Читать книгу Windelträger - Roman einer Reise - Kristof Lindenau - Страница 6
Fortsetzung: Donnerstag der 21. Juli
ОглавлениеDu warst ein unerträglicher Gutmensch dachte er, bist es womöglich noch. Ihm wurde kalt, er spürte, die Kälte, die von unten herauf durch die, mit schwarzem Plastik bezogene, dünne Schaumstoffschicht der Liege, durch das dünne Papierbetttuch ungehindert in seinen Köper zog. Kein flauschig weiches, die Haut liebkosendes Papier, festes, wie diese Papierbahnen, die über die Tische von Bierzeltgarnituren gezogen und fest getackert wurden. Eine Gänsehaut zog über Beine und Arme.
Salonbolschewisten. Verzweifelt, einsam, ausgehungert nach Liebe nach Zuwendung war er damals, irgendwo gibt es noch ein Gedicht aus dieser Zeit: Muss ich mal raussuchen. Existenzialistisch, Sartre, Camus, Godard, Truffaut, la nouvelle vague, das neue französische Kino: „Außer Atem“. Immer am Rande des Limits, Rächer der Enterbten, mit zornigem Gesicht. Anfang zwanzig schon vom Lebensüberdruss gezeichnet, unter Bierdunst, Zigarettenqualm, Rot Händle, Gauloise, klar, ohne Filter, am Kneipentisch mal eben ein Gedicht hingefetzt, für die dunklen Frauenaugen gegenüber, die ihn keines Blickes würdigen. Gleich ans Feuilleton einer großen, überregionalen Zeitung geschickt, drunter ging´s nicht, kam postwendend zurück, abgelehnt, mit den üblichen Floskeln: Danke für die Zusendung, nur weiter so, gerne können sie uns wieder etwas schicken. Das übliche höflich, verbindliche bla bla von Leuten, denen es lästig ist, sich mit dem Geschreibsel irgendwelcher nobodys zu beschäftigen, die sicherheitshalber die Form wahren, man weiß ja nie, nachher übersehen wir ein verkanntes Genie kurz vor seinem kometenhaftes Aufstieg und dann ist das Genie sauer auf uns, schlecht fürs Geschäft.
Markante Züge, lockige schwarze feste Haare, mit einem metallischen Glanz, dichten Bartwuchs, einen Dreitagebart, ebenmäßigen Teint, bitte keine Pickel, schon gar nicht auf der Nase, keine hektischen Hautrötungen, kein Herpes! Leichte mediterrane Bräune, stahlblaue Augen, durchtrainiert, breite Schultern, so wollte er damals gerne aussehen. Mal eben hier den Laden aufmischen und alle hätten sie Schiss, ihm in die Quere zu kommen. Keine Chance, Kinderlähmung, nur ein gesunder Arm, da half nur eine große Klappe, Größenwahn und schnelle Beine.
Früher verlor er sich gerne in Träumen. Schneidiger französischer Gardekürassier, Offizier natürlich, russischer Husar, goldene Litzen, das Jäckchen kokett über die Schulter geworfen, 1812 in der Schlacht von Borodino, schlag nach bei Tolstoi: Krieg und Frieden, aber natürlich mit Überlebensgarantie und als Held: “Attacke!“ mit geschwungenem, vorwärts zeigendem Säbel und alle hinter ihm drein, im Schweinsgalopp, bedingungslos. Träume, die je unterbrochen, angehalten wurden; mitten im Getümmel meldete sich der Verstand: Von den 600.000 der Grande Armée sind nur 60.000 zurückgekehrt, verdammt hohe Ausfallquote, auch bei den Offizieren, ganz großes Kino, was du gerade veranstaltest. „Vier Federn“, toller Film. Schadlos durch ein Meer von Gefahren, unrasiert, von unzähligen Feinden verfolgt, mit wehenden Haaren, verschwitzt, Blut bespritzt, mit leichten Blessuren, eine gutes Bild abgeben, das wär´s!
