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2.2.2 Die eschatologische Deutung
ОглавлениеJülicher sieht den theologischen Bezugsrahmen (‚Sache‘) des Gleichnisses in einer sittlich-religiösen, zeitlos gültigen Satzwahrheit. Die darauffolgende Generation erkennt ihn in der Verkündigung der anbrechenden Herrschaft Gottes. Schon Jülichers Altersgenosse Johannes Weiß (1863-1914) wies auf den eschatologischen Charakter der Gleichnisbotschaft Jesu hin.1 Unter dem Eindruck des verlorenen Ersten Weltkriegs, der sämtliche Illusionen über die innergeschichtliche Realisierbarkeit sozialer Zustände im Sinne des Gottesreiches zunichte machte, stellten Charles Harold Dodd (1884-1973) und Joachim Jeremias (1900-1979) die eschatologische Ausrichtung der Gleichnisbotschaft in den Vordergrund.2
Mit der eschatologischen Deutung rückt der Begriff der Krise (gr. krísis – Unterscheidung, Entscheidung, Gericht) ins Zentrum der Gleichnisauslegung. Das nahe Kommen Gottes stelle die Hörerinnen und Hörer der Gleichnisse in die existenzielle Entscheidung für oder gegen Gottes basileía.
Alle Gleichnisse Jesu zwingen den Hörer, zu Seiner Person und Seiner Sendung Stellung zu nehmen.3
Jeremias sieht den Kern der Gleichnisbotschaft in der Proklamation des anbrechenden Heils, in Gottes Vergebungsbereitschaft, im Ruf zur sofortigen Buße (gr. metánoia), in der Aussicht auf die nahe Erlösung und in der Warnung vor dem kommenden Gericht. Diese Inhalte provozierten konkrete Verhaltensänderung.
Jülichers rhetorische Zweckbestimmung der Gleichnisse, ihre Entgegensetzung zur Allegorie und die Missverständnistheorie bleiben indes unangetastet.4 Jeremias sieht sich besonders in einem Punkt als Vollender der Jülicherschen Gleichnistheorie: in der konsequenten Rekonstruktion des mündlichen Gleichnis-Idealtyps. Dessen Merkmale übernimmt Jeremias von Jülicher (Einfachheit, Anschaulichkeit, Realistik des Erzählten). Zusätzlich entwickelt Jeremias insgesamt zehn Umformungsgesetze, die bei der Verschriftlichung (und zugleich Übersetzung aus dem Aramäischen ins Griechische) leitend gewesen seien.5 Die Rückgewinnung der ipsissima vox Jesu ist Jeremias’ Erkenntnis leitendes Hauptinteresse. Der O-Ton Jesu samt seinem situativen Entstehungskontext (Auseinandersetzung Jesu mit seinen Gegnern) ist für ihn der Verstehenscode der Gleichnisse.