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1. Was meint heute Religion?
ОглавлениеWer Religion unterrichten will, sollte wissen, was Religion ist. Das ist aber alles andere als leicht, weil mit diesem Begriff ganz Unterschiedliches ausgesagt werden kann. Während sich Deutsch-, Mathematik- oder Musiklehrerinnen und -lehrer relativ problemlos über den Gegenstand ihres Faches verständigen können, kann im fachlichen Kontext des Religionsunterrichts von einem vergleichbaren Konsens nicht die Rede sein. Während der Religionsunterricht für die eine Religionslehrkraft in erster Linie mit den Überzeugungsgrundlagen ihrer eigenen christlichen Religion zu tun hat, findet die andere Lehrkraft Spuren des Religiösen in der Natur, in der populären Kultur oder auch im kollektiven Jubel auf den Tribünen des Fußballstadions. Wie ein Blick in die gegenwärtige wissenschaftliche Debatte um den Religionsbegriff zeigt, ist die fehlende Übereinkunft in der Sache begründet.
In gewisser Weise kreist die gesamte Religionssoziologie um diese eine, scheinbar simple Frage: Was ist Religion? Eine konsensfähige Antwort steht bis heute aus. Das aber liegt weniger an irgendwelchen Defiziten der Religionssoziologie als vielmehr an der Vielschichtigkeit ihres Gegenstandes. Religion als Phänomen erscheint heute komplex, schillernd und uneindeutig. Jedoch lassen sich in Anlehnung an Gert Pickel (vgl. PICKEL 2011, 18 ff.) immerhin bestimmte konstitutive Elemente unterscheiden, die für Religion charakteristisch sind. Dazu gehören
individuelle Überzeugungen, die sich auf eine höhere Macht, das »Heilige« oder – wie im Christentum – auf einen persönlichen Gott beziehen,
soziale Praktiken, insbesondere in Gestalt von Ritualen und Zeremonien,
eine Gemeinschaft, die über geteilte Überzeugungen, Praxisformen, Verpflichtungen und Normen zusammengehalten wird, und deren
institutionelle Ausprägung im Kontext der Gesellschaft, im Fall des Christentums durch die spezifische Organisationsform einer Kirche.
Bereits hier wird deutlich, dass ein Religionsverständnis, das sich ausschließlich auf den Überzeugungsbereich konzentriert, der sozialen Seite des religiösen Phänomenbestandes nicht gerecht wird. Gleiches gilt für die im christlichen Kontext lange Zeit wirksame Tendenz, Religion mit ihren kirchlichen Ausprägungen zu identifizieren.
Bei dem Versuch, diese grundlegenden Aspekte in einem Religionsbegriff einzufangen, lassen sich grob zwei Richtungen unterscheiden: Substanzielle Definitionen machen Religion an distinkten, als spezifisch religiös geltenden Glaubensinhalten, sozialen Praktiken und institutionellen Manifestationen fest. Das generelle Kriterium für die Religionsbestimmung ist hier der Bezug auf das Heilige oder Transzendente – wo er fehlt, kann von Religion keine Rede sein. Dieser klassische Deutungsansatz ist seit den 1960er-Jahren in die Kritik geraten, hat aber gleichwohl mehrere Vorteile: Er ermöglicht eine klare Abgrenzung gegenüber Nicht-Religion und ist anschlussfähig im Blick auf die Selbstbeschreibungen der Religionsgemeinschaften und das Selbstverständnis der Religionsangehörigen. Problematisch an dieser Definition ist, dass sie viele Phänomene subjektiver, im christlichen Fall: entkirchlichter Religiosität nicht einfängt und nur begrenzt auf nicht-theistische Religionen beziehbar ist.
Demgegenüber definiert der funktionale Religionsbegriff Religion über die Leistungen, die sie für die Gesellschaft, aber auch für das einzelne Individuum erbringt. Nachgerade seit den 1960er-Jahren sprechen Sozialwissenschaftler von verschiedenen Funktionen der Religion wie Identitätsstiftung, Reduktion von Komplexität, Kontingenzbewältigung, ihrer integrierenden Sinngebungs- und Welterrichtungsfunktion etc. Eine inhaltliche oder phänomenologische Festlegung wird bewusst vermieden. Konkrete Überzeugungen, Praktiken oder Gemeinschaftsformen spielen kriteriologisch keine Rolle. Der funktionale Religionsbegriff hat im religionsdidaktischen Kontext den Vorteil, dass er das weite Feld oft latenter Sinnorientierungen einfängt, das unter Kindern und Jugendlichen heutzutage vorzufinden ist. Sein Problem liegt darin, dass die Grenze zwischen religiösen und nicht-religiösen Phänomenen zu verwischen droht. Wenn eine lateinische Messe in gleicher Weise als religiös gedeutet wird wie die kollektive Hysterie auf einem Justin Bieber-Konzert, dann droht der Religionsbegriff seine Unterscheidungskraft einzubüßen. Zudem führt die Vernachlässigung substanzieller Begründungsanteile dazu, dass die geschichtlich bestimmten (Welt-)Religionen in einem bedenklichen Maße zurücktreten.
