Читать книгу Windelträger - Roman einer Reise - Kristof Lindenau - Страница 15
Privatpatienten
ОглавлениеPrivatpatienten! Er saß, hinein gelotst durch eine Leuchtziffernanzeige, beim Aufnahmegespräch, in einer der etwas größeren gläsernen Telefonzellen, mit Glastür, auf der außen eine Nummer stand. Die nette Servicemitarbeiterin des Krankenhauses war durch die offene Rückwand gekommen, hatte hinter dem kleinen Schreibtisch Platz genommen und ihn begrüßt: „Haben sie eine Zusatzversicherung?“ „Ich bin nichts besonders, möchte genauso, wie allen anderen, normal sterblichen, behandelt werden.“ „Bei uns werden allen Patienten medizinisch gleich gut behandelt, da gibt es keine Unterschiede, da können sie ganz beruhigt sein!“ Dabei lächelte sie. Er war überhaupt nicht beunruhigt, nicht in diesem Moment. Das müssen sie so sagen, genau wie ihm bei den Schwestern, aufgefallen war, dass dieses Qualitätsmanagement, QMS, Früchte zeigt, alle sind geschult, stellen sich mit Namen und Funktion vor. Auch hier in der Telefonzelle ist die Servicekraft trainiert, sich so zu formulieren, dass dem Krankenhaus kein Imageschaden entsteht, Abläufe nicht in Unordnung gebracht werden, keine Missverständnisse entstehen.
Soweit so gut. Privatpatient, diese Wortkombination, das Pendant: Dienstpatient, das wäre er. Privatpatienten hieße, sie werden außerhalb der Dienstzeit behandelt, sozusagen ein Hobby, ein Freizeitvergnügen. Ihm persönlich wäre das viel zu gefährlich, von jemandem behandelt werden, der nach seinem langen Dienst, womöglich erschöpft und abgeschlafft, zu ihm kommt, wie leicht können sich da Fehler einschleichen. Privatpatienten lässt man darüber wohl im Unklaren, entschädigt sie für diesen nicht ungefährlichen Nachteil dadurch, dass ihnen das Gefühl gegeben wird, etwas ganz besonderes zu sein, so wichtig, dass für sie, wie sonst nur für gute Freunde, sogar private Zeit geopfert wird. Er konnte beobachten, wie diese besonderen Menschen diskret in Empfang genommen, abgeschirmt wurden, damit mögliche, peinliche Berührungspunkte mit Dienstpatienten im leider für alle Patienten zugänglichen Aufenthaltsbereich, vor der verglasten Kommandoleitstelle der Station, wenn schon nicht gänzlich vermieden, wenigsten so gering wie nur irgend möglich gehalten werden konnten. Diese Privatpatienten hatten auf der Station hinten einen eigenen kleinen Trakt, sie mussten nicht einen gemeinsamen Flur mit den Dienstpatienten teilen, man kam sich nicht in die Quere, nur bei unumgänglichen Wegen ganz hinaus, oder zu Behandlungen, aber auch da könnte man, im Extremfall, das hintere Treppenhaus nutzen, das als Notausgang gekennzeichnet war, aber leider über keinen eigenen Fahrstuhl verfügte. Sie hatten dort Ein- und Zweibettzimmer. Auf seinen späteren Wanderungen über den Flur ist er einfach auch hier entlang gegangen. Es stand kein Hinweisschild dort, dass das unerwünscht sei. Dabei hat er festgestellt, wenn Schwestern in die Zimmer hinein gingen, heraus kamen, dass sie farblich wohnlicher, bunter gestaltet waren, obwohl gleich groß wie ihre Zimmer auf der anderen Seite, größer wirkten, weil sich eben nur eines, höchstens zwei Betten darin befanden. Das zweite Highlight, das er beobachten konnte, war, dass ihnen mit dem Frühstück die Morgenzeitung ans Bett gebracht wurde. Einmal hatte ihm die Stationsschwester auch eine zugesteckt: „Aber nicht verraten!“ hat sie ihm noch eindringlich zugeflüstert. War ihm klar, dass er jetzt nicht jeden Morgen die Zeitung verlangen konnte, mit der Drohung, er würde sie sonst verpetzten. Die morgendliche Zeitungsgabe war ganz offensichtlich ein Alleinstellungsmerkmal der Privatpatienten, wenn jetzt heraus käme, auch ein gemeiner Dienstpatient hätte sie einfach so bekommen, unvorstellbar!
Im Übrigen taten sie im leid, so ganz alleine, abgeschottet in ihren Zimmern, während er in häufigem Wechsel Überraschungsgäste auf sein Zimmer bekam, für Abwechslung immer gesorgt war. Er geriet in geradezu intime Nähe zu Menschen, auf die er sich in seinem früheren Leben in dieser ausweg- und distanzlosen Form nie hätte einlassen müssen. Als Student hatte er von den Proletariern, vom Aufstand der Werktätigen geschwafelt, aber war doch keinem wirklich begegnet, so Aug in Aug, so dass er sich hätte stellen müssen. Heute gab es die Arbeiterklasse in der Form nicht mehr, dafür aber, global gesehen, Zustände, die mehr denn je nach revolutionären Umgestaltungen schrien. Seine verbindliche, höfliche Art geriet ihm auf seinem Dreibettzimmer zum Vorteil, er passte seinen Sprachstil an, hörte aufmerksam zu und lernte viel.