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2. Veränderungen auf gesellschaftlicher, kultureller und individueller Ebene

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Religion als Teilsystem der Gesellschaft

Auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene wird Religion im Verlauf der Moderne zu einem Teilsystem neben anderen; sie verliert zunehmend ihre Funktion als »heiliger Baldachin« (Peter L. Berger), der ein übergreifendes Sinnangebot für alle darstellt bzw. dargestellt hat. In vormoderner Zeit, also etwa in der mittelalterlichen Gesellschaft, vollzog sich religiöse Bildung in einer traditionsgeleiteten, geschlossenen Gesellschaft, die erheblich stärker, als dies heute der Fall ist, eine einheitliche Größe (mit Kaiser und Papst an der Spitze) mit klaren Ordnungsvorstellungen war, mit geltenden, kaum hinterfragten Traditionen und Einrichtungen, die eine hohe weltanschauliche Einheit zur Folge hatten. Glaube und Leben, ja alles war verbindlich geregelt. Dem hatten sich die Menschen zu fügen und zu unterstellen, wenn sie nicht als Außenseiter gebrandmarkt werden wollten. Eine geschlossene Gesellschaft gewährt dem Einzelnen hohe Sicherheit, aber wenig Freiheit. Mit der beginnenden Neuzeit hebt hier ein weitreichender gesellschaftlicher Wandel an. Für moderne Gesellschaften gilt im Unterschied zu vormodernen, traditionalen, dass Religion und Gesellschaft in ein Spannungsverhältnis zueinander treten. Die Gesellschaft gleicht nun nicht mehr einer Pyramide mit einer einheitlichen Spitze aus Kaiser und Papst, die über allem thront und wacht; vielmehr differenziert sie sich aus in verschiedene Teilsysteme wie Politik, Medizin, Recht, Bildung, Religion usw. (vgl. LUHMANN 2000, 595 ff.). Das Christentum ist von diesen Veränderungen massiv betroffen. Lautete der Selbstanspruch der christlichen Religion lange Zeit, die entscheidenden Maßgaben für ein Weltbild bereitzustellen, so wird ihr gesellschaftlich diese Funktion in der Moderne nicht mehr zugewiesen. Dem Christentum geht dadurch viel an normierender Kraft für das öffentliche wie private Leben verloren; als gesellschaftlicher Teilbereich muss es mit anderen gesellschaftlichen Teilbereichen als Weltbild-Produzent konkurrieren.

Im religionspädagogischen Bereich zeigt sich diese Entkopplung besonders im Verhältnis des Religionssystems zum Bildungssystem. Im Mittelalter war das Bildungssystem wie selbstverständlich kirchlich eingebettet. Noch im 19. Jahrhundert war die kirchliche Aufsicht über die Schulen ungebrochen. In Bayern war die Volksschule bis in die 1960er-Jahre hinein konfessionell gegliedert. Dagegen hat sich die Trennung von Schule und Kirche mittlerweile fast komplett durchgesetzt. Und selbst in den Bundesländern, wo die Stellung des Religionsunterrichts noch relativ sicher ist, gilt die Einsicht: Das Existenzrecht des Religionsunterrichts in der Schule muss pädagogisch begründet werden (s. I.1), also mit Argumenten, die der Logik des Bildungssystems entsprechen – ein klares Zeichen funktionaler Differenzierung.

Diese gesellschaftliche Differenzierung wiederum beflügelt nun die Prozesse von Individualisierung und Pluralisierung. Individualisierung meint: Wenn sich die moderne Gesellschaft in spezialisierte Teilsysteme aufgeteilt darstellt, dann kann sich der einzelne Mensch immer weniger an einer umfassend verbindlichen Sozialinstanz orientieren. Vielmehr wird die Einzelperson selbst zur Instanz, die die unterschiedlichen Teilsysteme miteinander vermitteln muss. Das Individuum ist also in der Gestaltung seines privaten wie seines gesellschaftlichen Lebens weitestgehend auf sich allein gestellt. Primärer Bezugspunkt des Menschen und seiner Erfahrungen wird seine eigene Person, seine eigene Subjektivität, womit Chancen und Lasten verbunden sind: Chancen des Freiheitsgewinns und Lasten durch eine Fülle von Wahlmöglichkeiten (vgl. BECK 1986). Individualisierung hat wiederum engstens mit Pluralisierung zu tun bzw. diese zur Folge. Letzteres meint eine Gesellschaft, in der eine Vielfalt von Überzeugungen, Meinungen und Weltanschauungen existieren. Die Individualisierungstendenzen nehmen in dem Maße zu, wie die vielen Einzelnen sich einer – oft unübersehbaren – Mehr- oder Vielzahl (Pluralität) verschiedener, oft sich widerstreitender Positionen, Weltanschauungen und Religionen gegenübersehen, die die eigene Position ständig relativieren und infrage stellen.

