Читать книгу Windelträger - Roman einer Reise - Kristof Lindenau - Страница 19

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Auf dem Flur, Stimmengewirr, Krankenzimmertüren die auf und zugingen, Stille, dann wieder auf und zu, Stimmen, das Herdengetrappel mehrerer Personen, die sich näherten. Die sonst scheinbar ungeordneten, immer wieder hektischen Abläufe auf der Station, weil hier, oder da, eine gedrückte Klingel, Bewegung verursachte, etwas schnell zu erledigen war, alle damit zusammenhängenden Geräusche waren plötzlich verschwunden, wie aufgesaugt, als habe diese eine, rhythmisch wiederkehrende, Klangwolke alle anderen widerstrebenden Geräusche unter sich vereint. Jetzt waren sie schon nebenan, die Pause füllte sich mit bedrohlichem Gemurmel, das durch die Wand drang. Es kam etwas, das schon bei seiner Annäherung auf seine ganz besondere Bedeutung akustisch aufmerksam machte, sie in ihren Betten in gespannte Erwartung versetzte. Stilles in sich gekehrtes Memorieren über das, was man gleich, unbedingt, zur Sprache bringen will, eingestreut lässige Sprüche, als stünde man himmelhoch über alles, ließe sich von solchen Auftritten überhaupt nicht beeindrucken. Er dachte noch schnell, um sich abzulenken, an die andere Geräuschwelle, die auch in einem bestimmten Rhythmus, aber wie eine Operettenouvertüre herannahte, die Essensausgabe, das war eine herbei gesehnte Abwechslung. Kurzweil, Juchhe, Gelegenheit mit den Schwestern zu scherzen, da war was los.

Gemurmel vor ihrer Tür: Sie wird auf gestoßen, herein schwebt der Chefarzt, als einziger im weißen Arztkittel, die anderen, für die bevorstehenden Operationen, schon grün gewandet, dazwischen der Wagen mit den Patientenakten, von der Stationsschwester geschoben. Ein Pulk, 5 bis sechs Personen, die den Ausgang versperrten, jeden Fluchtversuch zum Scheitern verurteilten. Es geht der Reihe nach, von Bett zu Bett, mit gedämpfter Stimme erstattet der Stationsarzt Rapport: Name des Patienten, Befund, Tagssituation, Laborwerte, Temperatur, Luftdruck, Kühlwasser, was zu tun ist, heute anliegt. Der Chefarzt hört zu, steht seitlich am Fußende des Krankenbettes, den Kopf, mit erhobenem Kinn, nach links gedreht, sein Ohr dem Berichterstatter zugewandt. Bei gekräuselter Stirn folgt der Blick dem Ohr, schweift von dort oben immer wieder gnädig herab auf den Delinquenten, der andächtig lauscht, zu enträtseln versucht, was dort oben gerade über ihn erzählt wird. Geheimsprache, Fachchinesisch, Paragraph soundso: Kennen sie nicht? Pech gehabt! Mit medizinischer Vorbildung ist man hier eindeutig im Vorteil. Er war mit seinen Ohren ganz dicht bei dem der gerade verarztet wurde, nahm sich fest vor, wenigsten ein kluges Gesicht zu machen, als würde er alles verstehen, damit allein hatte er schon so manche Prüfung zu seinen Gunsten beeinflusst, sie würde sich bei ihm vielleicht nicht ganz so sicher fühlen: Feind hört mit! und sich in Acht nehmen. Natürlich vermied er bei seinem Lauschangriff, seinen Nebenmann auch noch anzuschauen. Aus seiner Neugierde sollte doch keine offensichtliche, unübersehbare, unschickliche werden.

Die Bedeutung des Patienten wächst mit der schwere seines Befundes, dem Aufwand, der um ihn betrieben wird, werden muss, danach ob er die Operation noch vor oder bereits hinter sich hat. Die höchste Stufe, die man dabei erreichen kann ist, wenn alles auf Messers Schneide steht. Vor ihnen der Kommandeur, dem die Helden der gestrigen Schlacht vorgeführt wurden, die, die überlebt hatten, denen er persönlich die Tapferkeitsmedaille überreichen wollte. „Alles wunderbar gelaufen, wenn alles so weiter geht, können sie Ende der nächsten Wochen nach Hause.“ Man kam hier also durchaus wieder lebend raus, das war doch beruhigend. „Den Katheter ziehen wir in vier, fünf Tagen.“ Er musste schlucken, stimmt, damit werden sie ihn auch noch ausstatten. Er wollte sich das nicht wirklich vorstellen, hat nur bei seinem Nebenmann den Schlauch gesehen, der, aus dem Hosenbein seiner Pyjamashorts heraus, zu diesem Beutel führte, der sich im Laufe eines Tages prall füllte. Dann kam die Schwester mit einem Eimer, ließ alles ab, notierte akribisch Menge, Färbung, fand lobende, anerkennende Worte, wenn man eine leuchtend gelbe, glasklare Flüssigkeit zustande gebracht hatte, die aussah, wie eine gutes Bier, das man vergessen hatte zu trinken, nun stand es abgestanden, handwarm, ohne Schaum auf dem Tisch.

