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3. Veränderte Kindheit in der »Vier-Fünftel-Gesellschaft«

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Was Kindheit ist, steht nicht einfach definitiv fest. Biologisch gesehen ist Kindheit zwar eine anthropologische Konstante, geschichtlich gesehen aber ist das, was wir Kindheit nennen, soziokulturell bedingt und stellt sich in verschiedenen Kulturen und Epochen dementsprechend unterschiedlich dar. Für unsere Ausführungen ist wichtig, dass die komplexen Modernisierungsprozesse sich auf Kinder auswirken und heutiger Kindheit eine veränderte Gestalt geben. Augenscheinlich und nachweislich hat Kindheit vor allem seit den 1970er- und 1980er-Jahren einen erheblichen Wandel erfahren (vgl. ROLFF / ZIMMERMANN 2001), was natürlich auch Folgen für Religion und Religiosität hat. Was sind nun ins Auge fallende Phänomene »veränderter Kindheit«?

Eine grundsätzliche Veränderung liegt sicher darin, dass Kindheit und Jugend nicht mehr wie früher (bis in die 1960er-Jahre hinein) als Vorbereitungszeit (»Moratorium«) auf das spätere Erwachsenenleben verstanden wird, welches bis dahin Verzicht, Aufschub und Abstinenz verlangte. Stattdessen steht eine Vielzahl von Lebensbereichen, die bis dato Erwachsenen vorbehalten waren, auch schon Kindern offen. Maria Fölling-Albers spricht dementsprechend von Entgrenzungsprozessen zwischen Kindern und Erwachsenen (vgl. FÖLLING-ALBERS 2001): Kinder partizipieren an Freizeit-, Medien- und Konsumangeboten, benutzen moderne Kommunikationstechniken (Handy, PC etc.) usw., sodass der Generationenabstand »immer kleiner« und die Erwachsenenähnlichkeit der Kinder immer größer wird. Auch wenn hier schichten- und milieuspezifische Unterschiede zu wenig beachtet werden, zeigt sich doch darin ganz deutlich der Wandel von Kindheit.

Eine zweite grundsätzliche Veränderung besteht darin, dass Kinder heute mit einer Vielzahl unterschiedlicher Erfahrungen aus Lebenswelten, Kulturen und religiösen Kontexten zur Schule kommen, Kindheit im Vergleich zu früher also ein wesentlich bunteres Bild bietet. Kindheit gibt es heute sozusagen nicht mehr im Singular, sondern nur noch im Plural!

Dennoch lassen sich im Anschluss an die neuere Kindheitsforschung (vgl. ALT / LANGE 2007) einige Grundtendenzen herausschälen. Der folgende Überblick stützt sich auf die zweite World Vision Kinderstudie aus dem Jahr 2010 (WVD 2010) und orientiert sich an für Kinder zentralen lebensweltlichen Bereichen:

  Noch immer stellt die Familie für Kinder den entscheidenden Ort ihres Aufwachsens dar. Dabei hat sich die Familienstruktur in Deutschland in den letzten Jahrzehnten tiefgreifend verändert. Nur noch eine Minderheit der Kinder leben in einer traditionellen »Ein-Mann-Verdiener«-Familie. Zudem nimmt die Zahl der Kinder pro Familie kontinuierlich ab: Jedes vierte Kind in Deutschland hat keine Geschwister, wobei der Trend insgesamt deutlich in Richtung Zwei-Kinder-Familie geht. Daraus auf einen Zerfall der Familie zu schließen, greift jedoch zu kurz: Noch immer wachsen 72 % der Kinder in einer traditionellen Kernfamilie mit beiden leiblichen Elternteilen auf. Im Blick auf heutige Schulklassen muss man aber auch den mit 16 % relativ hohen Anteil von Kindern betonen, die bei einem alleinerziehenden Elternteil leben – in den vergangenen vier Jahrzehnten hat sich diese Zahl verdreifacht. Schließlich erweist sich Multikulturalität als ein nicht mehr wegzudenkender Teil kindlichen Aufwachsens in Deutschland. Mehr als ein Viertel der Kinder in Deutschland haben einen Migrationshintergrund, in manchen Großstädten wie Hamburg sind es über 40 %. Für den Unterrichtsalltag in deutschen Grundschulen spielt natürlich die Sprachkompetenz eine große Rolle: Etwa ein Drittel der Kinder mit Migrationshintergrund gibt an, dass bei ihnen zu Hause die Muttersprache der Eltern die Umgangssprache ist. In der Sicht der Kinder selbst findet die kulturkritische These vom Zerfall der Familie nur wenig Anhaltspunkte: Mehr als vier Fünftel der Kinder äußern sich positiv zu ihrer Elternbeziehung, die Mehrheit von ihnen sind sogar sehr zufrieden damit, wie ihre Eltern für sie da sind.