Bedeutungsverlust institutionalisierter Religion und Wiederkehr des Religiösen

Auf der Ebene der Kultur gibt es nicht mehr nur eine verbindlich geltende Weltanschauung bzw. Religion, vielmehr treffen in modernen Gesellschaften eine Mehrzahl von Deutungssystemen aufeinander; sie treten mit übergreifenden Ansprüchen auf Wahrheit, Orientierung und Legitimität auf, konkurrieren miteinander und berauben sich wechselseitig ihrer selbstverständlichen Geltung. Der Bedeutungsverlust großer religiöser und ideologischer Systeme hat erhebliche Folgen für deren Institutionen und Organisationen. Auch sie verlieren an Einfluss wie an Mitgliedern. Nachgefragt und wichtig sind sie weiter, allerdings weniger wegen ihres substanziellen als wegen ihres funktionalen Beitrags zur Gestaltung des Gemeinwesens und zum Wohl des Einzelnen. Für christliche Religion und Kirchen heißt das ganz unmittelbar: Sie haben nicht mehr dieselbe (Deutungs-)Macht wie früher, als sie alle Lebens- und Gesellschaftslagen umfasst haben.

Bis vor wenigen Jahrzehnten war es üblich, diesen eben beschriebenen Wandel von Religion auf der gesamtgesellschaftlichen, kulturellen (aber auch individuellen) Ebene als Säkularisierung zu bezeichnen. Darunter verstand man – und versteht teilweise noch immer –, dass mit fortschreitender Modernisierung von Gesellschaften zwangsläufig ein Bedeutungsverfall, ja vielleicht sogar das Ende von Religion einhergehe. Seit geraumer Zeit wird dieses Säkularisierungsverständnis sozialwissenschaftlich, religionswissenschaftlich und theologisch kritisiert: Es gilt, da es einen direkten Zusammenhang zwischen Modernisierung und Religion unterstellt, als zu wenig differenziert und der Vielschichtigkeit der tatsächlichen Zusammenhänge nicht gerecht werdend (vgl. ZIEBERTZ 2002b). Eher sieht es danach aus, dass Religion gesellschaftlich vielfältig präsent ist – unsichtbare Religion, privatisierte Religion, transformierte Religion usw. – und auch zur modernen Wirklichkeit und zum Leben vieler Menschen gehört (vgl. GABRIEL 2002, 142 f.), gerade in ihrer individualisierten und pluralisierten Gestalt.

Doch auch wenn der mancherseits erwartete konsequente Niedergang der Religion in Deutschland und vielen anderen Ländern der Welt nicht eingetreten ist, also das Ende der Religion keineswegs nahe ist, haben sich dennoch die Dinge stark verändert. Zu reden ist zum einen von Verlusten des christlichen Glaubens: Die Säkularisierungsthese lässt sich in Europa zu einem gewissen Teil empirisch bestätigen (vgl. POLLACK 2003; LEHMANN 2004). So haben die traditionellen Kirchen vor allem im westlichen Europa seit den 1970er-Jahren einen erheblichen Mitgliederverlust hinnehmen müssen. Deutlich ist auch, dass die Zahl sogenannter Konfessionsloser, die sich weder einer Konfession noch Religionsgemeinschaft zugehörig wissen, erheblich gewachsen ist, besonders in Ostdeutschland, wo sich nach dem Zweiten Weltkrieg graduell eine Mehrheitskultur der Konfessionslosigkeit etabliert hat.