Der Feldherrenhügel wandte sich ihm zu, geballte Aufmerksamkeit. Ein Neuer, Frischfleisch. Er hörte seinen Namen, Diagnose: „…wird heute operiert.“ Klang so wie: „Geht heute an die Front, hat sich freiwillig gemeldet!“ Da wo er hören wollte: „Alle Achtung, tapfer der Mann!“ hört er: „Der Patient wollte gerne den Operateur kennen lernen.“ „Ach, sollen wir uns hier jetzt alle vorstellen?!“ fragte der Chef lachend in die Runde, ging mit seinem Blick ganz bewusst über seine Augen, seinen Kopf hinweg. Allgemeines Schmunzeln, unterdrücktes, glucksendes Lachen. Touché dachte er: Sie wollen sich nicht in die Karten schauen lassen, dabei geht es hier um meine Haut. „Bei uns ist egal wer operiert, wir sind alle top, nicht wahr meine Herren“ sichtlich amüsiert wandte sich der Feldherr seinem Stab zu. Warum hatte er nur einen so offensichtlich blöden Wunsch geäußert. Hätte er doch lieber die Klappe gehalten. Er ist ihnen ausgeliefert, die haben ihn in der Hand, können mit ihm machen, was sie wollen. Einer der Laubfrösche mit den blauen Gummiclocks hob den Zeigefinger der rechten Hand: „Ich“ natürlich ohne seinen Namen zu verraten. Aschblonde Haare, die oben etwas lichter wurden. Er hatte schon die ganze Zeit lässig, fast an die Wand gelehnt, gestanden, neben ihm, gleichgroß, ebenso schlank und durchtrainiert, noch einer, mit schwarzen Haaren, akkurat gescheitelt, keine wuscheligen, kurzen Locken wie sein Nachbar, der auf eine unnachahmliche, unübersehbare Art die ganze Zeit Kaugummi kaute, als spiele er in einem dieser amerikanischen Gerichtsmedizinerkrimis mit. Viel später wird er durch Zufall in seiner Krankenakte ihre Namen entdecken und sich merken. Es waren die Oberärzte. Sie standen dort, wie die ersten Minister des Königs. „Den König müssen immer die anderen spielen“ fiel ihm ein, einer der Leitsätze des Theaters, hier war er Wirklichkeit. Der grüne Mann kam auf ihn zu. „Machen Sie mal ihren Bauch frei.“ Aber gerne doch, er klappte seine Zudecke etwas zurück, wickelte das Nachthemd unter der Decke nach oben bis der Bauch frei lag, ließ ihn befühlen: „Blindarm?“ Ihre Augen trafen sich: „Ja“ die kleine Narbe war noch von der Blinddarmoperation, bald vierzig Jahre her. In seinen Augen muss etwas wie: Ist damit was? gestanden haben: „Kein Problem“ Dann lüpfte der Marsmensch einfach die Zudecke schaute hinein, alles lag offen vor ihm: „Schon rasiert, na prima!“ Er war richtig stolz, dass er so proper vorbereitet war, als habe er es selbst getan. „Bitte keine Parallelgespräche, während ich hier noch zu tun habe!“ Das war ihr Häuptling, lässig ging der große Blonde ging auf leisen Sohlen an seinen Platz zurück. Die beiden Männer ließen ihn nicht mehr aus den Augen, als nähmen sie bereits Maß, als scannten sie ein, hätten schon vor ihrem geistigen Auge, wo sie die Messer ansetzen, ihn aufschneiden würden. Es war der Mechaniker Werkstattblick: Ich bin doch keine Maschine, kein Auto! Ich bin aus Fleisch und Blut!