  Kinderleben in Deutschland findet mehr und mehr in Schulen statt. Gerade in den Medien dominiert hier der Krisenjargon: Der PISA-Schock und die medienwirksamen Berichte aus großstädtischen Brennpunktschulen erwecken den Eindruck einer aus den Fugen geratenen Institution. Die Kinder denken hier ganz offenbar mehrheitlich anders: In der World Vision Kinderstudie äußern sich 70 % Mehrheit der befragten Kinder positiv im Blick auf die Schule, 22 % geben sich neutral und insgesamt nur 8 % sind unzufrieden, wobei die Zufriedenheitswerte bei den Mädchen durchgängig höher liegen.

  Auf allgemeiner Ebene ergibt sich bei den Freizeitaktivitäten von Kindern ein erwartbares Bild: Freunde treffen, Sport treiben und Radfahren sind die drei am häufigsten genannten Freizeitaktivitäten, gefolgt von: Musik hören, mit Spielzeug spielen und Fernsehen. Der besondere Stellenwert von Sport zeigt sich auch auf der Ebene von Gruppenaktivitäten: 62 % der Kinder betätigen sich in einem Sportverein, 21 % engagieren sich in einer Musikgruppe und als Drittes machen immerhin 11 % bei einer Kirchengruppe mit.

  Es ist sicher für niemanden überraschend, dass die Nutzung von Medien in Deutschland inzwischen ein selbstverständlicher Bestandteil der Kindheit ist. Allerdings ist die von den Kindern frequentierte Medienpalette dann doch traditioneller als man es im digitalen Zeitalter vermuten würde. Im Kinderzimmer dominieren noch immer der CD-Spieler und das Radio, dann folgen Gameboy und Spielkonsole, während der Computer überraschend weit unten steht, noch hinter dem Fernsehen, der bei einem Drittel aller Zehn- und Elfjährigen bereits im Kinderzimmer zu finden ist. Was besonders auffällt: Im Unterschied zum Jugendalter spielt das Internet im Alltag der Kinder (noch) eine überraschend geringe Rolle (s. III.14).

In ihrem Gesamtfazit haben die Autoren der 2. World Vision Kinderstudie die derzeitige Situation von Kindern in Deutschland auf eine prägnante Formel gebracht: Sie sprechen vom Kinderleben in einer »Vier-Fünftel-Gesellschaft«. Demnach geht es der jüngsten Generation ihrer eigenen Einschätzung nach mehrheitlich erfreulich gut. Die Kinder sind zumeist ausgesprochen zufrieden mit ihrem Leben und Aufwachsen. Gleichwohl gibt es hinsichtlich der Lebensbedingungen und der Selbstwahrnehmung eine erschreckend große Kluft zwischen der großen Mehrheit und einer nicht eben kleinen Minderheit von etwa 20 %. Diese Kinder sind von den Ressourcen, die für eine gedeihliche Entwicklung wichtig sind, teilweise ausgeschlossen und nehmen dies, was das Ganze noch gravierender macht, auch so wahr. Sie äußern sich weniger positiv hinsichtlich der elterlichen Zuwendung, bewerten die Schule deutlich negativer, sind in ihrer Freizeit weniger vielseitig aktiv, verbringen mehr Zeit vor dem Fernseher oder bei Computerspielen und haben insgesamt deutlich mehr Zukunftsängste als die Mehrheit ihrer Altersgenossen.

Religionsdidaktik Grundschule

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