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2. Greifen Stufentheorien religiöser Entwicklung zu kurz?

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Anfragen aus der aktuellen entwicklungspsychologischen Forschung

»Kinder neben den Stufen« überschreibt Peter Fiedler (2010) eine kritische Auseinandersetzung mit den Stufentheorien zur religiösen Entwicklung in der Spur der einflussreichen Theorie zur Entwicklung des Denkens von Jean Piaget, wonach die Entwicklung das Ergebnis eines kognitiven Konstruktionsprozesses ist, in dem das Subjekt in immer komplexeren Strukturen aktiv die Muster aufbaut, nach denen es die Umwelt deutet (assimiliert), und korrigierend auf sie einwirkt (akkommodiert).

Aus der aktuellen Diskussion in der Entwicklungspsychologie sind einige Hinweise auf Schwachstellen und Lücken dieser Theorie auch von religionspädagogischer Relevanz. Grundsätzlich werden zunehmend Einwände gegen die Annahme erhoben, dass sich Entwicklung in mehreren qualitativ abgrenzbaren Schritten (bzw. Stufen, Stadien oder Phasen) in unumkehrbarer Richtung auf einen Endzustand hinbewegt. Nach Piaget setzt die (Denk-)Entwicklung zur höheren ja die jeweils niederen Stufen voraus. Dabei sind die einzelnen Schritte qualitativ strukturell von der jeweils früheren Stufe unterscheidbar und werden als für alle Menschen gültig angesehen.

Die Position der aktuellen Entwicklungspsychologie in Auseinandersetzung mit Piaget fasst Susanne Koerber in ihrem Beitrag im »Handbuch zur Grundschulpädagogik und Grundschulforschung« unter drei grundschulrelevanten Aspekten zusammen (KOERBER 2011, 156–160):

  »Beachtung früherer Kompetenzen«: Damit ist die Unterschätzung der Kompetenzen von Kindern in der Theorie von Piaget angesprochen, die zu einer kognitiven Unterforderung der Kinder führen könnte. So zeigen verschiedene Untersuchungen, dass schon Kinder im Vorschulalter zur Perspektivübernahme fähig sind, ein Verständnis davon haben, dass dasselbe Objekt oder Ereignis aus unterschiedlichen Perspektiven wahrgenommen werden kann, und dass neunjährige Grundschulkinder im Alter von Piagets konkret-operationalem Stadium schon zur Kontrolle von Hypothesen und zu logischem Denken fähig sind, was erst als für das Sekundarstufenalter möglich angesehen wurde (ebd., 156 f.).

  »Differenzieller Zugang«: Es geht hierbei um die Annahme der universellen und überindividuellen Gültigkeit der Entwicklungsschritte, die auf alle Menschen in einem Altersbereich zutreffen. Diese Annahme wird infrage gestellt durch Untersuchungen, die darauf aufmerksam machen, dass ein Teil der Kinder im Grundschulalter durchaus schon logische Leistungen zeigt, die erst Jugendlichen zugesprochen werden. Die interindividuellen Unterschiede sind also größer als bislang angenommen. Dies fordert zu einer differenzierten Wahrnehmung der unterschiedlichen Denkleistungen in altershomogenen Lerngruppen auf und lässt nach Einflussfaktoren fragen, welche die interindividuellen Unterschiede erklären können, z. B. unterschiedliche Erfahrungen oder soziale Einflüsse (vgl. ebd., 158). Für unterrichtliche Lernprozesse kann man folglich nicht annehmen, dass sich alle Kinder einer Altersstufe auf dem gleichen kognitiven Niveau bewegen. Es gilt also mehr als bisher im Hinblick auf Lernprozesse die individuellen Fähigkeiten und die interindividuellen Unterschiede bei Kindern einer Altersgruppe wahrzunehmen.

  »Bereichsspezifität der Entwicklung«: Die Entwicklungstheorien in der Spur von Jean Piaget konzentrieren sich auf allgemeine, bereichsübergreifende Veränderungen kognitiver Fähigkeiten, die abweichende spezifische Entwicklungen in unterschiedlichen Inhaltsbereichen ausblenden. Sowohl für sprachliche, physikalische, biologische wie religiöse »Domänen« würden dann die gleichen Entwicklungsstufen gelten. Nun geht die neuere Lernpsychologie aber davon aus, dass sich für unterschiedliche Wissenssysteme bereichs- bzw. domänenspezifische Fähigkeiten entwickeln. Man spricht darum von domänenspezifischen Kompetenzen, die berücksichtigen, dass der Aufbau von Wissen eingebunden ist in bereichsspezifische Anwendungsgebiete (Domänen) (vgl. ebd., 158 f.).