Trappel, Trappel Tür auf, das Geschwader zog ab im Gänsemarsch hinter dem Chef her. Der Aktenwagen quietsche erbärmlich, versaute den ganzen Eindruck. Die Stationsschwester bekam einen roten Kopf, damit er ja nicht auf dumme Gedanken kam, etwa zu grinsen anfing, rief sie ihm noch, bevor sie die Tür ganz schloss, drohend den Satz zu: „Sie sind als erster dran. Halten Sie sich bereit.“

Wieder ging es mit Castor und Pollux im Sauseschritt mit dem Fahrstuhl in die Unterwelt zur Höllenpforte. Heute fiel ihm der Weg leichter, nicht nur weil er ihn bereits kannte, sie hatten versprochen ihm nicht weh zu tun. Ein kleiner Pieks, eine Kanüle setzen, dann würden sie ihn „abschießen“ ins Nichts. Er hielt seine Bettdecke fest, die der Fahrtwind in Wallung brachte, gab sich leutselig, zeichnete sich in sein Gesicht ein unbeschwertes, souveränes Lächeln. Sie werden alle Schmerzen, Empfindungen, Erinnerungen mit einem dicken fetten schwarzen Markerstift überdecken. Er wird aus dem dunklen Land zurückkehren, als sei nichts gewesen. Er hört eine warme, freundliche Männerstimme. Sauerstoff wird direkt in seine Nase geleitet. Die gute Stimme der guten Fee plätschert weiter, sanft, begütigend, beruhigt ihn tatsächlich. Er steht auf dem Brunnenschacht schaute mit gerecktem Hals geradezu neugierig tief hinunter, dahin wo das rundherum festgesetzte Mauerwerk sich im schier endlosen Schwarz verlor: „Lassen sie sich einfach fallen, zählen sie langsam…“ Ehe er noch bis 10 zählen konnte, stürzte er hinab, ins Nichts. Die Panik, die plötzlich mit gespreizten Krallen, weit aufgerissenem, fürchterlichen Rachen aus der Tiefe auf ihn zu sprang, verfehlte ihn um Haaresbreite, verschonte ihn, nur ihren Luftzug hat er noch gespürt.

Als er zurück kehrte lies das Nichts nur einen dunklen Schatten in ihm zurück, wie ein schwarz verhängtes Schaufenster mit einer leuchtend, grellgelben Aufschrift: Zutritt verboten! Eltern haften für ihre Kinder! Jemand hatte seine Zudecke makellos glatt über seinen Körper gespannt, unter der Matratze festgesteckt. Er konnte seinen Kopf bewegen, sehen, dass er in alle Richtungen verkabelt war. Links führte ein Plastikschlauch unter der Bettdecke hervor, Blut. Er konzentrierte sich auf einen Blutpfropfen, hinter dem sich das Blut aufstaute ihn langsam abwärts drückte. Es floss kontinuierlich, kein fester Strahl, es sickerte dahin wie eine versiegende Quelle, wurde in einem dieser Beutel aufgefangen, die unten am Bettgestell befestigt wurden. Auf der anderen Seite der Schlauch mit dieser hellgelben Flüssigkeit. Er spürte den Katheter nicht. Auf der Bettdecke lag ein dritter Schlauch, der oben zu dem Infusionsständer führte. Das Setzen der Kanüle vor der Operation, die Stimme des Anästhesisten, war das letzte, woran er sich erinnerte, jetzt lief dort eine Flüssigkeit, klar wie Wasser in seinen Körper. „Na wieder zurück!“ Die anderen hatten ihn schon erwartet. Die Schwester kam, lüpfte die Bettdecke, kontrollierte den Verband, sein ganzer Bauch war zugepflastert. Er war entsetzlich müde, keine Schmerzen, nur dieses dumpfe Gefühl in seinem Innern, als stünde dort alles unter Schockstarre, hätte den Kontakt zu ihm abgebrochen, unfähig irgendeine Empfindung an ihn weiter zu leiten. Später standen seine Frau, seine Kinder an seinem Bett. Erschrockene Augen, ja dieses schmale, hilflose Männlein, dieser Schmerzensmann war er, derselbe, der vor gerade einmal 48 Stunden aufrecht auf seinen Beinen stand, sein Leben im Griff hatte, Orientierung, Halt bot. Jetzt lag er da, haltlos, als triebe er allein auf einem kleinen weißen Floß dahin, still ruht der See, unbarmherzig hell und durchdringend von der Sonne beschienen. Er sprach nicht viel, stellte den flehentlichen Wunsch in seine Augen: Nehmt mich mit! Lasst mich hier nicht so hilflos liegen! Er sehnte sich nach der Stimme des Herrn, die zu ihm spricht: Stehe auf und gehe hin in Frieden!

Windelträger - Roman einer Reise

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