Читать книгу Windelträger - Roman einer Reise - Kristof Lindenau - Страница 13
Montag, 15. August 2011 - Sinfoniekonzert
ОглавлениеNoch drei Tage. Schon seit Jahren hatte er immer wieder diesen, nur mühsam zu beherrschenden Drang in einem Sinfoniekonzert, sich im Zuschauerraum von seinem Sitz zu erheben und laut irgendetwas zu rufen, gerade in einer leisen Phase der Darbietung, in einem Moment andächtiger Stille oder angestrengten Hinhörens. Zuerst war da das Wort: Scheiße! laut gebrüllt, davon kam er aber wieder ab, dass könnten Musiker und Dirigent persönlich nehmen. Er hatte nichts gegen das jeweilige Programm, das wie gewohnt unbekanntes, auch neue Musik, mit musikalischen Gassenhauern mischte, die jeder immer hören will, zu kennen hatte, die zur Allgemeinbildung gehören. Es war dieses im halbdunklen Zuschauerraum in anständiger Haltung sitzen, die einem der Sitz sowieso vorgab, der für ein sich hinflegeln keinen Raum ließ. Konzentriertes Hinhören vorgaukeln, geistige Schlaffheit, mit gespielter Fachkunde übertünchen. Diese vorgebliche Andacht, dieses weihevolle Zuhören, dem sich alle fügten, widerstands- und willenlos, selbst ein Rascheln beim Auspacken von Hustenbonbons erregte Aufsehen. Man hatte die Wahl zwischen einem schnellen lauten, einmaligen: „Knister!“ „Knister!“ und diesem bemüht leisen, vorsichtigem, endlosen: „Knister“, „Knister“, „Knister“, „Knister“, „Knister“, „Knister“….. unterm Sitz, unter der Handtasche, in derselben, mit Pausen dazwischen. Feindseliges Kopfschütteln: „wird die den mit ihrem blöden Hustenbonbonauspacken nie fertig!
Diese Andacht war es aber auch nicht alleine, fesselte ihn die musikalische Darbietung war der Schreizwang verschwunden. Er tauchte nur auf, wenn seine Konzentration nachließ, sich die Ohren von der Bühne ermattet, gelangweilt, uninspiriert abwendeten, die Augen gleichzeitig über die Reihen hinweg gingen. Hinterköpfe, dicht an dicht, wie aufgeschnürt, graue, weiße Haare, im Wechsel mit frisch gefärbten, frisierten, ondulierten Damenköpfen, deren Alter verrieten, die leicht nach vorn gesunkenen Schultern und Frisuren, die übergangslos von den 70er Jahren hierher gekommen waren. Abonnenten, die heute hier waren, weil der Konzerttag auf dem Monatskalender in der Küche, im Flur schon lange angekreuzt war. Er dachte an den Orchesterintendanten, der ihm ganz im Vertrauen verriet: Der größte Teil der deutschen Symphonieorchester wird sein Publikum in den nächsten zwanzig Jahren auf natürlichem Wege, per Exitus, verlieren wird.
Er könnte aufstehen laut: Freiheit! Freiheit! Rufen. Das ist kein Schimpfwort, da fühlt sich keiner angesprochen, denkt höchstens an eine politische Demonstration. Er wusste auch nicht, ob es mit einmal Rufen getan sei, ob sich dieser unwiderstehliche Drang dann erschöpft hat. Der Dirigent würde abschlagen, das Orchester hört auf zu spielen. Der Dirigent würde sich dem Zuschauerraum zuwenden, im Halbdunkel nach dem Krawallmacher suchen. Wahrscheinlich würden in seiner Höhe die Saaltüren aufgehen die Türöffner stecken irritiert die Köpfe herein. Möglicherweise ginge sogar das Saallicht an und er stünde erbarmungslos im Licht. Würde ihn dieser Eklat ermuntern weiter: Freiheit! Freiheit! Freiheit! oder neutral: Ahhh! Ahhhhh! Ahhhhh! zu schreien? Ein neutraler Schrei wäre nicht politisch interpretierbar, würde die allgemeine Ratlosigkeit noch steigern, was ist mit ihm? Ein Irrer, ein Mordanschlag? Würde er plötzlich knallrot vor Scham in sich, in den weichen Sitz zurück fallen, alles darum geben ein kleines Mäuslein zu sein? Fragen über Fragen, Schwierigkeiten über Schwierigkeiten, bei einem rein technisch, körperlich so einfachem Vorgang. Das war genau der Moment, in dem er sich als einen kleinen grauen Punkt in der Masse sah und sich erleichtert zurücklehnte. Der Anfall war vorüber! Er hatte seine Frau neben ihm nicht bis die Knochen blamiert!
Er dachte oft über diese Anfälle nach. Es lag sicher an ihm, er war unaufmerksam, ungerecht, dabei wurde etwas für seine musikalische Bildung getan, das ist doch was! Wer möchte schon als ungebildet gelten. Lag es an denen da oben, dass bei ihm so wenig ankam, oder lag es an seinen Nerven, die dieser gespielten Anspannung überdrüssig waren, ihm die Wahl ließen herzhaft zu gähnen, oder los zu brüllen. Sich aus der Masse erheben, als einzelner alle Aufmerksamkeit auf sich ziehen, einen Eklat produzieren, wofür, wogegen egal, nur spüren, dass er da ist, sich noch nicht aufgelöst hatte. Vor dem 19. August war leider kein Konzert, keine Gelegenheit mehr, der Eklat fiel aus! Sommerpause! Die nächsten Konzerte sind erst wieder im Herbst. Glück gehabt! Wer auch immer!