Jedoch hat sich im Verlauf der Neuzeit nicht nur das Verhältnis von christlicher Religion und Kultur verändert. Gewandelt hat sich auch das Christentum selbst: Es ist längst keine einheitliche Größe mehr, sondern eine plurale Erscheinung, die sich in viele Konfessionen und Denominationen ausdifferenziert; auch die einzelnen christlichen Konfessionen sind keine monolithischen Einheiten, sondern facettenreiche Größen. Vor allem durch die Aufklärungsepoche mitbedingt, treten kirchenoffizielle Religion und private Religiosität des bzw. der Einzelnen in der Moderne auseinander. Phänomenologisch können drei Erscheinungsformen des Christentums benannt werden: Neben einer kirchen- und kerngemeindlichen Christlichkeit kennen wir seit geraumer Zeit ein individuell-privates und ein kulturell-öffentliches Christentum (vgl. RÖSSLER 1994). Eine weitere auffällige Folge neuzeitlich bedingter Veränderungen von Christentum und Religion ist, dass Religion aus dem angestammten Ort Kirche aus- und in andere Orte des Lebens einwandert. Wir sprechen von Ortsverschiebungen von Religion. In diesem Zusammenhang ist man auf die verborgenen Gestalten von Religion und Religiosität mitten in unserer weltlichen Wirklichkeit aufmerksam geworden: in Kunst, Literatur, Musik, Sport, Werbung, Medien, Tourismus, im öffentlichen und politischen Leben etc. Auch hierin zeigt sich, wie Menschen das Religionsmonopol, das die Kirche lange Zeit hatte, sich selbst aneignen und damit ihre religiöse Autonomie und Unabhängigkeit reklamieren.

Gerade die modernen veränderten Gestalten des Christentums, welche die kirchlich institutionalisierte Religion und den individuellen Glauben auseinandertreten lassen, zeigen, dass das Christentum sich nicht einfach in einem Eliminierungsprozess befindet. Freilich werden diese Veränderungsprozesse oft allzu einseitig negativ beurteilt, nämlich ausschließlich am Maß der kirchlichen Gestalt des Christentums. Die Identifikation von Religion und Religiosität mit bestimmten überlieferten und bekannten Formen kirchlichen Christentums lässt weder die Dynamik des religiösen Feldes noch die breite Präsenz religiöser Phänomene in den Blick kommen. Sie führt zudem zu vermeintlich empirischen Ergebnissen, die – infolge ihrer Grundannahme – einen kontinuierlichen Rückgang kirchlicher Bindung und kirchlicher Gläubigkeit meinen feststellen zu müssen. Nicht zuletzt werden mit solchen Defizit-Beobachtungen, die nur das Verschwinden des christlichen Glaubens konstatieren, keine religionsdidaktischen Perspektiven eröffnet, die eine Kommunikation zwischen alltagsweltlicher Religion und Religiosität von Menschen sinnvoll erscheinen lassen. Gerade auf Letzteres käme es aber an.

Religion als individuelle Entscheidung und als subjektive Leistung

Religiöse Individualisierung und Pluralisierung begegnen uns schließlich auf der Ebene des bzw. der einzelnen Menschen und sind wesentliche Merkmale von Religion und Religiosität heute in der sogenannten Postmoderne. Religiöse Individualisierung ist dabei gleichsam die Folge bzw. die Kehrseite religiöser Pluralisierung. Konkret heißt dies: Die noch bis in die 1950er/ 60er-Jahre hinein begegnenden sogenannten geschlossenen religiösen Milieus katholischer wie evangelischer Provenienz schwinden erheblich, und stattdessen wird oft das Allgemein-Christliche und / oder die individuelle Freiheit betont. Zudem treffen Menschen schon von Kindesbeinen an mit anderen Kulturen zusammen und wachsen damit auf. Religiöse Pluralisierung meint den Prozess, in dem den Einzelnen religiöse Orientierungen und Einstellungen in vielfältigen Gestalten begegnen. Dies betrifft sowohl den inneren Pluralismus des Christentums mit seinen verschiedenen Gruppierungen und Konfessionen wie auch die äußere religiöse Pluralität einer multireligiösen Gesellschaft. Menschen sind – wie auch immer – von pluralen Religions- und Sinnsystemen umgeben, angesichts derer sich ihr Aufwachsen und Leben vollzieht. So ist die religiöse Gegenwartskultur in europäischen und auch in vielen anderen Gesellschaften – wie sie der Einzelne wahrnimmt – im Unterschied zu der Zeit vor etwa 50 Jahren durch eine wachsende Vielfalt religiöser Orientierungen in ein und derselben Gesellschaft ausgezeichnet, Säkularisierungs-Schübe eingeschlossen. Für Heranwachsende und Erwachsene in unserer Gesellschaft hat dies zur Folge, dass sie christliche Religion und Kirche nicht mehr im gleichen Maße wie bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts hinein als die einzige und die maßgebende Religion akzeptieren, von der sie sich ohne Weiteres exklusiv orientieren ließen und deren Autorität sie umstandslos akzeptierten (s. II.11).

