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Eine Woche später - Donnerstag, 28 Juli 2011

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Eigentlich sollte das Ergebnis tags darauf in der Klinik, einen Tag später bei seinem Arzt vorliegen, lag es aber nicht. Am Wochenanfang hat er in der Klinik angerufen. Kein Rückruf, dann beim Spaziergang, in der Mittagspause, im Sonnenschein, mit seinem Hund, klingelte sein Handy, informierte ihn der Assistenzarzt. Die Nachricht hat ihn nicht wirklich überrascht, die Verzögerung der letzten Tage, der schon lange bestehende Verdacht, er hatte sich mit dieser möglichen und nun feststehenden Diagnose schon länger beschäftig: Krebs. Da hatte sich etwas unbemerkt in sein Leben eingeschlichen, sich eingenistet, ohne Vorwarnung, ohne eigenes Verschulden, rauchen gleich Lungenkrebs, na klar, selber Schuld, aber zuviel vögeln gleich Prostatakrebs, sozusagen als Strafe des Himmels für zuviel irdische Wollust, davon hatte er noch nicht gehört.

Der Krebs ergriff von ihm Besitz, bestimmte von heute an weitestgehend sein Denken. Für die Operation hatte die Klinik den 19. August festgesetzt. Entfernung der Prostata, total, wenn möglich einseitig Nerven erhaltend, aller Vorsaussicht nach, ohne Entfernung der Lymphknoten. Er hatte noch Zeit, alles notwendige in Ruhe zu ordnen, besprach sich mit seiner Frau, den Kindern, informierte die wenigen wirklichen Freunde, berufliche Kontakte, mit denen er regelmäßig kommunizierte, die sich wundern würden, verschwände er plötzlich kommentarlos von der Bildfläche. Den meisten schrieb er eine Email, sorgfältig austarierte, nüchterne Formulierungen, die die Diagnose nicht beschönigten, deutlich hervorhoben, dass der Krebs frühzeitig entdeckt wurde, die Chancen auf vollständige Heilung sehr gut sind. Er war gespannt auf die Reaktionen. In ihm tat sich ganz widersprüchliches. Keinesfalls stürzte die Krankheit ihn in eine tiefe, ihn lähmende Depression. Die Beachtung, Zuwendung, Anteilnahme, die er durch sie erfuhr, belebte, beflügelte ihn geradezu.

Ohne es einzufordern, wurde er in Watte gepackt, abgeschirmt, beschützt. Genau dadurch fiel es ihm leicht, sich gerade zuhalten, seinen Alltagspflichten wie gewohnt nachzugehen, als könne ihn das alles nicht erschüttern. Es war, als ob die Nächsten um ihn, ihm seine Ängste abnahmen, für ihn durchlebten, die er ganz tief in sich spürte, als wäre dort ein Brunnenschacht, so tief, das der Aufprall des Steines nicht zu hören war, der hinein geworfen wurde.

Alles um ihn herum unterzog er einer Neubewertung, vieles, berufliches, Kontakte, vorher wichtig, wurden nebensächlich, verschwanden gänzlich, ohne dass er darüber weitere Gedanken verschwendete. Es war, als ob sich für ihn Spreu und Weizen trennte, mehr noch, als ob er sonst immer Spreu und Weizen hoch in die Luft geworfen hätte, ohne die dadurch bewirkte Trennung weiter groß zu beachten, nun lag das Wesentliche geradezu beleuchtet vor ihm. Er hatte keine Mühe sich ihm zuzuwenden, verhedderte sich nicht mehr im alltäglichen Einerlei und gerne angenommenen Ablenkungen. Er warf Ballast ab, als ginge er auf eine Reise, zöge er in ein Abenteuer mit ungewissem Ausgang.

Er dachte an seine Kindheit. Er hatte sich trotz der vielen Geschwister immer sehr allein gelassen gefühlt. Es war ein sehr kühles, protestantisch, preußisches Elternhaus, in dem es kein, in den Arm genommen werden gab, die Liebe war in diesem Haus irgendwo versteckt, vergraben. In der Rückschau war sie vielleicht sichtbar in der Sorgfalt, mit der das Aufwachsen der Kinder organisiert wurde. Es fehlte ihnen an nichts, schaute man darauf was den Kindern ermöglicht, für sie bereitgestellt wurde, es fehlte ihnen alles, schaute er noch einmal aus seinen Kinderaugen in diese Welt.