Aus der religionspsychologischen und religionsdidaktischen Diskussion um die Stufentheorien

Der Religionspsychologe Bernhard Grom bezweifelt, »ob einzelne Stufen religiösen Denkens und Erlebens nachzuweisen sind, die jeweils ein zusammenhängendes Ganzes (Struktur) bilden, das die Befragten homogen auf verschiedene Inhalte und Situationen anwenden, und ob diese Stufen einander so folgen, dass die höhere jeweils die niederen voraussetzt, integriert und differenziert« (GROM 2007, 179). Die plausiblen Forschungsergebnisse zu den Entwicklungsstufen bei Oser / Gmünder hängen seiner Meinung nach von der Forschungsmethode der mündlich-argumentierenden Reaktion auf die Interviewerfragen zu den Dilemmageschichten ab. Bei offeneren und eher assoziativen Impulsen (z. B. Bilder von Kindern zu dem Impuls »Ich stelle mir Gott vor …«) ist hingegen damit zu rechnen, dass man in einer Altersstufe und bei Jungen und Mädchen differierende Konzepte registrieren kann. Darauf verweisen Ergebnisse der sogenannten Rostocker Langzeitstudie zu Gottesverständnis und Gottesbeziehung von Kindern (vgl. SZAGUN 2007). Gegen die Annahme eines Weiterschreitens und Stehenbleibens in einer idealen Stufenfolge favorisiert Grom ein Entwicklungsverständnis, das auch Rückschritte und Veränderungsrichtungen (als Multidirektionalität ) kennt (vgl. GROM 2007, 180; vgl. auch FIEDLER 2010, 267 f., der von der Möglichkeit regressiver Entwicklungsphasen spricht). Dabei erkennt Grom durchaus an, dass die religiöse Entwicklung in kognitiver Hinsicht vom Stand einer allgemeinen kognitiven Entwicklung abhängt. So sieht er zwischen der Entwicklung von Gottesvorstellungen und der kognitiven Entwicklung, wie sie Piaget beschreibt, eine Parallelität und bestätigt, dass es im Laufe der Entwicklung in der Altersphase von 6- bis 18-Jährigen eine Tendenz von einem buchstäblich-unsymbolischen Verständnis von metaphorischen Aussagen über Gott hin zu nicht-anthropomorphen, symbolisch gemeinten Gottesvorstellungen gebe. So könne man die Stufen als »weiche Stufen« anerkennen, die nicht davon dispensieren, individuelle und sozialisatorische Einflüsse in den Blick zu nehmen.

Problematisch kann ferner bei einer einseitigen Konzentration auf die kognitive Seite des Denkens die Vernachlässigung des affektiv-emotionalen Aspekts werden. Religiöse Entwicklung ist ganzheitlich aufzufassen und zeigt sich nicht nur in der verbalen bzw. kognitiven Urteilsfähigkeit. Diese betrifft jedoch einen zentralen Aspekt schulischen religiösen Lernens. Schließlich sind affektives und kognitives Handeln nicht künstlich zu trennen. Die emotionale Bedeutung des Glaubens und von Religion kann im Laufe des Lebens – auch abhängig von situativen und sozialen Einflüssen – sowohl zunehmen als auch abnehmen. Was für die kognitive Entwicklung und das Denken erhellend sein mag, trifft nicht gleichzeitig für die emotionale Seite religiöser Entwicklung zu (vgl. GROM 2007, 175 f.).

Auch die hierarchische Ordnung von Stufen und der normative Endpunkt religiöser Entwicklung sind problematisch: Ist jede höhere Stufe auch eine wertvollere Form von Religiosität oder hat jede Phase ihren eigenen Wert? Schon die Begriffe »Stufe« und »Entwicklung« suggerieren eine Hierarchie und einen normativen Zielpunkt. Es wären auch andere Metaphern, wie z. B. Spirale, Weg oder Sequenz denkbar, z. B. im Rückgriff auf mystische Weltsichten (vgl. MORAN 1988). Religiöse Entwicklung braucht nicht unbedingt immer ein Weg nach oben, sie kann auch ein Weg in die Tiefe sein.

Gerhard Büttner greift die Diskussion in der aktuellen Entwicklungspsychologie um die Bedeutung der Wissensdomäne (s. o.) auf und sieht hierin einen Paradigmenwechsel, den die Religionspädagogik forschungsmäßig noch weiter zu bearbeiten habe. Hierbei wird im Sinne einer gegenstandsbezogenen Theorie davon ausgegangen, dass kognitive Kompetenzen sich je nach Wissensgebiet unterscheiden können, dass man also durchaus mit neun Jahren Schachexperte mit äußerst differenzierten Gedankenoperationen sein kann, über die ein Fünfzehnjähriger noch nicht verfügt, gleichzeitig aber in religiösen Wissensdomänen Novize bleibt, wenn einem diese Domäne noch weitgehend unbekannt ist (vgl. BÜTTNER 2010, 210 f.).

Durch die Stufentheorien kommt also nicht alles in den Blick, was für eine umfassende religiöse Bildung bedeutsam ist. Sie sind ein wichtiges und hilfreiches Instrument zur Diagnostik, erhellen aber nur ein insbesondere für unterrichtliches Lernen wichtiges Segment religiöser Bildung, nämlich das der religiösen Urteilsbildung. Mit anderen (z. B. narrativen oder bildlichen) Erhebungsverfahren und anderen Inhalten (z. B. an der konkreten Erfahrungswelt der Kinder orientierten) wird man differenziertere Denk- und Argumentationsweisen bei Kindern in einer Lerngruppe und große interindividuelle Unterschiede bei Kindern gleichen Alters feststellen können (zur Diskussion vgl. u. a. SZAGUN / BUCHER 2010).

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