Das andere markante Merkmal religiöser Gegenwartskultur in Europa und darüber hinaus besteht darin, dass sich der und die Einzelne angesichts innerer wie äußerer religiöser Pluralisierung in gesteigertem Maße selbst einen Reim auf ihre Religiosität machen und diese bis zu einem bestimmten Grade eigenständig »konstruieren« (müssen), wodurch die vorher stärker homogene (christliche) Religionslandschaft sich zusehends individueller und pluraler ausformt. Der bzw. die Einzelne lässt sich heute die persönliche religiöse Orientierung nicht allein durch Kirchen bzw. religiöse Institutionen und deren Traditionen vorgeben. Stattdessen wird Religion bzw. die Religiosität des Einzelnen zunehmend zu einer Sache der individuellen »Wahl« – eine Konsequenz aus der pluralen Situation. Der (Religions-)Soziologe Peter L. Berger spricht in diesem Sinne vom »häretischen Imperativ«, womit er die Situation einer angesichts religiöser Pluralität notwendig gewordenen religiösen Wahl für jeden Einzelnen in der Gesellschaft kennzeichnen will (vgl. BERGER 1980). Von individualisierter Religiosität zu reden – im Grunde eine Tautologie, weil Religiosität ohnehin die individuelle Seite von Religion bezeichnet –, ist dennoch sinnvoll, da die aktive Eigenbeteiligung des Einzelnen an seiner Religiosität, die es in irgendeiner (geringeren) Form schon immer gab, in unserer Zeit eminent an Bedeutung zugenommen hat. Moderne Religiosität hat demzufolge nicht mehr den Charakter einer schicksalhaft zugeborenen Sache, sondern wird vielmehr stärker vom Einzelnen entschieden. Zwar kann man sich auch weiterhin mit einer bestimmten ererbten religiösen Überlieferung total identifizieren, aber auch diese Identifikation muss »gewählt werden, bedarf deshalb irgendeiner Form der Begründung (d. h. sie wird reflektiert)« (BERGER 2000, 811). Mit der Entdeckung der eigenen Autonomie erheben die Individuen genauso Anspruch auf Wahrheit und Wirklichkeit, wie es die religiös kulturellen Überlieferungen tun. Menschen lehnen heute tendenziell jede (religiöse) Definitionsmacht über ihr Leben, egal woher sie kommt, ab und fühlen sich für ihre Religion und Weltanschauung sowie ihr Leben selbst zuständig. Sie nehmen sich also das Recht, ihre religiöse Anschauung selbst zu bilden. Was heute einer glaubt, glaubt er nicht bloß traditionell-konventionell, sondern »aus Überzeugung«. Deswegen zeichnet sich religiöse Individualisierung durch auswählendes Verhalten und persönliche Identifikationen mit bestimmten Glaubensinhalten aus.

Doch nach welchen Mustern vollzieht der Einzelne seine religiösen Wahlentscheidungen? Thomas Luckmann, einer der wichtigsten Bahnbrecher der Individualisierungsthese, betont den synkretistischen Charakter der individualisierten Religion (vgl. LUCKMANN 1991). Er prägt dafür den Begriff der »Bricolage« – die je eigene Religion wird aus Versatzstücken aus verschiedenen Religionen und Weltanschauungen nach persönlicher Präferenz »zusammengebastelt«. Schließlich kann religiöse Individualisierung dazu führen, dass die subjektive Religion sich immer mehr ins Private verlagert: Selbstverwirklichung, das persönliche Glück und Wohlbefinden rücken ins Zentrum religiöser Bemühungen. Profiteur dieser Entwicklung ist das esoterische Frömmigkeitssegment sowie sämtliche Deutungsangebote, die auf Selbstthematisierung, Selbsterfahrung oder Selbstverwirklichung zielen. Luckmann spricht in diesem Zusammenhang von einer Tendenz zur »Sakralisierung des Selbst« (LUCKMANN 1991, 153).

Auch wenn solcherart individuelle Religiosität immer wieder als billige religiöse Auswahlmentalität und Beliebigkeitsreligiosität dargestellt wird – was nicht von vornherein definitiv auszuschließen ist – ist doch positiv die damit verbundene subjektive religiöse Leistung zu würdigen: Der Einzelne muss heute angesichts pluraler religiöser Traditionen selbstständig seine religiöse Position finden, ihm ist im Unterschied zu früher seine religiöse Biografie wesentlich stärker als selbst zu gestaltendes und zu verantwortendes Projekt aufgegeben. Ob abwertende Begriffe wie »Patchwork-Religion« den Schwierigkeiten gerecht werden, denen sich Menschen, die sich in verschiedenen Bereichen der Gesellschaft bewegen, ausgesetzt sehen, ist fraglich. Um religiös deute- und handlungsfähig zu werden, müssen sie dieses Unterschiedliche ja koordinieren und integrieren.