Damals wollte er tot sein, stellte sich vor, alle stehen am Grab, weinen bitterlich und im letzten Moment, wenn erste Erdklumpen auf den weißen Kindersarg poltern, würde er den Deckel lüpfen, beiseite schieben, auferstehen und die Arme zum Himmel recken. Seine Mutter würde ihn im Totenhemd aus der Grube heben, ihn in die Arme nehmen und an sich drücken. Er würde von allen geherzt, gedrückt, über die Haare gestreichelt werden: „So ein Schelm aber auch…!“ „Wie er das nur wieder angestellt hat?“ Keine Schläge, kein Einsperren, keiner wäre böse, alle nur froh, erleichtert, ihn wieder zu haben. Warum nicht gleich so!

Der Krebs verschaffte ihm diese Art der Zuwendung, die sonst besonderen Erschütterungen vorbehalten bleibt, die auch ihm Regungen erlauben, die er sonst als hinderliche Schwäche, Gefühlsduselei beiseite geschoben, belächelt hätte. Er spürte welchen Wert er für seine Frau, seine Kinder, die ihm Nahestehenden hatte, empfand das Leben stark, intensiv, als hätte dieses Ereignis, seine ganzen Empfindungen vom Staub des Alltags gereinigt. Er sah alles mit anderen Augen und wurde ebenso angesehen. Der Krebs bekam etwas von einer Auszeichnung, die ihn von anderen abhob, als sei er etwas besonderes, ein Auserwählter.

Krebs. Er versetzt die Menschen in Furcht und Schrecken, wie Pest und Cholera, dabei hatte diese Krankheit nicht annähernd die furchtbare Bedeutung, wie die alten, in unseren Breiten längst besiegten Geiseln der Menschheit: Pest und Cholera. Der Cholera 1831/32 in Berlin, fiel unter anderem der Philosoph Hegel zum Opfer, Hamburg 1892, da war der Tod in den Städten allgegenwärtig, ging in den Häusern ein und aus, wurden vor den Stadtmauern Massengräber ausgehoben. Diese Krankheiten wirkten grob gestrickt, simpel, primitiv, auf eine breite durchschlagende Wirkung angelegt. Man kam den Verursachern doch recht bald auf die Schliche, fand wirksame Gegenmittel.

Der Krebs kam ihm dagegen wie ein Kobold vor, wie ein Schauspieler, der fortwährend in andere Kostüme schlüpft, als ob der Tod sich gelangweilt hätte, mit der Sense durchs Land zu ziehen und die Menschen einfach so in Massen nieder zu mähen, als ob er Freude am Katze und Maus Spiel gefunden hätte. Einem Menschen einen gründlichen Schreck einjagen, ihn seiner Sicherheit berauben, doch noch einmal ziehen, davon kommen lassen, einem Anderen gleichzeitig eine schier unerträgliche Leidensgeschichte aufbürden, grundlos, willkürlich. Ein Schabernack! Dann lässt der Tod die ärztliche Kunst auf die Bühne, virtuos zieht sie alle Register, holt sich den verdienten Applaus ab, als beherrsche sie die Bühne. Dabei schaut der Tod von oben lächelnd auf die Bühne herab, als halte er ein kleines Puppenhaustheater in den Händen, das er jetzt ein wenig neigt, sich diebisch freut, dass nun alles ins Rutschen, auf die schiefe Bahn gerät, haltlos ins Leere fällt.

Ein Scharlatan, der ohne ersichtlichen Grund, mal den einen mal den anderen packt, immer in einem anderen Gewand, wohl ähnliche, nie absolut identische Krankheitsverläufe. Ein Gegner der nicht zu packen, nicht zu besiegen ist, unvermittelt auftaucht, ohne sich groß anzukündigen, Lebensplanungen, wie Papier zusammen knüllt, in die Tonne haut. Da können sich die Menschen noch so viel Mühe geben, alle möglichen Gefahren mit ordnender Hand auszugrenzen, bis hin zur Selbsttäuschung, es gäbe sie gar nicht mehr und dann schlägt das Schicksal zu, macht alles zunichte. Da hilft nichts, keine Versicherung, auch nicht dieser alberne Schutzengel in der Werbung mit seinen angeklebten gelben Flügeln.

