011, 135 ff.). An erster Stelle ist die Säkularisierungsthese zu nennen, die von einem langfristigen Bedeutungsverlust von Religion in der Moderne ausgeht. Daneben trat in den letzten Jahrzehnten das Gegenmodell der Individualisierung von Religion: Statt von einem Religionsverlust geht dieser Deutungsansatz von einem modernitätsspezifischen Wandel der Religion aus, die sich von institutionellen Vorgaben löst und immer mehr individualisierte und privatisierte Formen annimmt. Hand in Hand mit der Individualisierungsthese geht die Auffassung einer fortschreitenden Pluralisierung von Religion. Neuerdings wird erkannt, dass Religion in der heutigen Gesellschaft immer mehr in globalisierter Gestalt begegnet. Diese komplexe Gemengelage soll im Folgenden schrittweise erschlossen und auf ihre religionsdidaktischen Folgewirkungen befragt werden. Abschließend wenden wir uns einem weiteren, für den Religionsunterricht der Grundschule erheblichen Aspekt des gesellschaftlichen Wandels zu: dem Wandel von Kindheit, ohne den die Religiosität heutiger Kinder nicht hinreichend verstanden werden kann.