Religion im Zeitalter der Globalisierung

In der jüngsten Zeit mehren sich die Versuche, den religiösen Wandel vor dem Hintergrund einer beschleunigten Globalisierung von Religion zu verstehen (vgl. SIMOJOKI 2012a). Das hat mehrere Gründe: Zum einen büßen die bislang dominierenden Modelle der Säkularisierung oder Individualisierung von Religion rapide an Erklärungskraft ein, sobald man die Grenzen des europäischen Christentums verlässt. Anstatt ganz einzugehen oder zumindest aus der Öffentlichkeit zu verschwinden, erfreuen sich die Religionen weltweit einer bemerkenswerten Lebendigkeit. Dabei sind es die traditionellen Weltreligionen, in denen sich diese Vitalität am stärksten äußert, nicht, wie vielfach vorhergesagt, privatisierte oder neureligiöse Formen von Religion. Die verbreitete Rede von einer »Renaissance« oder einer »Rückkehr der Religionen« (RIESEBRODT 2000) ist insofern missverständlich, als sie den Eindruck erweckt, die Religionen wären zwischenzeitlich im Niedergang begriffen oder gar irgendwie »weg« gewesen. Das ist mitnichten der Fall – nur hat infolge der gesteigerten Mobilität sowie der digitalen Revolution der letzten Jahrzehnte die Bewusstheit für die fortdauernde Präsenz von Religion in der gegenwärtigen Weltgesellschaft merklich zugenommen.

Dabei empfiehlt es sich zwischen einer extensiven und einer intensiven Globalisierung von Religion zu unterscheiden. Während man in der Theorie und Praxis religiöser Bildung noch immer dazu neigt, das Christentum stillschweigend mit seinen westlich-abendländischen Ausprägungen zu identifizieren, verlagert sich der Schwerpunkt des Weltchristentums immer weiter in den Süden, wobei es vor allem charismatische, evangelikale und pfingstlerische Strömungen sind, die den neuen Zentren ihr Gepräge verleihen (vgl. JENKINS 2006). Hinzu kommt, worauf der kanadische Religionswissenschaftler Peter Beyer hinweist: Die Globalisierung der christlichen Religion äußert sich nicht nur in ihrer weltweiten Ausbreitung, sondern auch in ihrer wachsenden Verflechtung. So machen sich christliche Strömungen, die ihren Ursprung in anderen Erdteilen haben, durch Migration, Mission und mediale Kommunikation zunehmend auch hierzulande bemerkbar (vgl. BEYER 2006, 120 ff.; SIMOJOKI 2012c). Im Zeitalter der Globalisierung, so zeigt sich hier, rückt die Welt auch religiös immer enger zusammen – und das nicht selten unsanft, wie an den zahlreichen religiös motivierten Konflikten auf lokaler und globaler Ebene abzulesen ist.

Die damit verbundenen Bildungsherausforderungen lassen sich besonders gut am Beispiel des Islam veranschaulichen, der ja mittlerweile zu einem festen Bestandteil der bundesrepublikanischen Lebens- und Schulwirklichkeit geworden ist. Christliche Kinder treffen, wenn auch in regional differierender Intensität, auf islamische Religion in ihrer unmittelbaren Nahwelt, sie haben in wachsender Zahl muslimische Mitschülerinnen und Schüler, Nachbarn, Bekannte, Freundinnen und Freunde. Jedoch reichen ihre Kontakte mit dem Islam über diesen unmittelbaren Kontext hinaus. Oft sind ihre Einstellungen in erheblichem Maße von den konfliktbestimmten Darstellungen in den modernen Informationsmedien geprägt. Dabei stehen die Bilder, die sich ihnen hier vermitteln, zuweilen in erheblicher Spannung zu den Erfahrungen vor Ort. Diese kontextuelle Vielschichtigkeit erfordert von den Schülerinnen und Schülern erhebliche Differenzierungsleistungen, die schrittweise eingeübt und bereits im Grundschulalter zumindest angebahnt werden sollten (vgl. SIMOJOKI 2012b; s. II.11).

Religionsdidaktik Grundschule

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