Wie im nächsten Kapitel deutlich wird, ist mit der Entscheidung zwischen einem substanziellen und einem funktionalen Religionsbegriff häufig eine bestimmte Gesamtsicht auf den religiösen Wandel verbunden. So bevorzugen Anhänger der Säkularisierungstheorie eher einen substanziellen Religionsbegriff, während Vertreter von religiösen Individualisierungskonzepten meist auf einen funktionalen Religionsbegriff zurückgreifen (s. I.2).
Das Fehlen einer einvernehmlichen Religionsbestimmung wirkt sich natürlich erschwerend auf die religionspädagogische Fachdebatte aus. Lange Zeit behalf man sich damit, dass man gänzlich auf eine allgemeine Religionsdefinition verzichtete. Religion galt dann – einer Begriffsprägung von Joachim Matthes folgend – als ein »diskursiver Tatbestand« (MATTHES 1992), der ganz unterschiedliche Zugriffsweisen erfordert und über den man sich daher immer erst verständigen muss. Freilich handelt es sich bei diesem Ausweg nur um einen Notbehelf, weil er das strittige Sachproblem ja nicht löst.
Neuerdings gibt es jedoch beachtenswerte Versuche, funktionale und substanzielle Zugänge zur Religion begrifflich auszubalancieren. Das gilt im besonderen Maße für den Definitionsvorschlag des Soziologen Detlef Pollack, der Impulse aus der Systemtheorie Niklas Luhmanns aufnimmt und in eine etwas eingängigere Form bringt (vgl. POLLACK 2003, 28 ff.; LUHMANN 2000). Pollack geht davon aus, dass Religion ein spezifisches »Bezugsproblem« hat: Sie dient der Bewältigung von Kontingenz. Religion hilft Menschen, das zu verarbeiten, was ihnen im Leben zufällig, unkontrollierbar und rational nicht auflösbar erscheint. So weit bewegt sich sein Verständnismodell noch ganz im Rahmen des klassischen funktionalen Begründungsansatzes. Allerdings besteht Pollack darauf, dass nicht jede Antwort auf die Kontingenzfrage religiös ist. Die Religion bietet nur eine mögliche Bewältigungsmöglichkeit von Kontingenz dar, die durch zwei zusammenhängende Momente gekennzeichnet ist: Auf der einen Seite überschreiten religiöse Sinnformen die gegebene Lebenswelt des Menschen. Das Kontingenzproblem wird gelöst, indem es menschlicher Verfügbarkeit entzogen, eben transzendiert wird. Auf der anderen Seite ist Religion dadurch charakterisiert, dass sie diesen Letztbereich des Transzendenten der individuellen Erfahrung zugänglich macht. Das geschieht, wenn Christen Abendmahl feiern oder Muslime den Koran als Gottes offenbartes Wort rezitieren. »Die Verbindung von Bestimmtheit und Unbestimmtheit, von Zugänglichem und Unzugänglichem, von Immanenz und Transzendenz ist eine Grundstruktur aller Religionen. Durch sie gewinnen sie Alltagsrelevanz, Verständlichkeit, Anschaulichkeit und Kommunikabilität« (POLLACK 2003, 49).
Die Vorzüge dieses Religionsbegriff werden im Kontext des Religionsunterrichts besonders deutlich: Aufgrund seines funktionalen Ausgangspunktes bei der Kontingenz- und Sinnfrage kann er auf ein breites Spektrum religionshaltiger Phänomene und Orientierungen bezogen werden. Indem aber die religiöse Problemlösung auf die dialektische Verbindung von Transzendenz und Immanenz bezogen wird, leistet er, was funktionalen Bestimmungen in der Regel schwer fällt: Er bewahrt die Geschichtlichkeit von Religion, knüpft an die Selbstbeschreibungen konkreter Religionen an und ermöglicht eine präzise Unterscheidung von Religion und Nicht-Religion. Hinzu kommt, dass die von Pollack akzentuierte Grunddynamik – Transzendierung der vorfindlichen Lebenswelt und lebensweltliche Konkretisierung des Transzendenten – genau jene Dialektik von Religion einfängt, mit der Religionslehrerinnen und -lehrer täglich zu tun haben und auch ringen.