Was nervöse Entspannungsbemühungen alles bewirken. Bilder flogen durch seinen Kopf, als hätte er sie aufgewirbelt. Er griff nach ihnen, wie nach Haltegriffen in der U-Bahn, wollte sie sich genauer anschauen, wumms, weg waren sie und er griff, halt suchend, nach den nächsten bunten Erinnerungsfetzen. „Revolutionen sind der Griff des Menschengeschlechts nach der Notbremse- ein Griff, der die Sturzfahrt der Geschichte in die Katastrophe aufhalten soll“ fiel ihm noch ein, Walter Benjamin.
Der Finger des Arztes bewirkte einen heftigen Harndrang, fast hätte er einfach so auf das Papier der Liege gepisst, wie peinlich. Da war der Weißkittel Gott sei Dank fertig, zog den Finger raus, den Gummihandschuh, war gar kein Fingerkondom, zack auf links, runter von der Hand, Fußtritt, klack, Mülleimer auf, weg damit. Er konnte sich wieder anziehen und ging mit einer Überweisung ins Krankenhaus, für eine Biopsie: „Da werden nur Proben entnommen, mit Ultraschall, zusätzlich kommen aus einer Stange dünne Nadeln geschossen und stanzen in einem am Bildschirm festgelegten Raster Proben aus der Prostata. Total harmlos, danach können sie eigentlich gleich wieder nach Hause.“ Na denn!
Er sammelte die Bilder auf, die ihm durch den Sinn geweht waren, versuchte sie zu ordnen. Damals, diese dauernde Dringlichkeit, dieser schier rastlose Tatendrang, diese übersteigerte, fast hysterische Sensibilität, zerstörerisch, sich gleichzeitig zerreißen und verzweifelt nach Halt suchen, im Suff, in der Suche nach körperlicher Nähe, sich austoben im Fleisch.
Dieser Mann lag nackt neben ihm, reagierte genussvoll auf seine Berührungen, wandte sich ihm zu. Er wurde in den Arm genommen, spürte, dass er akzeptiert wurde als Freund, Partner, Geliebter, ohne Bedingungen, regellos. Vielleicht hatte er sich das damals auch nur eingebildet, wollte das nur genau so empfinden und nicht anders sehen. Er hatte Einfluss auf diesen fremden Körper, Macht, wurde nicht weg gestoßen, im Gegenteil dieser Mann war wie Wachs in seinen Händen und das ganze war für ihn ein ganz unschuldig erscheinendes Liebesspiel. Es kostete ihn keine Überwindung das fremde Glied in den Mund zu nehmen. Er spürte die wachsende Begierde. Dieser gestandene Mann, an dessen Schulter er sich eigentlich nur anlehnen wollte, er war ihm ausgeliefert, gab sich in seine Hände. Erst viel später, wurden die immer selteneren Begegnungen fordernder, wuchs der Drang des Mannes in ihn einzudringen, da hatte er versagt.
Es war einfach nicht gegangen, obschon er wollte, es ihn auch erregte und jetzt sagt dir dein Arzt, dass das da hinten auch alles sehr, sehr eng sei. Gut zu wissen! Er wollte es, weil er nicht enttäuschen wollte? Auch das, nur ein Teil der Wahrheit, in ihm war eine ganz weibliche Sehnsucht, ein tiefes Bedürfnis, etwas in sich eindringen zu lassen. Es ging nicht, da halfen keine lokal betäubenden Salben, die schreckten noch mehr ab: Du hast ihn dann befriedigt und er? Er mühte sich regelrecht an dir ab. Du hattest schon einen Ständer, aber es kam dir nicht, ihm schon, dir nie. Am Ende warst du nur noch erleichtert, dass es vorbei, er müde erschöpft neben dir zur Ruhe kam. Er konnte anstellen, was er wollte, da war nix zu machen, eindeutig Hetero.
In Erinnerung behalten, hatte er diese Zärtlichkeit, dieses Kribbeln, fremde Augen, die einem nachschauten, einscannten, Blickkontakt suchten, dieses erhebende Gefühl begehrt zu werden, in das er hinein glitt, wie in eine mit angenehm warmen Duftwasser gefüllte Badewanne. Da war jemand, der ihn erobern wollte und so war es dann doch eine Niederlage und Bestätigung.