Pest und Cholera kamen wie die ägyptischen Plagen über das Land. Die Menschen waren in ihrer Not nicht alleine, standen sie gemeinsam durch, sahen in ihnen eine Strafe, eine Züchtigung des Herren, suchten Zuflucht im Glauben, fanden Halt im Gebet. Auch außerhalb dieser Plagen war der Umgang mit dem Tod kein verdrängter, ins Dunkle abgeschobener Vorgang, sondern ein gesellschaftliches Ereignis. Die Uhren wurden angehalten, die Spiegel verhängt, die Vorhänge zugezogen, der Tote von den Frauen gewaschen, hergerichtet und für fünf Tage in seinen eigenen vier Wänden aufgebahrt. Es wurde Abschied genommen. Der Duft von brennenden Kerzen, Blumen, Kränzen aus frisch geschnittenem Immergrün überlagerten den Geruch beginnender Verwesung. Dann wurde der Leichnam eingesargt mit den Kränzen belegt und je nach Stellung und Rang in einem mehr oder minder prächtigen und langen Trauerzug durch die Stadt zum Gottesacker geführt, unter Anteilnahme der Bevölkerung, die auf den Bürgersteigen verharrte, den Zylinder abnahm und den Zug vorbeiziehen ließ. Mit jeder Minute, schließlich mit jedem Schritt, der die Trauernden von der nun bereits fünf Tage zurückliegenden Erschütterung entfernte, wurde aus der ersten Verzweiflung, dem erst kaum auszuhaltenden Verlust, ein unausweichlicher, ein erträglicher, schließlich sogar ein normaler, zum Leben dazu gehörender, selbst bei Menschen, die vor der Zeit abberufen wurden, bei Kindern, die meist viele Geschwister hatten, sozusagen auf Vorrat, weil die Eltern wussten, dass nicht alle die Kindheit überstehen würden.

In unserer glaubensfernen Zeit weigern wir uns vor der Zeit, vor dem Zeitpunkt, den wir für richtig halten, geholt zu werden, alles was uns daran erinnern könnte, Krankheiten, körperlicher Verfall, das Sterben schieben wir an den Rand, aus unserem Blickfeld, damit die Hauptverkehrsstraßen unseres Lebens davon frei beleiben, den Eindruck immer währender Jugend und Vitalität vermitteln. Dieses lästige Andere darf einem nur wohldosiert unter die Augen kommt, gut aus dem Alltag rausorganisiert, damit es uns nicht belästigt.

Er spielte mit seiner Angst, mit den Ängsten der anderen um ihn, wusste er doch, dass er geheilt werden wird. Sie haben ihm doch gesagt, versichert, der Krebs würde restlos, für immer beseitigt werden und doch gerade diese „Gewissheit“ machte ihm Angst, als stünde dahinter im Dunklen ein dunkler Schatten, der über so viel „Gewissheit“ still in sich hinein lächelt, nicht zynisch, nicht böse, voller Nachsicht. Er ging bei aller Gewissheit ins Ungewisse, hatte den Eindruck, dass die Zukunft, wie er sie sich vorher so schön und bunt zurecht gemalt hatte, nichts anderes war als eine Filmkulisse, die ein jäher Windstoße mal eben aus der Verankerung riss, hoch in den Himmel hob und in der Luft zerfetzte.

Nun schämte er sich seiner Eitelkeit, sich über den Krebs Zuwendungen ergaunert zu haben, die ihm in dieser Tiefe nicht zugestanden hätten, weil sie von einer Angst um ihn genährt wurde, die doch grundlos sein sollte und bekam es nun selbst mit der Angst zu tun. Was ist, wenn gerade das, das Schicksal herausfordern würde, ihm sein falsches Spiel heim zu zahlen? Wie bei einem Glückspieler, der seinen Jubel über einen unverhofften, sehnsüchtig erwarteten Gewinn im Keim erstickt, um keinen Neid, keine Missgunst, kein Aufsehen zu erregen, stockte auch ihm der Atem.

Windelträger - Roman einer Reise

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