Читать книгу Windelträger - Roman einer Reise - Kristof Lindenau - Страница 24

Donnerstag, 25. August 2011

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Es kamen Tage relativer Unbeschwertheit, in denen er Lebensfreude zurück gewann, ihn seine Wege bis in den kleinen Krankenhauspark hinaus führten. Eigentlich wollte er in der kleinen Kapelle eine Kerze anstecken, dafür sollten aber 50 Cent in den daneben stehenden Opferstock gesteckt werden, die hatte er nicht. Die Kapelle wurde von einer Videokamera überwacht, da hat er nur still für sich gebetet. Diese vergleichsweise schönen Tage begannen mit seinem Umzug vom Mittelbett ans Fenster. Es hatte jetzt die Poolposition, die vorteilhafteste Lage, Herr über das Fenster, freier Blick nach draußen, direkt frische Luft und nur einen Schritt zu seinem Leseplatz am Tisch, der einzige Stuhl mit Armlehnen, auf den er seinen roten Rettungsring dekorativ liegen ließ, um seinen Besitzanspruch zu dokumentieren, natürlich bot er diesen Platz auch den anderen an, der Form halber, meist saß er ja selbst da. Dieser Machtfülle vergleichbar war nur der Herrscher über den Fernseher, der hing gegenüber seinem ehemaligen Mittelbett an der Wand, war jetzt eher außerhalb seines Blickwinkels, was er als sehr angenehm empfand, als dieser Apparat später, beim der nächsten Neubelegung, in Betrieb ging.

Der, der am Mittwoch entlassen worden war, sein Bett für ihn räumte, hatte fest versprochen am Freitag noch einmal bei ihm vorbei zu schauen. Es war ihm herzlich egal, aber er hatte natürlich so getan, als würde er sich auf nichts mehr freuen. Sie waren miteinander ins Gespräch gekommen. Über all die Jahre hinweg hatte er sich erzogen allen Menschen, da mussten sie ihm schon sehr dumm kommen, damit es einmal anders war, in einer Art und Weise zu begegnen, dass sie zu ihm schnell Vertrauen fasten, gerne das Gespräch mit ihm suchten. Er hatte sich diese Strategie angeeignet, weil er sich in jungen Jahren oft mit dem Vorwurf, er sei arrogant konfrontiert sah. Hinter dieser Arroganz steckte tatsächlich intellektueller Hochmut und Dünkel, der andere zu Recht vor den Kopf stieß. Es hatte ihm einige Jahre und schmerzhafte Erfahrungen gekostet zu lernen, dass es besser ist, diesen Eindruck gar nicht erst entstehen zu lassen. Er kam dann wesentlich schneller, unbeschädigt ans Ziel und lernte von anderen, unnötige Fehler zu vermeiden. Bald war diese Taktik purer Eigennutz, er war teamfähig geworden und eignete sich zum Mannschaftskapitän.

Seine Bücher waren ihm dabei ein guter Schutz, immer wenn er sich Gesprächen entziehen, als Gesprächspartner nicht zur Verfügung stehen wollte, steckte er seine Nase zwischen die Buchdeckel, ignorierte geflissentlich alle Annäherungsversuche. Wer ist bloß? Robert Musil: „Der Mann ohne Eigenschaften“ Beim Lesen von Titel und Autor von oben herab auf den Nachttisch herunter, verdrehten Pfleger, Schwestern den Kopf. Kein Paperback vom großen Ramschstapel im Eingang der Bahnhofsbuchhandlung. Große Augen, vorsichtige Neugierde, da las jemand richtige, anstrengende, Bücher. Ein Intellektueller! Einer der Pfleger, die waren alle verdammt attraktiv, jung, witzig, schlagfertig, sicher Sieger des Castings der vereinigten Schwesternschaft des Krankenhauses, einer von denen, der vorher schon über den Musil gestolpert war, kam zu ihm rein, selbst einige Bücher unter dem Arm und sagte ihm, unten, im Keller, steht ein Regal mit ausgemusterten Büchern der Krankenhausbibliothek, zum Mitnehmen, begleitetet ihn sogar dorthin und er hat sich eingedeckt. Letzte Eintragungen zeigten, dass diese Bücher zum letzten Mal vor über zwanzig Jahren ausgeliehen worden waren, seitdem nicht mehr. Mit der Lesekultur ging es offensichtlich mit dem Fall der Mauer, der Wiedervereinigung und dem triumphalen Sieg des Kapitalismus über den Betonkommunismus steil bergab. Eingesammelt hat er Gorbatschows Buch „Perestroika“ aus dem Jahre 1987, Henry Miller: „Im Wendekreis des Krebses“, Unterhaltungsliteratur Margret Mitchel: „Vom Winde verweht“, hatte er nie gelesen, was für ein Wälzer. Arno Surminskis: „Jokehnen oder Wie lange fährt man von Ostpreußen nach Deutschland!“, nahm er aus Nostalgie mit. Seine Familie kam aus Ostpreußen und er war dort 1981 durchs Land geradelt als unter General Jaruzelski in Polen das Kriegsrecht herrschte, es nichts zu essen gab, außer auf Lebensmittelkarten. Selbst die DDR hatte damals die Grenze nach Polen dichtgemacht, um nicht vom Bazillus der Solidarnoscbewegung, den Frühlingsboten der späteren Perestroika, infiziert zu werden.

Die vor zwanzig Jahren gängige Krankenhausliteratur stellte die Nachkommenden anscheinend vor schier unüberwindbare Hürden, so viele Seiten, kleine Schrift, keine Bilder. Bild, BamS und Glotze, Privatfernsehen, mehr braucht es nicht, später hatte er noch reichliche, zumindest, akustische Begegnungen mit der anderen Art, Menschen im Fernsehen, die er nicht einmal mit der Kneifzange anfassen würde und die mit einem sehr übersichtlichen Wortschatz auskommen. Vorsicht! Dummheit kann dir ganz schnell eins auf die Schnauze geben, dann hat es sich ein für alle Mal ausgedacht.

Windelträger - Roman einer Reise

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